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Natur brüllt! LXXIV

Tagesmail vom 22.04.2024

Natur brüllt! LXXIV,

Das Böse – zurückgekehrt aus den Katakomben des Mittelalters – regiert heute wieder die Welt.

Niemand aber spricht vom Bösen.

Stattdessen ist nur von Geld und Macht die Rede.

Geld & Macht regieren die Welt. Ist Kapitalismus der Erbe des Guten und Bösen? Dann wäre seine Abschaffung eine Fata Morgana.

Die Welt ist nur reparabel, wenn Unheil das Werk der Menschen wäre, die ihre Fehler einsehen und durch Lernen des Guten beheben würden.

Erlöserreligionen kennen keine Menschen, die aus eigener Einsicht und Kraft ihre Untaten beenden können. Sie verweisen ihre Gläubigen auf die Erlösungstaten Gottes oder seines Sohnes – denen sich die Menschen zu unterwerfen haben. Ihre Priester reden von Erlösung. Wer glaubt, wird gerettet werden, wer nicht glaubt, wird verloren gehen.

„Nehmt an, ein Baum ist gut, so wird auch seine Frucht gut sein; oder nehmt an, ein Baum ist faul, so wird auch seine Frucht faul sein. Denn an der Frucht erkennt man den Baum. Ein guter Mensch bringt Gutes hervor aus seinem guten Schatz; und ein böser Mensch bringt Böses hervor aus seinem bösen Schatz.“

„Ein guter Mensch bringt Gutes hervor aus dem guten Schatz seines Herzens; und ein böser bringt Böses hervor aus dem bösen. Denn wes das Herz voll ist, des geht der Mund über. 46 Was nennt ihr mich aber Herr, Herr, und tut nicht, was ich euch sage?“

„Oder habe ich nicht Macht zu tun, was ich will, mit dem, was mein ist? Siehst du darum scheel, weil ich so gütig bin? 16 So werden die Letzten die Ersten und die Ersten die Letzten sein.“

„Denn viele sind berufen, wenige aber auserwählt.“

Demokratien beruhen auf Leistungen der Menschen. Wären Menschen irreparabel böse, könnten sie zur Aufrechterhaltung der Demokratien nichts beitragen. Alles wäre das Werk eines allmächtigen Gottes und seiner unfehlbaren Priester. Es gäbe keine Demokratien, sondern nur totalitäre Theokratien.

Wären einige Demokratien nichts als totalitäre Theokratien, gäbe es keine sinnvolle Zusammenarbeit zwischen ihnen, sondern nur mörderische Auseinandersetzungen: entweder ihr – oder wir: alles – oder Nichts.

Eine Gleichberechtigung der Menschen, auf deren Grundlage die Völker friedlich miteinander streiten und sich verständigen könnten, wäre ausgeschlossen.

Eine Weltdemokratie mit friedlich zusammenlebenden Völkern wäre nur auf der Basis der Vernunft möglich, in denen es keine unverträglichen bösen und guten Systeme gäbe sondern nur selbstverantwortliche Regierungen gleichberechtigter Menschen.

Die UNO-Erklärung der Menschenrechte hat die Gleichberechtigung aller Menschen auf Erden eindrucksvoll formuliert:

Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.

Jeder hat Anspruch auf alle in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten, ohne irgendeinen Unterschied, etwa nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Anschauung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand.“

Der Streit zwischen Vernunft und Glaube war Mittelpunkt des christlichen Abendlandes. Vernunft war die Stimme der antiken Heiden, Glaube die Stimme der Frommen.

Äußerlich endete der Streit um Alles oder Nichts erst zu Beginn des 19 Jahrhunderts.

Der Streit zwischen Vernunft und Glaube entbrannte in der französischen und englischen Aufklärung. Die deutschen Dichter und Denker übernahmen den Streit und versuchten, Athen und Jerusalem einigermaßen miteinander zu versöhnen.

Doch bald entstand eine unversöhnliche Kluft zwischen Bibelgläubigen und Vernünftlern. Das war in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts.

Zuerst hielt man noch an einer Synthese fest. Ein Herr Thiersch bekannte sich zum Grundsatz: „Das Humanistische (Aufgeklärte) bekommt durch das Christliche die sittlich-religiöse Weihe.“

Nicht viel später hieß es bereits, dass sich „die heidnische Tugend und die reformatorische Glaubensgerechtigkeit, die Moral und die Sittenlehre des Christentums sich nicht miteinander verbinden ließen.“

Dann kam Pfarrerssohn Nietzsche und verfluchte die Antike – die keineswegs humanistisch gewesen sei –, vor allem aber das Christentum.

Denn noch schlimmer als die inhumane Geschichte der Heiden sei das Regiment des Christentums gewesen. Mit ihm „kam der dumpfe Intellekt zum Siege über das aristokratische Genie unter den Völkern. Dass das Altertum durch das Christentum überwunden wurde, war die verhängnisvollste Katastrophe der Geschichte. Beide, Griechentum und Christentum müssen miteinander überwunden werden. Der Zweck alles historischen Studiums kann nur sein, die Geschichte und mit ihr die gesamte Antike einschließlich des Christentums zu überwinden. Die Zeit der alten Bildung geht zu Ende, es naht eine neue Kultur.“

Das war ein fulminanter Angriff gegen den allseits bewunderten Hegel, für den die Geschichte des Christentums absolut notwendig war zur Vollendung des Abendlands.

Wie aber sollte die neue Kultur aussehen?

„Die Erzeugung des Genies ist das unbewusste Ziel der Natur.“ Schon wurde die Erzeugung des Genies erprobt – doch ohne Erfolg. Jetzt sollte das Genie mit klarem Bewusstsein erzeugt werden. „Das Geniale in sich selbst und in andern zu pflegen, das ist der Sinn der Geschichte.“

Was aber ist ein Genie? Das Genie ist die Geburtsstunde des deutschen Führers. Nur ein echter Führer könne das marode Alte vernichten und ein komplettes Neues errichten.

Die Deutschen waren unfähig, den uralten Streit zwischen Ratio und Glauben sinnvoll zu beenden. Also begannen sie von einem genialen Führer zu träumen, der ihr Land total umstülpen sollte. Das Alte ist vergangen, siehe, ich mache alles neu.

Die Sehnsucht der Deutschen, die unfähig waren, ihre heidnisch-religiösen Konflikte zu lösen, mündete ins Apokalyptische der Religion. Das war die Stunde der evangelischen Theologen, die den Führer als kommenden Messias und Erneuerer des Deutschen Reiches herbeibeteten.

„Die theologische Aufgabe der Stunde besteht darin, ein neues Verständnis von Kirche, Volk und Staat im Einklang mit der deutschen Wende von 1933 aufzubauen. Den Nationalsozialisten sei es gelungen, was Theologen und Philosophen nicht vermocht hatten, nämlich die Beendigung der „allumfassenden Debatte um alles.“ Also fordert Immanuel Hirsch, einer der bedeutendsten Theologen jener Zeit, der heute gänzlich vergessen ist, die Theologen zum Dienst an der nationalsozialistischen Weltanschauung auf, die dem deutschen Volk eine Heimat gegeben habe.“

„Wir setzen unsere ganze Lebens- und Geisteskraft daran, unser Volk und Reich in eine gesunde lebensbewahrende Ordnung zu bringen und ihm so ein dauerhaftes und ehrenvolles Dasein zu gründen im Kreis der weißen Herrenvölker, denen Gott die Verantwortung für die Geschichte der Menschheit anvertraut hat.“ (Hirsch)

Fast das gesamte deutsche Volk erwartete mit Ungeduld die Ankunft des genialen Führers, der als Messias die gloriose Endzeit der Deutschen einleiten sollte.

Als die Deutschen das messianische Finale 1945 mit einer Zerschlagung ihrer Welt quittieren mussten: was taten sie?

Sie leugneten, die Gläubigen des Führers gewesen zu sein. Erst auf großen Druck der Siegerkirchen stimmten sie endlich zu, ein kollektives Schuldbekenntnis abzulegen. Dennoch dauerte es lange, bis die Basis der Kirchen diesem „Stuttgarter Schuldbekenntnis“ zustimmte.

Die christliche CDU – vorwiegend katholisch – ist bis heute konservativ, als ob sie die uralte Vergangenheit ihres desolaten Glaubens behüten müsste.

Das macht sie unfähig, sowohl ihre Kirchen zu kritisieren als auch die sogenannte christliche Politik ihrer Mächtigen. Eine gründliche Auseinandersetzung mit ihrem Glauben findet nicht statt. Man begnügt sich mit Bergpredigt-Sprüchen, an die sie selbst nicht mehr glauben.

Gut und Böse gehören zu den Polen der meisten Religionen oder politischen Systemen. Dennoch gibt es weltweite Unterschiede zwischen diesen Polaritäten.

Bei den Heiden gibt es zumeist ein Kontinuum zwischen Gut und Böse. Der moralische Mensch muss lernen, wie gut oder böse sein Tun ist, dann überlegen, in welchem Maß er sein Tun verbessern will oder nicht. Das ist ein einfacher Lernprozess. Wer nicht total gut ist, ist noch lange nicht abgrundtief böse.

Deswegen ist Nietzsches Beurteilung der Antike als inhuman völlig falsch. Denn die Athener Intellektuellen hatten begonnen, verschiedene Philosophien des Guten zu entwickeln und politisch zu verwerten.

Jeder Mensch kann ein guter Mensch sein, auch dann, wenn er noch viele Fehler begeht. Wichtig ist nur, dass er selbstkritisch seine Position benennt und jedem die Möglichkeit gibt, sein Tun auf der offenen Skala zu beurteilen.

Die deutsche Außenministerin wird scharf gescholten, weil sie einmal zu lasch, ein andermal zu energisch moralisch auftritt. Jeder Pädagoge weiß, dass solche Bewertungen völlig daneben liegen können. Sie hängen tatsächlich von der subjektiven Einschätzung des Anderen ab: ist der Andere schon weit fortgeschritten in moralischer Sensibilität? Ist er nur grobschlächtiger Anfänger? Wird er verstehen, was ich ihm sagen muss? Oder leben wir in verschiedenen Welten? Lehnt er den Humanismus ab? Ist er Anhänger einer theokratischen Intoleranz? Oder interessiert ihn überhaupt keine Moral, sondern nur die technisch-wirtschaftliche Leistung seines Landes?

Von außen und ohne Erfahrungen kann die Fremdeinschätzung des Anderen kaum beurteilt werden. Ein außerordentlich schwieriges und undankbares Geschäft für die Außenministerin. Gleichwohl muss sie ununterbrochen nach den politisch-moralischen Skalen ihrer Bewertung befragt werden.

Doch jetzt kommt der Clou: ausgerechnet jene, die alle moralischen Bewertungen der normalen Kapitalismuspolitik mit Empörung ablehnen, verfluchen Baerbock am meisten, weil sie die Falschen positiv und die Richtigen negativ beurteilt.

Israel ist äußerlich eine Demokratie, innerlich eine zunehmend intolerante und herrschsüchtige Gottesregierung.

Döpfners Springer-Verlag tut nichts anderes als die Haltung Jerusalems in allen Belangen blind und unterwürfig zu verteidigen. Sie beziehen sich auf die Haltung Merkels auf bedingungslose Loyalität mit dem Staat der Opfer im schrecklichen Holocaust-Völkerverbrechen.

Bedingungslose Haltungen haben mit kritischer Freundschaft nichts zu tun. Sie unterwerfen sich, anstatt energisch ihre Meinung zu sagen. Damit tun sie ihren „Freunden“ keinen Gefallen. Sie geben ihnen das Gefühl, dass alles okay sei, obgleich das Gegenteil der Fall ist.

Das könnte sie in schreckliche Abgründe führen – was im Fall BILD-Netanjahu tatsächlich der Fall ist. Anstatt die Ultraregierung aufmerksam zu beobachten und sie vor theokratischen Fehlern zu warnen, signalisieren die SPRINGER-Medien Jerusalem: alles okay, macht weiter so, wir stehen kritiklos hinter euch.

Im selbstvergebenen Auftrag mäht BILD alles ab, was nicht zur Linie Netanjahu passt:

„Bereits davor fiel Baerbock mit geradezu herrischen Ansagen an Jerusalem auf. Die Forderung, mehr Hilfslieferungen in das von Hamas-Terroristen kontrollierte Gaza hineinzulassen, garnierte die Außenministerin mit einem „Keine Ausreden mehr“. FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai (47) macht in BILD klar, wie er zur Aussage der Außenministerin steht: „Das Mullah-Regime ist an Frieden und Stabilität in der Region nicht interessiert.“ Sein Urteil über den Baerbock-Satz ist diplomatisch, aber deutlich: „Die Analysen der Politik müssen präzise und im Einklang mit der Realität sein. Das ist die Voraussetzung für die Entwicklung von Lösungen.““ (BILD.de)

Auch Israels Präsident Herzog haut mächtig auf die Pauke:

„Angesichts der »realen Bedrohung der Stabilität in der Welt« durch das vom Iran angeführte »Imperium des Bösen« müsse Europa endlich aufwachen, sagte Herzog am Sonntag in einem Interview mit »Bild«, »Welt« und anderen Springer-Medien .“ (SPIEGEL.de)

„Böse“ ist eine theologische Wertung und bedeutet: hoffnungslos verrottet. Dem entsprechen die Warnungen anderer hoher Militärs, Israels Feinde seien Tiere, müssten total zerstört und vernichtet werden. Netanjahu deklamiert: wir sind Söhne des Lichts – was sind dann die anderen?

Das sind keine demokratischen Wertungen mehr und degradieren die Feinde zu Untermenschen. Wenn der Feind dasselbe mit Israel machen würde, gäbe es nicht die geringsten rationalen Verfahrensweisen zwischen den Feinden. Es gäbe nur noch hasserfüllte Vernichtungswut.

Die deutsche Regierung ist unfähig, eine sinnvolle Kritik am verblendeten Kurs der Ultras zu üben. Ihre internationale Bedeutung in der Welt schwindet ins Bodenlose.

Jedes Heuchelsystem, das über Jahrhunderte ungehindert agieren konnte, kommt irgendwann in die innere Nötigung, völlig aus der Fassung zu geraten und zu explodieren.

Dann wird jede Moral verfemt. Leute wie Nietzsche, Hitler oder Trump haben keine Schwierigkeiten mehr, ihre amoralische Gefolgschaft zu finden. Das Böse wird zum Guten. Es findet eine Umwertung aller Werte statt.

Die neuen Wüstlinge werden bewundert, weil sie tun, was normale Leute sich nicht zutrauen. Ihr Wille zur Macht ist unbegrenzt. Jeder Spießer, der unbewusst von bösen Taten träumte, sieht seine Wunschphantasien auf einmal erfüllt.

Dies war auch der Traum der deutschen Bewegung, die sich dem Dritten Reich näherte:

„Demgegenüber muss man auf Zukunftsmenschen hoffen, die nicht geschichtlich gebildet sein wollen, die vergessen und nicht wissen. „Ihre Kennzeichen sind gerade ihre Unbildung, ihre Gleichgültigkeit und Verschlossenheit gegen vieles Berühmte, selbst gegen manches Gute. Aber sie fühlen sich wieder als Menschen.““ (Lütgert)

Demokratische Moralverächter sind jene frommen Wähler Trumps, die die Schnauze voll haben von lebenslangen Gardinenpredigten. Echte Freiheit ist für sie die Abwesenheit aller ethischen Regeln.

Das Erscheinen des Antichrists erwarten sie als messianische Erholung von allen irdischen Übeln.

Fortsetzung folgt.