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Natur brüllt! LXXVII

Tagesmail vom 03.05.2024

Natur brüllt! LXXVII,

Verwahrloster „Muße-Planet“ entdeckt, reif zur Übernahme: funkten die Aliens, als sie die Erde ausfindig gemacht hatten. Danach dauerte es nicht lange und die „Schädelstätte des absoluten Geistes“ (Hegel) hatte ausgedient.

Nichts – oder genauer: fast nichts geschieht seitdem, um unseren Stern vor seinen Genies zu retten.

Was diese Geistesriesen von ihren eigenen Produkten halten, erkennt man an ihren Kindern, die sie in Waldorfschulen schicken, wo sie von ihren pädagogischen Wundermaschinen fern gehalten werden.

Muße war längst ein verbotener Begriff geworden. Dabei war er einst – vor knapp zweieinhalb tausend Jahren – der Höhepunkt der demokratischen Staatsbildung gewesen.

Scharfsinnig hatten die Aliens erkannt, dass dieser Begriff schon lange keine Bedeutung haben konnte – sonst wäre nicht alles so verwahrlost und heruntergekommen.

Klima war unberechenbar geworden, Natur stand kurz vor dem Kollaps, Menschen erlebten kollektiv ihren psychischen Zerfall.

Aristoteles hieß der Athener, der jenen Staat beschrieben hatte, der noch heute das Leben der Menschheit auf der Erde garantieren könnte, wenn er denn den Maschinenausbeutern nicht zum Opfer gefallen wäre.

Davon kann heute keine Rede mehr sein. Alles Uralte gilt nichts mehr in der modernen Welt. Es herrscht das Gesetz: der Fortschritt zermalmt alles Bisherige und wenn es noch so menschenfreundlich gewesen wäre.

Fortschritt ist der moderne Inbegriff für alles Ungute, Unwahre und Unschöne, das in Lichtgeschwindigkeit die Erde umrundet und alles niedermäht, was die Menschen glücklich machen könnte.

Schon längst sind die ersten Passagierlisten für den Abflug auf den Mars überfüllt.

Muße wird verpönt, Arbeit heilig gehalten.

„Arbeit bedeute »mehr als Geldverdienen«, sagte Scholz. »Arbeit heißt auch: Dazugehören, Kolleginnen und Kollegen haben, Anerkennung und Wertschätzung erfahren“, sagte inbrünstig unser überaus fleißiger Kanzler. (SPIEGEL.de)

Arbeit ist das Zaubermittel sozialer Verbundenheit? Dann müsste die ganze Familie zum Arbeitseinsatz.

Nur in heidnischen Kulturen hört man, dass übermäßige Arbeit schände. Die Heiden vertrauen der Üppigkeit der Natur, die man nur minimal bearbeiten müsse, um sich gut und ausreichend zu ernähren.

Christen vertrauen ihrem Gott – besser: sollten ihm vertrauen –, der geschändeten Natur misstrauen sie. Also beginnen sie zu schuften, dass ihnen der Schweiß von der Stirn läuft.

Die großen Ökonomen Europas verwarfen Aristoteles: dessen angebliche Verachtung der Arbeit und Rühmung der Muße.

„Wären die Athener dem Rat des Aristoteles gefolgt – der weder für die Tatsachen der Wirtschaft noch die der Evolution Augen hatte –, so wäre ihre Stadt rasch zu einem Dorf geschrumpft, denn seine Auffassung von menschlicher Ordnung ließ ihn eine Ethik entwickeln, die in bestem Falle für einen stationären Staat gepasst hätte.“ (Hayek, Die verhängnisvolle Anmaßung: die Irrtümer des Sozialismus)

Erst David Hume erkannte, dass der Markt es möglich macht, „einem anderen einen Dienst zu erweisen, ohne ihm wirklich etwas Gutes zu tun und zwar aufgrund einer Ordnung, in der es im Interesse selbst schlechter Menschen war, zu öffentlichem Wohl zu handeln.“ (ebenda)

Dem Ganzen zu nützen, ohne es zu wollen: das ist segensreicher Kapitalismus. Nicht der menschenfreundliche Mensch tut Gutes dem Menschen, sondern nur das, was er bewusstseinslos tut.

Er weiß nicht, was er tut, er kann es gar nicht wissen. Es wissen zu wollen, wäre eine „verhängnisvolle Anmaßung“. Denn die Machenschaften der irdischen Wirtschaft sind keine Erfindung des Menschen, sondern allein einer göttlichen Offenbarung.

Für Marx waren es die materiellen Verhältnisse, für den katholischen Österreicher war es der Gott des Himmels und der Erde:

„Reich und arm begegnen einander, sie sind alle das Werk des Herrn. Der Reiche hat die Armen in seiner Gewalt und der Schuldner ist des Gläubigers Knecht … Wiederum sah ich, wie es unter der Sonne zugeht: Zum Laufen hilft nicht schnell sein, zum Kampf hilft nicht stark sein, zur Nahrung hilft nicht geschickt sein, zum Reichtum hilft nicht klug sein; dass einer angenehm sei, dazu hilft nicht, dass er etwas gut kann, sondern alles liegt an Zeit und Glück.“

Hier spricht der hellenische Geist, der die uralten Hebräer infiziert hatte – und von Aristoteles nichts mehr wissen wollte. Spätestens mit der Seefahrt, mit der sie peu a peu die Welt eroberten, hatten die Hellenen die Ursteine des Kapitalismus entdeckt.

Von solchen Behauptungen wollte Marx nichts wissen, obwohl er als Kenner des Griechentums galt und über zwei alte Philosophen seine Doktorarbeit geschrieben hatte. In seinem Kommunistischen Manifest schrieb er:

„Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.“

Das war Unfug angesichts der vielen Urvölker, die keine Tauschwirtschaft kannten, höchstens ein Potlatch-Ritual wiederholten – einen Besuch ihrer Nachbarn, um sie mit vielen Geschenken zu überhäufen und zu beschämen.

Der Kapitalismus beginnt mit einer arbeitsgeteilten Wirtschaft und einer beginnenden Neugierde auf fremde Völker, mit denen man seine überschüssigen Produkte tauschen konnte. Das begann mit Homers Odysseus, der die ganze mittelmeerische Welt neugierig und listenreich bereist hatte.

Marxens Revolution sollte die dritte Revolution sein, auf die das heilsgeschichtliche Europa mit Sehnsucht wartete.

„Zwei Revolutionen hat Europa schon erlebt, weil es dem modernen Geist nicht friedlich folgte, die deutsche und die französische. Eine dritte steht ihm noch bevor. Diese wird das Werk des modernen Geistes, welches mit der deutschen Reformation begonnen hatte, zum Abschluss bringen. Die „dritte Revolution“: sie entspricht dem „Dritten Reich“ des Heiligen Geistes, dem Dritten Weltalter Schellings, der Synthese und Versöhnung bei Hegel. (bei F. Heer, Europa, Mutter der Revolutionen)

Der Run auf das Dritte Reich begann in Europa nach dem Ende der Aufklärung. Mit der Romantik verstärken sich die Sehnsüchte nach dem endgültigen Reich Gottes auf Erden.

Hitler, Führer der Deutschen im Dritten Reich, war eine uralt erwartete Führungsfigur im Plan der abendländischen Heilsgeschichte.

Genau an dieser Stelle, an der das Finale der apokalyptischen Erwartung beginnt, entsteht das europäische Massenphänomen des bösartigen Antisemitismus. Gewiss, schon vorher waren Juden gelegentlich verfolgt und vertrieben worden. Doch erst jetzt wird der Antisemitismus zum gesamteuropäischen Ereignis.

Wer ist wirklich das auserwählte europäische Volk, das als erstes triumphal in der Goldenen Stadt Jerusalem einziehen wird? Bestimmt nicht die Juden:

„Der Christ steht hoch über dem Juden! Der Jude ist ein Fremdling, ein schlaffes, kraftloses, bösartiges Wesen außerhalb der guten Weltgeschichte stehend. Der Jude ist ein Ausdruck des Bösen in der Welt. Der Hass des Theologen gegen den bösen Gott Jehova verdichtet sich hier im Hass gegen das Judentum. Das als Erzfeind aller guten Zukunft der Menschheit angesprochen wird. (Theologe Bruno Bauer in Heer)

Ist die jetzige weltpolitische Isolierung Israels keine gesamteuropäische Erfüllung jener prophetischen Erwartungen im 19. Jahrhundert? Sind am Elend der Welt wieder allein die Juden schuldig – oder ist das eine uralte bösartig-antisemitische Schuldzuweisung?

Schon kurz nach Bruno Bauer kommen Wilhelm Marr, der Hofprediger Stöcker und seine „Christlich-Soziale-Partei“ und beginnen in großem Maß die Deutschen gegen die Juden aufzuhetzen.

Welcher Deutsche von heute weiß von dieser Entwicklung, um zu verstehen, was heute – in den Augen der Ultras und ihrer entschiedenen Gegner – geschieht?

Zurück zu Aristoteles und seiner Auszeichnung der Muße, denn alles hängt mit allem zusammen.

Warum ist Muße für Platons Schüler wichtiger als körperliche Arbeit – die aber keineswegs verachtet werden darf?

Weil Muße frei und selbstbestimmt ist, Arbeit hingegen nur menschlichen Bedürfnissen gehorchen muss?.

Die ersten Wurzeln des Kapitalismus gab es bereits im klassischen Athen. Wie sonst hätte es zu dieser fruchtbaren Arbeitsteilung kommen können, die mit kostbaren Kunstwerken und geistigen Erzeugnissen die damalige Mittelmeerwelt in Erstaunen versetzen konnte?

Natürlich gab es hier erste Klassenkämpfe zwischen Habenden und weniger Habenden. Aber der Geist des Zusammenhalts war noch so groß, dass vernünftige Männer wie Solon oder Perikles die Einheit der Urdemokratie garantieren konnten.

Gleichwohl kamen Urfragen auf. War mühsame Arbeit das Los der niederen Schichten, Muße hingegen das Privileg der oberen Schichten?

Nicht für Aristoteles. „Dieser Staat soll so viel erzeugen, dass die Bürger „in Muße“ ohne Luxus, aber auch ohne unfreie Einschränkung leben können. Diese Muße ist für Aristoteles kein rentnerisches Nichtstun, sondern die Zeit, die dem freien Mann gestattet, im Rahmen der Gemeinschaft ganz seiner höheren Bestimmung zu leben. Höchste Frucht der Muße ist die wissenschaftliche Betätigung. Aus dem griechischen Wort für Muße, schole, ist ja unsere Schule geworden und in den aristotelischen Schulen wurden wissenschaftliche Arbeit und geistige Anstrengung in vorbildlicher Weise gefordert und getrieben.“ (Max Pohlenz, Der hellenische Mensch)

Wer mit Neugierde und Anteilnahme lernend arbeitet, für den ist geistige Arbeit keine Belastung, im Gegenteil.

Die alten Athener wussten das noch, die modernen Preußen wussten es nicht mehr. Die freiwillige Erkenntnisarbeit verwandelte der aufkommende Kapitalismus in Deutschland in kollektive Dressurarbeit unter ständiger Bewertungsangst. Das gilt bis heute.

Die Schule, jene wunderbare Erfindung der athenischen Denker, wurde zur Stechuhr-Kaserne einer menschenhungrigen Industrie.

Und das unter der verhängnisvollen Formel: wir brauchen Bildungsgleichheit. Es entsteht das Gegenteil einer allmählichen Gleichheit – und genau das ist das Ziel der Superreichen, die mit unermesslichen Reichtümern sich immer mehr vom Pöbel absondern.

Wie verkommen muss die SPD sein, wenn sie an Gleichheit glaubt, obgleich sie durch Verachtung der Armen und Benachteiligten das genaue Gegenteil herstellt?

Es ist bejammernswert, aber man muss es klar sagen: wenn Deutsche die Erfolgsleiter hinaufklettern, verdrängen sie ihre niedere Herkunft und passen sich in gestelzter Eitelkeit den Gepflogenheiten der oberen Schichten an.

Jedes ethische Grundgefühl mit Opfern und Schwachen geht damit verloren, wie man an Schröders verlogener Freundschaft mit Putin sieht.

Ach so, Ethik. Die tapfere Arbeiterbewegung verlor ihre aufrechte Friedensmoral, als sie im Ersten Weltkrieg gegen die Franzosen kämpfen musste. Wieder einmal verdarb Erfolg die Moral.

Schon ab der Romantik hatte die Verachtung der kategorischen Ethik begonnen. Wer an strengen Moralregeln festhielt, wurde verlacht und verachtet – wie heute noch immer bei vielen Schreiberlingen.

„So lachen wir heute über die Philisterhaftigkeit jener Zeit, über allerlei Zopfiges und Steifes, Enges und Kleinliches, über Nüchternheit und Rührseligkeit, über optimistische Selbstgerechtigkeit und aufdringliches Moralisieren.“ (Ziegler, Die geistigen und sozialen Grundströmungen Deutschlands im 19. Und 20. Jahrhundert)

Was Trump heute perfekt inszeniert, begann als Frucht romantischer Philosophen, deren „Paradoxie“ darin bestand, sich über alle herkömmlichen Regeln hinwegzusetzen.

Fichtes „Ich“ wird verabsolutiert, seiner Genialität das Recht zugesprochen, sich über alles souverän zu erheben und mit allem nach Willkür zu spielen. Das Fichte’sche Ich wird zum romantischen Ich, dessen Eigentümlichkeit darin besteht, dass jeder „nach Belieben philosophisch oder philologisch, kritisch oder poetisch, historisch oder rhetorisch, antik oder modern sich müsste stimmen können.“

Fehlt noch Friedrich Schlegel, dessen Lob der Frechheit jede Erinnerung an bürgerliche Verhältnisse als Zwang weit von sich wies, sich seiner beneidenswerten Freiheit von Vorurteilen rühmte und sich nichts einreden ließ von Gewöhnlichem und Schicklichem. Auch Faulheit verherrlicht er als einziges Fragment der Gottähnlichkeit und spottet über Prometheus, der die Menschen zur Arbeit verführt habe.“ (ebenda)

Muße ist Freiheit des Menschen, sich ungezwungen mit der Natur in Verbindung zu setzen, sich von ihr zu ernähren zu lassen und sich dennoch symbiotisch mit ihr zu vernetzen.

Wer keinen sterbenden Planeten haben will, muss lernen, auf diesem mit ungezwungener Muße frisch und fröhlich zu leben.

Ein Planet in Muße muss das Ziel aller menschheitsverbindenden Politik sein.

Fortsetzung folgt.