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Natur brüllt! LXXV

Tagesmail vom 26.04.2024

Natur brüllt! LXXV,

Propalästinensisch ist nicht antiisraelisch.

Antiisraelisch ist nicht antisemitisch. Nicht alle Israelis sind zionistische Juden.

Hass gegen Juden muss nicht Hass gegen Israelis sein.

Gefühle müssen keine politischen Stellungnahmen enthalten.

Wer seinen Nachbarn hasst, muss ihn nicht töten wollen.

Wer Israel blindlings unterstützt, kann das Land weder lieben noch Freundschaft mit ihm pflegen.

Warum tötet ein Mann seine langjährige Partnerin, die er einst innig geliebt hat?

Warum laufen Menschen Amok und töten unbekannte Menschen? Weil sie diese gehasst haben?

Propalästinensische Demonstrationen sind keine Vorboten eines wiedergekehrten Antisemitismus.

Wenn sie aber von Politik und Medien permanent so dargestellt – oder entstellt – werden, könnte es sein, dass der Hass gegen die Falschdarstellung sich in Hass gegen Juden umwandelt..

Der angeblich weltweite Aufstand gegen die Juden könnte vor allem ein Protest gegen die inhumane Politik der Jerusalemer Regierung sein. Er kämpft gegen die westliche Bevorzugung Israels, das nicht an den denselben Maßstäben gemessen wird – wie andere Ungerechtigkeiten in der Welt.

Die protestierende Jugend der Welt ist allergisch geworden gegen die Heuchelei des Westens, der von universaler Moral predigt, aber die Auserwähltheit des biblischen Volkes als Ausnahme duldet.

Wer für das Gute eintritt, muss noch lange nicht mit Waffen gegen das Böse eintreten – denn es kennt kein Böses, das nur durch Ausrotten besiegt werden könnte.

Wer das Gute in der Welt verbreiten will, muss keineswegs das angeblich Böse einstampfen. Er könnte es auch nicht, denn das Böse wächst automatisch nach, wo Menschen nicht als Menschen behandelt werden.

Das Böse und das Gute sind keine Gaben von Oben, sondern Ergebnisse der Behandlung der Menschen – und ihrer eigenen geistigen Selbsterziehung. Werden Menschen gut behandelt, werden sie selber gut; werden sie unmenschlich behandelt, werden sie selber unmenschlich.

Der folgende SPIEGEL-Artikel fragt nach den Ursachen des momentanen Rechtsrucks. Ist dies der Erfolg rechter Parteien? (siehe weiter unten)

Nein; zuerst muss eine Gesellschaft sich so verschlimmern, dass immer mehr Menschen sich böse vorkommen, wenn sie selbst zu Opfern der gesellschaftlichen, vor allem wirtschaftlichen, Verschlimmerung gehören.

Wer sich als unschuldiges Opfer fühlt, fühlt sich vom Schicksal ungerecht behandelt und wendet sich immer aggressiver gegen den ganzen Staat. Parteien, die sich jetzt bilden, sind nicht die Urheber des „Bösen“, sondern die Profiteure der immer desolater werdenden Gesellschaft.

Medien und leitende Politiker machen den Fehler, sich vor allem mit diesen nachträglichen Profitjägern auseinanderzusetzen – nicht mit den wahren Ursachen.

Die Verkommenheit Deutschlands ist nicht das bewusste und gewollte Ergebnis bestimmter Elemente, sondern die unbewusste, nicht gewollte Ernte jener Mächte, die endlos lange die äußere Gestaltung der Gesellschaft bestimmten.

Entweder war das Gute, das sie wollten, an sich nicht gut – oder es bildeten sich Nebenwirkungen, mit denen niemand gerechnet hatte.

Plötzlich steht man vor Phänomenen, mit denen niemand gerechnet und die niemand bewusst gewollt hatte.

Wenn jemand seine Kinder beauftragt, die Küche zu säubern – und er kommt nach Hause und sieht seine Küche in eine Müllhalde verwandelt, der dürfte nicht folgern: das haben mir meine bösen Kinder mit Absicht angetan. Dafür werden sie büßen müssen.

Dann wäre er kein Kinderfreund und hätte von der Psychologie der Kinderstube keine Ahnung.

Die Kinder könnten das Allerbeste gewollt haben, nur leider: ihre Vorstellungen von einer vorbildlichen Küche waren anders als die ihrer Eltern. Hier hülfe nur ein langes Gespräch, verbunden mit vielen Erfahrungen, die den Kindern vermitteln könnten, was jene wollen.

Für den Psychologen ist der Hauptgrund des gesellschaftlichen Niedergangs die Scham der armen Gesellschaftsschichten:

„Armut ist eine der großen Bedrohungen unserer Zeit. Scham ist direkt verknüpft mit Armut und einem extrem negativen Gefühl von Wertlosigkeit, Machtlosigkeit, von sozialer Ausgegrenztheit. Scham betrifft mich als gesamten Menschen. Wer arm ist, kann nicht an der Gesellschaft teilhaben, nicht zu kulturellen Events gehen, sich die Klassenfahrt nicht leisten, bei vielen Sportarten nicht mitmachen. Auf einer tieferen Ebene hat man das Gefühl, die gesellschaftlichen Erwartungen nicht zu erfüllen. Wir leben in einer sehr vermarktlichten Gesellschaft, nicht nur in Deutschland, fast überall auf der Welt: Menschen sind wie Wettbewerber in einem Markt, die in einem Wettkampf miteinander stehen. Die Verantwortung wird auf den Einzelnen abgewälzt, beruhend auf der Annahme: Jeder hat faire Chancen. Wo man landet in der Gesellschaft, hat man selbst in der Hand. Und da schwingt dann mit: Wer arm ist, hat also seine Chancen nicht genutzt und ist selbst verantwortlich für seine Misere. Das wird von armen Menschen selbst auch oft so gesehen. Die Bedrohung des sozialen Ausschlusses führt zu einer erhöhten Sehnsucht nach Einheit und Schutz durch eine Gruppe. Eine autokratische Führungsperson kann diese Hoffnung vermeintlich befriedigen.“ (SPIEGEL.de)

Das Gerede der AfD und ihrer Führerdarsteller ist lächerlich. Sich vor allem mit ihnen zu beschäftigen ist ein Fehler und lenkt die Schuldfrage ins Nichts.

Was der Öffentlichkeit fehlt, sind Analysen des gesellschaftlichen Gewordenseins. In Deutschland wäre das besonders schwierig, denn die deutsche Geschichte ist schwer zu durchleuchten.

Hinzu kommt der Fehler, die Deutschen hätten erst nach Ende des Zweiten Weltkriegs begonnen, das heutige Gesellschaftssystem zu errichten.

Menschen sind geschichtliche Wesen, zumal als Anhänger einer uralten Heilsgeschichte. Angehörige einer „geschichtslosen“ Kultur haben es einfacher, ihre Gegenwart ist noch immer in hohem Maße identisch mit ihrer Vergangenheit.

In deutschen Schulen wird zwar die Vergangenheit der Nation gelehrt, aber nur als hohle Datenmasse für Tests und Quizsendungen. Dass sie selbst von dieser Vergangenheit im Fühlen und Denken geprägt sind, erfahren sie in keiner Unterrichtsstunde.

Vergangenheit ist für sie ein mächtiger Steinkoloss im Rücken, den sie so gut wie nie kennenlernen. Lebendige Verbindungen zwischen ihrem Jetzt und Einst zu ziehen, bleiben sie unfähig.

Ergebnis: sie wissen nicht, warum sie leben wie sie heute leben. Ihren Alltag, ihren Wohlstand, ihr Fühlen und Denken traktieren sie, als könne es anders nicht sein.

Die Frage: woher das „Böse“, das Kranke und Miserable? können sie nur beantworten, indem sie sich „böse Politiker“ suchen, die sie für das Böse haftbar machen können.

Das aber wäre nicht anders als die Beantwortung der Frage: woher die Gesamtverschmutzung der Meere – mit dem Satz: allein durch den Untergang der Titanic.

Die Aufklärung hat die kühle Vernunft entdeckt, die Romantik protestierte gegen diese „Verkürzung“ mit ihren Entdeckungsfahrten ins Unbewusste, Gefühlsmäßige und Instinktive.

Die Frage: wie verhalten sich Gefühle und Logik zueinander, wurde bis zum heutigen Tag nicht klar gestellt. Was zur Folge hat: einmal wird das logische Denken unterdrückt, ein andermal die Stimmungen unseres Gemüts. Dass der Mensch eine Einheit aus beiden Elementen bildet, hat sich noch nicht herumgesprochen.

Der Psychologe: „Man sehnt sich nach Stärke, wenn man sich gerade besonders schwach und klein fühlt. Oft wird es paradoxerweise als Stärke interpretiert, wenn sich jemand über demokratische Institutionen und Normen hinwegsetzt. Da ist jemand, der greift durch, geht da hin, wo es wehtut. Autokraten spielen in ihrer Rhetorik die einen gegen die anderen aus, bedienen die Sehnsucht nach Zugehörigkeit. Ausnahmsweise sind dann mal die anderen die Ausgeschlossenen, und man selbst gehört zur Gruppe der Normalen, der Guten.“

Unerwachsene Gesellschaften – wie die modernen – verhalten sich wie Kinder in der Kinderstube, die sich aus unerkannten Gründen plötzlich ängstigen und zu ihren Eltern flüchten, weil sie sich dort geschützt fühlen.

„Scham ist ein extrem negatives Gefühl. Scham und die Angst vor sozialer Ausgrenzung werden ähnlich wahrgenommen wie physischer Schmerz. Sie kann krank machen und am Ende sogar töten. Das zeigen Studien. Insofern ist nicht verwunderlich, dass Menschen alle möglichen Strategien anwenden, um diesen Schmerz zu lindern. Allein die Hoffnung auf Linderung, die dieser Typ Politiker in den Menschen weckt, reicht, um ihm die Stimme zu geben. Reale Politik ist da oft zweitrangig. Populisten stellen in ihrer Sprache Menschen außerdem oft als Opfer dar. Arme Leute befreit dies ein Stück von ihrer Last, angeblich selbst verantwortlich zu sein für ihre negative Lage.“

Moderne Gesellschaften sind schamlose Gesellschaften. Sie leben davon, dass wenige so mächtig sind, um sich angeblich vor jeder Scham zu bewahren, doch den übergroßen Rest der Gesellschaft in Scham und Schande stürzen.

Je schamloser eine Gesellschaft, je mehr versenken die Erfolgreichen die Erfolglosen in Scham und Schande. Das grausame Spiel wird verhüllt, indem die Mächtigen von Erfolgschancen sprechen, die die Unteren nur benutzen müssten, um aufzurücken in die Etagen der Erfolgreichen.

Der Begriff „Bildungsgerechtigkeit“ ist ein beliebter Schaumschlägerbegriff, um das ungerechte Gefälle der Gesellschaft zu kaschieren. Denn die mächtigen Kasten wollen die Gesellschaft, von der sie profitieren, auf keinen Fall verändern. Also entwickeln sie Leckerlis, mit denen sie die Aufsteiger locken können – doch mit wenig Erfolg.

Die oberen Mächte bleiben sich im Grunde immer gleich, ebenso die Massen des Prekariats.

Wer sich schämt, fühlt sich schuldig.

„Da gingen beiden die Augen auf und sie erkannten, dass sie nackt waren. Sie hefteten Feigenblätter zusammen und machten sich einen Schurz.“

Wird der Mensch durch höhere Mächte in die Scham gestürzt, endet er in Sünde und Schuld. Schuld und Scham sind Zwillingsbegriffe – die heute die Welt regieren.

Obere Schichten kennen weder Scham noch Schuld – sonst hätten sie ihr Profitverhalten längst geändert. Untere Schichten fühlen sich zu beschämt und schuldig, als dass sie kühl überlegen würden: was müssen wir tun, um uns aus unserem Elend zu befreien?

Wer sich schuldig fühlt – und dies seit endlosen Zeiten – dem vergeht Fühlen und Denken bei der Frage nach der Veränderung seiner Misere.

Scham und Schuld sind die mächtigen – aber unsichtbaren – Fesseln der Angehörigen der Erlöserreligionen.

Erst wenn Menschen ihre angebliche Schuld erkennen, aber nicht mit Scham reagieren, sondern jubelnd in ihrer Nacktheit herumtanzen und toben, werden sie sich von den Klauen des Heiligen befreien können.

In der Therapie unserer kranken Gesellschaften müssen wir bis in die Anfänge zurückkehren, um die wahren Ursachen ihrer Krankheiten zu finden.

Ihre Krankheiten sind: Ungerechtigkeit zwischen den Menschen, die Zerstörung der Natur, das Zerreißen der menschlichen „Bande“ und das atomare Umherirren isolierter Individuen mit dem Gesamtergebnis: wenige erringen die Macht über die Vielen.

Die Vielen geraten gelegentlich in Wut und Zorn, doch zur radikalen Beendigung ihrer Not fehlt ihnen der Mut, ihre von Oben verordnete Schuld und Scham aus dem Fenster zu werfen.

Die Mächtigen fühlen sich schuldlos und erfolgreich, doch glücklich sind sie nicht. Ihr angebliches Glück besteht darin, die vielen, die sie überwunden haben, unglücklich zu sehen. Das Unglück der Vielen rechnen sie hoch zum angeblichen Glück der Wenigen.

Es wäre ein Riesenerfolg, wenn die Beschämten und Verschuldeten ihre wahren Gefühle entdecken und die richtigen Schlussfolgerungen ziehen würden.

„Viele Menschen denken oder hoffen zumindest, gute Politik sei eine rationale Angelegenheit. Doch das stimmt nicht. Politik ist eine der persönlichsten Angelegenheiten, die es gibt. Schließlich geht es im Kern darum, wie wir zusammenleben und in Zukunft leben werden. Es geht um Ängste und Sorgen, um Werte, die wir richtig oder falsch finden – also um Emotionen. Mit »radikal emotional« meine ich, dass wir uns ehrlicher der Emotionen bewusst werden müssen, die unsere Überzeugungen prägen. Nur so können wir einen echten Dialog führen. Ein sachlicher Austausch setzt voraus, dass wir verstehen, warum wir und andere so denken und fühlen, wie wir es tun. Erst wenn wir diese Ebene erreichen, können wir zu einer konstruktiven Diskussion finden.“ (SPIEGEL.de)

Wenn ich wüsste, warum meine Feinde „böse“ wurden, wüsste ich, dass sie keine Teufel sind, die ich erledigen muss. Doch über solche Gefühle erfahren wir in unseren Schulen nichts.

Kommt einer daher mit dem Versuch einer Erklärung, wird er verspottet. Aha, ein Küchenpsychologe, danke und tschüss.

Erfolgsleute wollen kühl und rational sein wie ihre Maschinen – damit sie nicht zu schnell von ihrer KI überrundet werden. Das Menschenbild der Gegenwart lautet: der Mensch ist etwas, das überrundet werden muss. Daran darf sich nichts ändern.

Erst die Überwindung des Heiligen, das den Menschen in Scham und Schuld gefangen hält, würde die Unfreiheit des Menschen beenden. Erst dann könnte der ekstatische Tanz der Schuldlosen beginnen.

„Nur im Tanze weiß ich der höchsten Dinge Gleichnis zu reden.“ (Nietzsche)

Fortsetzung folgt.