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Natur brüllt! LXXVI

Tagesmail vom 29.04.2024

Natur brüllt! LXXVI,

Endlich weiß die Welt, wohin sie will, ihr Endziel hat sie gefunden:

sie will nach – Guantanamo:

„Die Suche nach Gerechtigkeit ist zur bürokratischen Farce erstarrt – während der Rest der Welt vergessen hat, was hier geschieht. Dabei ist Guantanamo das letzte Relikt des »Kriegs gegen den Terror« – ein Mahnmal für Amerikas maßlosen Krieg gegen Terror. Es steht aber auch für den selbstlosen Einsatz der vielen Menschen, die seit Jahren vor Ort versuchen, dessen Folgen juristisch zu verwalten.“ (SPIEGEL.de)

Guantanamo ist die Wirklichkeit gewordene, gespaltene Endphantasie der Erweckten. Einerseits die Hölle:

„Und der Teufel, der sie verführte, wurde geworfen in den Pfuhl von Feuer und Schwefel, wo auch das Tier und der falsche Prophet waren; und sie werden gequält werden Tag und Nacht, von Ewigkeit zu Ewigkeit.“

Andererseits der Himmel:

„Das Reich der Himmel ist gleich einem im Acker verborgenen Schatz, den ein Mensch fand und wieder verbarg. Und in seiner Freude geht er hin und verkauft alles, was er hat und kauft jenen Acker.“

Das ist der Himmel in Realität:

„Für die oft blutjungen Soldaten, die hierher entsandt sind, ist es wohl einer der besten Standorte, den sie sich vorstellen können. »Tagsüber Dienst, nachmittags Urlaub, abends Party«, sagt einer.“

Das ist das Gegenteil:

„Ní Aoláin verurteilte die Haftbedingungen als »unmenschlich« und attestierte der Unterbringung »erhebliche strukturelle Defizite« – mangelhafte Krankenversorgung, fehlende Behandlung von Folterschäden, keine Familienbesuche, »unermessliches Leid und Trauma« für die Gefangenen.“

Nun ist Schluss mit Fortschritt ins Unendliche und keiner weiß, was die Zukunft bringen wird.

FDP-Lindner nennt nie den Namen Hayek – Klarheit ist in Deutschland unvornehm geworden –, aber er propagiert kompromisslos dessen Allergie gegen Moral.

Da steht er vor seinen Gefolgsleuten und warnt – mit erhobenem Zeigefinger im Geist – vor den Gegnern mit ihren verpesteten Moralanklagen mit erhobenem Zeigefinger.

Lindner kennt keine Moral in der Politik. Schon gar nicht in der Ökonomie. Hier herrschen naturwissenschaftliche Kausalitäten, die die meisten Menschen nicht durchschauen.

„Viele der größten Errungenschaften des Menschen sind nicht das Ergebnis bewusst gerichteten Denkens und noch weniger das Produkt bewusst koordinierter Bemühungen vieler Individuen, sondern das Ergebnis eines Prozesses, in dem der einzelne eine Rolle spielt, die er nie ganz verstehen kann. Sie sind größer als irgendein Individuum, gerade deswegen, weil sie aus einer umfassenderen Kombination von Wissen erwachsen, als irgendein einzelner Verstand meistern kann.“ (Hayek bei Hennecke)

Jetzt wird die Absage an jede Politmoral verständlich. Die fühlt sich fähig, ihre Zielvorstellungen selbst zu entfalten. Alles, was sie tut und tun will, muss sich vor ihrem Verstand ausweisen. Hayek verflucht diese heillose Selbstüberschätzung des modernen Menschen.

In der Mont Pèlerin Society formulierte er das Ziel seiner Wirtschaftspolitik: Deutschland müsse radikal umerzogen werden, im Mittelpunkt stand für ihn „der Kampf gegen die Ideologen des Wohlfahrtsstaats, etwa gegen die „American would-be-dictators“ des „New Deals“.“ (Ebenda)

Wirtschaft ist das Feld unerbittlicher Gesetze, die von keinem Menschen verändert werden können.

„Hayek erwähnt lobend spanische Gelehrte aus dem 16.Jahrhundert, in denen er so etwas wie Frühökonomen sieht: Gott kennt die Marktordnung, denn es ist seine geschaffene Ordnung. Der Mensch kennt sie nicht, so ist die Richtung der Beeinflussung vorgezeichnet. Gott richtet, der Mensch nicht. Gott ruft den Menschen zur Verantwortung, aber der Mensch nicht Gott. Der Markt verlangt vom Menschen die Unterordnung, unter Androhung katastrophaler Strafen, sollte der Mensch diesem Ruf nicht folgen. Hayeks Markt wird so in einem Vokabular beschrieben, das auf das Gott-Vokabular der calvinistischen Liberalen verweist.“ (Michael Dellwing, Globalisierung und religiöse Rhetorik)

Noch immer ist Wirtschaft ein realer Calvinismus. Wirtschaftsgesetze sind keine Erfindungen des Menschen, sondern überirdischer Mächte.

Justament Amerika, das neue und überschäumende Kapitalismusland der Welt, soll calvinistisch sein? War Calvin nicht der Propagator einer vollständigen Vorherbestimmung des Menschen? Und nun zerreißen sich die Neuankömmlinge tagtäglich, um durch Erfolg ihren Gott zu verehren?

Eben deshalb! Weil niemand weiß, wer wozu prädestiniert ist, müssen die Frommen umso eifriger sein, Gottes Bestimmung durch weltlichen Erfolg plausibel zu machen.

„Die ungleiche Verteilung der Güter dieser Welt sei das ganz spezielle Werk von Gottes Vorstellung, der mit diesen Unterschieden – ebenso wie mit seiner nur partikularen Gnade – seine geheimen, uns unbekannten Ziele verfolge … Nur, wenn das Volk, d.h. die Masse der Arbeiter und Handwerker, arm erhalten werde und Gott gehorsam bleibe. … Dass die Masse nur arbeite, wenn die Not sie dazu treibe, und diese Formulierung eines Leitmotivs in kapitalistische Wirtschaft und dann weiterhin in den Strom der Theorie von der Produktivität niederer Löhne mündete.“ (Max Weber, Die Protestantische Ethik)

Machen wir uns nichts vor: der Kapitalismus will eine radikale Naturwissenschaft sein und ist doch nichts anderes als eine multiple Theologie. Bei Luther konnte der Mensch noch frei sein zur Sünde und dennoch selig werden, wenn er bereute.

Bei Calvin kann er nichts mehr; gleichgültig, was er tut oder lässt: sein ganzes Leben wird von einem höheren unbekannten Willen despotisch geführt. In Umgangssprache heißt es: wer nicht arbeiten will, der soll auch nicht essen. Ein Zitat, das man auch in jeder marxistisch angehauchten Lektüre findet.

Hier sind die Wurzeln des pathetischen Arbeitsethos der Herren Heil, Schröder, aber auch der Herren Lindner und Co. Hier liegt der Grund des ewigen Kompromisses zwischen – angeblich unversöhnlichen – Hayekianern, Marxisten und sonstigen Sozialschwärmern. Die Grünen haben sich mit solchem Tandaradei nie beschäftigt.

Das ist der Grund, weshalb es nie scharfe Auseinandersetzungen zwischen den Mitgliedern der Ampel geben kann.

Dabei dürfte es zwischen Postcalvinisten und linken Kantianern nicht die geringsten Gemeinsamkeiten geben. Doch wo bleibt Marx?

Marx ist – bitte nicht heulen, ihr Post-68er – auch nichts anderes als ein Calvinist – auf den materiellen Kopf gestellt. Auch hier regiert kein Mensch sein Tun, sondern wird vollständig von höheren Mächten herumdirigiert.

Gott sei es geklagt: fast die gesamte Moderne ist ein mit verschiedenen Attrappen kostümiertes Mittelalter. Sie kommen einfach nicht los von dem erhebenden Gefühl, ständig im Visier einer höheren Gewalt zu stehen.

Was ist das Ziel dieser von Oben geschobenen Wirtschaftsordnung? Max Weber antwortet:

„Fachmenschen ohne Geist, Genussmenschen ohne Herz: dies Nichts bildet sich ein, eine nie vorher erreichte Stufe des Menschentums erstiegen zu haben.“

Arbeit, Schuldstrafe für das getane Böse, ist noch immer das Heilmittel der Linken, der SPD und der CDU – natürlich auch der Grünen, die zumeist aus der wohl gepolsterten Ecke der Bourgeoisie kommen.

J. M. Keynes war noch der naiven Meinung, der Fortschritt des Kapitalismus werde das notwendige Maß der Arbeit ständig verkürzen. Damit zeigte er nur, dass er die Pfiffigkeit des Fortschritts nicht durchschaut hat. Je intelligenter die Maschinen werden, umso mehr müssen die Tölpel von unten im Schweiße ihres Angesichtes zupacken. Schließlich geht es um unerbittlichen Wettbewerb der Nationen, und damit um die Wohlstandszugewinne, wie unserer Oberökonom Olaf Scholz trefflich beschreibt.

„Nicht Muße und Genuss. Sondern nur Handeln dient nach dem unzweideutig geoffenbarten Willen Gottes zur Mehrung seines Ruhms. Zeitvergeudung ist also die erste und prinzipiell schwerste aller Sünden.“ (bei Weber)

Was bedeutet das für den reichen Westen? Nicht, dass er zu müßig wurde, sondern dass er alles, was er in seiner Freizeit tut, in Hetze und Getriebensein absolvieren muss.

Auch freie Zeit steht unter dem Gebot des Herrn: alles hat seine Zeit. Wer selbst seine Zeit bestimmen will, ist ein Gottverfluchter.

Gottes prädestinierte Trennung der Menschen in Fleißige, die reich werden – und Arme, die im Elend verkümmern, ist noch immer das Gesetz der amerikanischen Calvinisten.

In seinem neuen und aufwühlenden Buch „Armut, eine amerikanische Katastrophe“ schreibt Matthew Desmond – selbst von unten aufgestiegen:

„Das sind die Vereinigten Staaten: das reichste Land der Erde, aber mit mehr Armut als jede andere Demokratie. Mehr als 38 Millionen Menschen können ihre Grundbedürfnisse nicht decken. Armut ist das Gefühl, dass der Staat ihr Feind ist, nicht ihr Freund., dass ihr Land nur für andere da ist und dass es ihr Schicksal ist, drangsaliert, verfolgt und eingesperrt zu werden. Armutsbekämpfung ist so eine schwierige Aufgabe. Statt Geld über die Mauer zu werfen, müssen wir diese Mauer einwerfen. Wir lassen es zu, dass Millionen Menschen von der Hand in den Mund leben, dann führen wir ihre Notlage als Rechtfertigung für unsere Untätigkeit bei anderen Gesellschafts- und Umweltproblemen an. Franklin Roosevelt hatte recht: „Die Freiheit des Einzelnen ist unmöglich ohne wirtschaftliche Sicherheit und Autonomie. Bedürftige Menschen sind keine freien Menschen.“

Solche aufwühlenden Worte hörst du bei uns vergeblich. Ist dieser Moralismus nicht ekelerregend? Herr Lindner fühlt sich bestätigt: wer für das Wohl des Einzelnen eintritt, muss das Wohl des Staates verkümmern lassen.

Doch Moment, ist das überhaupt möglich? Ist Staat denn nichts anderes als die Summe aller Einzelnen? In einer echten Demokratie gibt es keinen Staat, darf es keinen geben, sondern nur eine Gesellschaft, die sich selbst strukturiert. Jede preußische Staatsvergötzung als lutherische Obrigkeit hat mit Demokratie so viel zu tun wie Deutschland mit einer lebendigen Agora.

Wer je ein Buch über die deutsche Entwicklung im 19. Jahrhundert las, wird erstaunt gewesen sein: fast nichts im psychischen Unterbereich hat sich verändert:

Deutschland will immer oben sein. Ist es aber oben, lässt es alle Flügel fallen und versinkt in Trägheit und Apathie.

Schon sind vorwitzige Psychoexperten zur Stelle, die den Armen und Kranken nach Belieben Diagnose ausstellen. Typisch ADHS, typischer Narzisst, typische „nichtsuizidale Selbstverletzung“ etc.

Mit der kranken Gesellschaft haben diese Pathologien nichts zu tun. Das ist alles auf einem kranken und isolierten Selbst erwachsen. Hat der Patient seine gesunde Ich-Stärke wieder gefunden, besteht nicht die geringste Pflicht oder Möglichkeit, in die Gesellschaft zurückzukehren, um dort nach dem Rechten zu sehen. Das ist die große Lücke aller Psychotherapie: ihre psychische Ich-Stärke hat nicht das Ziel, zur demokratischen Kompetenz zu werden. Seelische Gesundheit hat allein dem Funktionieren der kapitalistischen Maschine zu dienen.

Was haben die Wehwehchen der Übersensiblen mit der Gosse der Verlorenen zu tun?

In Bismarcks Zeiten sah ein Literat die Deutschen etwa so:

„Die Deutschen erschienen ihm als das literarisch ungebildetste und verständnisloseste Volk Europas. Bismarck selbst hatte kein Verständnis für die Literatur und das ist typisch für die Stellung der Gebildeten überhaupt. Die Wissenschaft der Gegenwart ist die Nationalökonomie.“ (Lütgert)

Gibt es da keine frappanten Ähnlichkeiten zu unseren Ampelgrößen, die unser Schiff bedenkenlos in den Abgrund manövrieren. Warum? Weil sie sinnvolle Kompromisse nicht von krampfhaftem Durchwursteln unterscheiden können.

Von Grundlagen der Logik verstehen sie ebenso wenig wie von den unheilvollen Widersprüchen ihrer Geschichte: Vernunft ist kein Glauben. Sätze wie der folgende sind für sie ein illustres Geheimnis:

„Das Christentum ist die Entartung der Antike, der Sklavenaufstand gegen die antike Moral. Religion ist eine Erkrankung der Menschheit.“

Der Verfall des Geistes betrifft die gesamte Realität: „Der Charakter der Fabrikarbeit überträgt sich auch auf die Schule. Statt dass der Mensch gebildet wird, wird er zum Handwerker und zum Werkzeug gemacht. In Wirklichkeit erzieht die Schule aber nicht Gelehrte und auch nicht Gebildete, sondern das Gegenteil von beiden – Journalisten.“

Journalisten fühlen sich selig heute, wenn sie im Strom des IST mitschwimmen dürfen. Ihr Schreiben, was ist, war auch die Folge des Positivismus, den sie übernahmen, um ihre Meinung verhehlen zu können. Erst hie und da gibt es einzelne Schreiber, die aus ihrer Meinung keine Mördergrube mehr machen. Ein meinungsloser Ist-Journalismus wird keine Zukunft haben.

Fortsetzung folgt.