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Natur brüllt! LXX

Tagesmail vom 05.04.2024

Natur brüllt! LXX,

Ist ein Diskurs mit Rechten anders als einer mit – sich selbst? Oder mit Ähnlich- denkenden?

„Leo: Insgesamt ist das Resümee ernüchternd. Natürlich hatten wir gehofft, die Gesellschaft ein bisschen klüger zu machen. Diese Hoffnung ist enttäuscht worden.“ (SPIEGEL.de)

Kann man hoffen, mit einem Buch eine Gesellschaft ein bisschen klüger zu machen?

„Zorn: Wir haben das Buch als Eingriff in eine Debatte verstanden, die durch Polarisierung blockiert war: Linke gegen Rechte. Gesellschaftlich gesehen haben wir nicht viel erreicht. Das ist aber für eine Intervention nicht ungewöhnlich, weil sie eben auch erst mal provozieren und Blockaden lösen muss.“

Woher wissen die Verfasser, dass sie Blockaden gelöst haben?

Was überhaupt sind Rechte? Und: gehören die Verfasser zu den Linken? Was sind Linke? Sind Polarisierungen immer nur falsch? War es im Dritten Reich nicht absolut notwendig, die Phrasen der Nationalsozialisten durch Polarisierung – oder strikte Negierung – so zu blockieren, dass die Phraseure nicht regieren konnten?

„Durch die Arbeit an unserem Buch habe ich zum Beispiel gelernt, dass man Demokratien nicht einfach retten oder reparieren kann. Man muss sie vor allem begreifen und dann durch eigene Praxis mit Leben füllen.“

Ist dieser Satz identisch mit dem berühmten Ausspruch Spinozas:

„Nicht lachen, nicht trauern, nicht verachten, sondern verstehen?“

Ist Verstehen der Demokratie nicht immer notwendig – nicht nur in krisenhaften Blockierungen – um diese prophylaktisch zu vermeiden?

Sind wir aber in die Krise gerutscht, so kann das nur heißen, wir haben die Regeln der Demokratie nicht verstanden?

Verstehen heißt nicht nur, den anderen, sondern auch sich selbst verstehen. Versteh ich mich nicht, bleibt mir der Andere fremd – wie umgekehrt. Wie kann ich einen Rechten verstehen, wenn ich mit keinem Wort erwähne, wo ich selber stehe?

„Für mich lautet der Schlüsselbegriff des Buches: Problem. Wir stellen uns einem Problem. Es hat sich tendenziell verschärft seitdem, aber es ist und bleibt ein Problem. Was ist die Antwort auf ein Problem? Denken. Und das ist ohne Mühe nicht zu haben.“

Welchem Problem stellen wir uns? Gibt es denn so viele und wir wählen nur willkürlich eins aus? Was aber, wenn ein Problem mit allen anderen zusammengewachsen ist? Lässt es sich dann noch isoliert betrachten und separat auflösen?

Haben Milliardäre nicht andere Probleme als arme Schlucker, die nicht wissen, wie sie ihren Abend erleben? Echte Probleme aber müssten doch für alle gemeinsam sein – oder?

Wer aber will bestimmen, was in einer „individualisierten“ Gesellschaft gemeinsam ist? Selbst ökologische Probleme müssen nicht gemeinsam sein, wenn die Superreichen auf ihren Yachten beliebig um die Welt kreuzen können, um der schlechten Berliner Luft zu entkommen?

Denken ist die Antwort auf ein Problem?

In der Antike war Denken der Versuch, Probleme erst gar nicht entstehen – oder so schnell wie möglich verschwinden zu lassen. Wie sozial muss eine Polis sein, damit die Reichen nicht die totale Macht erringen und die Armen als Wegwerfware behandeln?

Denken – prima Wort, nur, wo bleibt die Erklärung, was Denken bedeutet? Können die einen von Natur aus denken, die anderen aber aus unerfindlichen Gründen nicht? Oder haben die einen es etwa gelernt, die anderen aber nicht? Wie aber lernt man Denken? Durch Büffeln und auswendig lernen? Warum haben die einen es gelernt, die anderen aber nicht?

In Athen gab es Denk-Schulen! Es gab auch Wanderlehrer, die das, was sie unter Denken verstanden, weitergaben und unterrichteten. Manchmal gegen Geld, manchmal kostenlos.

Doch das, was sie zu sagen hatten, war oft umstritten. Sokrates und seine Leute warfen ihnen vor, Rhetoriker zu sein – also Überredungskünstler –, die das Gegenteil wollten von selber Denken.

Rhetorik war die Kunst, das Volk mit Scheingründen auf eine falsche Seite zu ziehen, um eine stabile Demokratie zu deformieren und das mündige Volk lächerlich zu machen. Brillant reden war die Fähigkeit, mit verführerischer Scheinlogik das Publikum dorthin zu bringen, wohin es nicht wollte.

Selbstständiges Denken hingegen war das Gegenteil von eindrucksvoll reden können. Es sollte begründen können, was man denkt – oder aber die eigene Meinung durch selbstkritische Argumente revidieren.

Denken ist eine autonome Tätigkeit und dient dem Selbstbewusstsein jedes Einzelnen. Erst wenn der Einzelne glaubt, seine eigene Meinung gefunden zu haben, weiß er auch, welcher politischen Gruppe er angehört.

Möglich, dass er niemandem angehört und seine Meinung allein vertreten muss. Sokrates vertrat seine Meinung gegen das athenische Volk vollständig allein.

Die Widerständler im Dritten Reich waren winzige Minderheiten. Sie brauchten Mut und Selbstbewusstsein, um sich zu sagen: das verführte Volk liegt falsch: ich habe Recht gegen die verderblichen Mehrheiten.

Ab wann beginnen Meinungen gefährlich zu werden für Demokratien?

Wenn sie immer rechter oder linker werden? Keineswegs, sie werden gefährlich, wenn sie immer mehr die demokratischen Grundrechte verlassen und eine faschistische Republik errichten wollen.

Faschismus ist eine Zwangsbeglückung. Da gibt es einige, die halten den Rest der Republik für dumm oder verstockt, weshalb sie als kleine Elite die totale Macht erobern müssen, um das ganze System auf den richtigen Weg zu zwingen.

Das müssen keine Rechten sein, auch die Linken haben marxistische Faschismen erfunden, um die Massen ihres Weges zu führen.

Jede Ideologie kann faschistisch werden – wenn sie glaubt, allein die Wahrheit einer „Volksbeglückung“ zu besitzen.

Jetzt müssen wir uns langsam und behutsam vorantasten. Sollte eine Demokratie nicht das Ziel haben, all ihre Mitglieder glücklich zu machen? Aber nicht mit Gewalt, sondern durch gleichberechtigtes Streiten und öffentliches Lernen?

Doch langsam: in modernen Demokratien wird bestritten, dass der Mensch auf Erden glücklich werden soll. Die fortschrittshungrigen Naturbeherrscher sollen überhaupt kein klares Ziel haben – nur das Ziel einer unendlichen Ziellosigkeit.

Das ist die Meinung der Erlöser, die sich anmaßen, die Demokratie erfunden zu haben – was niemals stimmen kann, wenn man ihre heiligen Urkunden liest. Diese lesen und interpretieren sie inzwischen nach Belieben. Dadurch entstanden endlose Misch-Interpretationen, die allesamt demokratisch, gläubig oder gottlos sein wollen.

Nach Meinung der Frommen hat Demokratie keinesfalls das Ziel, auf Erden glücklich zu machen. Sie soll überhaupt kein Ziel haben, denn Christen sind Fremde auf Erden und erlangen ihr individuelles Ziel erst im Jenseits.

„Aus dieser absoluten Unabhängigkeit von der Welt folgt die Gleichgültigkeit gegen weltliche Interessen und Aufgaben. Das Urchristentum kennt kein Programm der Weltgestaltung und hat keine Vorschläge zur Reform der politischen und sozialen Verhältnisse. Den staatlichen Behörden gegenüber soll jeder seine Pflicht tun; aber man übernimmt keine Verantwortung für das bürgerliche Leben, denn man ist ja „Bürger“ im Himmel.“ (Bultmann, Das Urchristentum)

Die beiden Gestaltungsmächte der Demokratie sind die unvereinbaren Ideologien a) der heidnischen Polis und b) der Erlösungsreligion. Im Verlauf der westlichen Geschichte hat sich diese in hohem Maße der heidnischen Polis angepasst und will dennoch alles selbst erfunden haben.

Fast alle gegenwärtigen Konflikte entstammen der schier endlosen Masse der Unvereinbarkeiten zwischen „Flucht in den Himmel“ – und dem demokratischen Ideal des autonomen Glücks auf Erden.

Bei uns wird das Wörtchen rechts benutzt, als sei es besonders verführbar für Zwangsbeglückungen. Falsch. Auch ehemalige Sozialisten können nicht unterscheiden zwischen gewaltfreier Gerechtigkeit und den Versuchen, eine ganze Gesellschaft an die Kette zu legen.

Die Folge: niemand mehr will links sein – und dennoch links sein. Das ist der Unfug der Gegenwart.

Diesem Unfug könnte man nur entgehen, wenn man sich die Grundbedeutung von „links“ verdeutlichen würde, welche wäre: Gerechtigkeit. Von den athenischen Philosophenschulen könnte man viel lernen, wie eine gerechte Gesellschaft aussehen sollte.

Dasselbe Verwirrspiel auf der Rechten. Christliche Parteien wollen rechts sein, aber dennoch christlich-gerecht. Eine irdische Gerechtigkeit aber gibt es in keiner Heiligen Schrift. Dieses unlösbare Problem hat die CDU gelöst, indem sie sich „konservativ“ nannte.

Konservare heißt bewahren. Wir sahen aber gerade, dass die Urchristen Fremde auf Erde waren und hier nichts zu bewahren hatten. Streng genommen sollten sie überhaupt keine weltliche Politik betreiben, sie sollten sich allen politischen Mächten beugen und das Ende der Heilsgeschichte in Demut erwarten.

„Die Erlösung des Menschen, seine Befreiung von der Welt und von den sie beherrschenden Mächten, seine Befreiung zumal von Fleisch, Sünde, Gesetz und Tod, kann er nicht aus eigenen Kräften zuwege bringen. Die Erlösung kann nur ein von der göttlichen Welt her geschehendes, am Menschen sich vollziehendes Ereignis sein.“ (ebenda)

Dieses passive Erwarten der jenseitigen Erlösung durch vollständiges Negieren des irdischen Glücks war zum Beispiel das perfekte politische Drehbuch einer deutschen Kanzlerin.

Der Konflikt zwischen Sehnsucht ins Jenseits und irdischer Verbundenheit spiegelt sich im unlösbaren Konflikt zwischen technischem Fortschritt ins Unendliche und dem hektischen Versuch, die Umweltzerstörung der Erde zu stoppen und ihre Bewohnbarkeit zu bewahren.

Die Probleme zwischen weltlichen Heiden und überweltlichen Jenseitsflüchtlingen sind die ungelösten, ja unlösbaren Probleme zwischen demokratischen Philosophen und theokratischen Weltflüchtern.

Die beiden Philosophen im SPIEGEL-Interview ignorieren die antiken Urelemente der Polis vollständig. Deshalb haben sie es nicht nötig, die Ur-Erfahrungen der Geschichte auszukramen und der gegenwärtigen Debatte dienstbar zu machen.

In einer strengen Debatte beginnt einer zu definieren, was er für den Streitpunkt zwischen Position A und B hält. Sodann muss er Argumente bringen, die zeigen, warum er welche Position für die bessere hält. Danach darf der Zweite in die Debatte eingreifen und versuchen, die Thesen des Erstredners zu widerlegen. Die Debatte kann beliebig wiederholt werden.

Das haben die Modernen nicht nötig. Statt Urbegriffe scharf herauszuarbeiten, um die „wahrsten“ zu definieren, wird die strenge Kost der Definitionen verschmäht zugunsten endloser Scheinkünste der Talk- oder Schwatzrhetorik.

Im deutschen TV gibt es keine einzige Talkshow, in der argumentiert wird. Jeder brilliert mit seinen besonderen Überredungskünsten.

Schon die Überschrift des Artikels ist reiner Unsinn:

„Wir haben kein Problem damit, dass du rechts bist. Sondern damit, wie du es bist.“

Handelt denn jemand anders, als er denkt?

Wie kann man andere verstehen, wenn man sie in zwei Persönlichkeiten aufspaltet: in die, wie sie sind und die, wie sie handeln? Gewiss, bigott sind wir alle, nicht aber so bigott, dass die Gespaltenheit nicht ganz und gar zu unserer Persönlichkeit gehören würde.

Das SPIEGEL-Interview zeigt die Malaise deutscher Intellektueller. Wenn selbst Hochgebildete unfähig sind, einen sinnvollen Dialog zu führen – wer soll es dann noch können?

Fortsetzung folgt.