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Natur brüllt! LXVIII

Tagesmail vom 25.03.2024

Natur brüllt! LXVIII,

die Karwoche beginnt. Zeit, über Mörder nachzudenken.

Die Menschheit besteht aus Selbst- und Fremdmördern.

Der Herr der Welt ist beides, er begeht Selbstmord, um die Bösen zu vertilgen – und am Ende selbst die Natur. Doch dieses Geschehen erfolgt nicht linear. Jesus fordert die Menschen auf, ihn ans Kreuz zu nageln, damit er als Auferstandener die böse Welt vernichten und die Seinen retten kann.

Es beginnt mit der Bedrohung der Natur:

„Nachdem er aber erwacht war, bedrohte er die Natur und die Wogen des Wassers und sie legten sich und es trat Windstille ein.“

„Da sagten sie zueinander: Wer ist doch dieser, dass er sogar den Winden gebietet und dem Wasser und sie ihm gehorsam sind?“

Das war Bedrohung um der Ruhe und des Gehorsams willen.

Dann kommt Gewalt über die Natur hinzu, um die Menschen körperlich zu heilen:

„Er rief aber die Zwölf zusammen und gab ihnen Macht und Gewalt über alle Dämonen und zur Heilung von Krankheiten; und er sandte sie aus, das Reich Gottes zu predigen und zu heilen.“

Dann kommt befohlener Mord als Selbstmord, um endlich dem ganzen irdischen Elend zu entkommen. Wer das einfädeln kann, muss der Gesalbte Gottes sein:

„Für wen haltet ihr mich? Petrus antwortete: für den Gesalbten Gottes. Er aber gebot ihnen mit strengem Befehl, dies niemandem zu sagen, indem er sprach: Der Sohn des Menschen muss viel leiden und verworfen werden von den Ältesten und Hohepriestern und Schriftgelehrten und getötet werden, und am dritten Tag auferweckt werden.“

Ist der Sohn Gottes identisch mit dem Sohn des Menschen? Hier schimmert die Gottesebenbildlichkeit des Menschen durch.

Jetzt kommen die Kernpunkte der Erlösung durch den Gesalbten:

„Er aber sprach zu allen: wenn jemand mit mir gehen will, verleugne er sich selbst und nehme täglich sein Kreuz auf sich und folge mir nach. Denn wer sein Leben retten will, der wird es verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird es retten. Denn was nützte es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne, sich aber selbst ins Verderben bringen oder an sich selbst die Strafe leiden würde. Denn wer sich meiner und meiner Worte schämt, dessen wird sich der Sohn des Menschen schämen, wenn er kommen wird in seiner Herrlichkeit und in der Herrlichkeit des Vaters und der heiligen Engel. Ich sage euch aber der Wahrheit gemäß: es sind einige unter denen, die hier stehen, die den Tod nicht schmecken werden, bis sie das Reich Gottes gesehen haben.“

Es geht um Sieg und Niederlage, ja um Sein oder Nichtsein des Menschen. Wer sein Leben riskiert um Seinetwillen, der wird gewinnen. Wer aber nur gewinnen wollte, der würde an sich selbst die Strafe erleiden.

Hegel lernte an diesen Stellen, was Dialektik ist. Im Reich des Sohnes gibt es kein Entweder-Oder, keine strenge Folgerichtigkeit der Logik – hier herrschen Gegensätze, die sich gegenseitig bestärken. Die Logik Gottes ist der Widerspruch des Menschen.

Hegel, ein jugendlicher Bewunderer der Griechen, überwand diese Bewunderung, als er die Überlegenheit der frommen Dialektik über die weltliche Logik der Heiden erkannte.

Also entschied er sich für die überlegene Power der Dialektik, um die jämmerliche Scham der irdischen Logik zu überwinden. Logik präsentierte die heidnisch-eine Welt, Dialektik die fromme Zweiweltentheorie der Juden.

Diese beiden unvereinbaren Welten hatten – lange vor dem Erscheinen des Sohnes des Menschen – eine Vorgeschichte. Nicht immer war das Verhältnis der zwei Welten feindlich geprägt. Als die hellenischen Griechen bei ihrem Sieg über Vorderasien die Juden entdeckten, waren sie zuerst voller Sympathie für sie:

„Die bildlose, geistige, den Griechen rational erscheinende Gottesverehrung der Juden weckte gerade in der hellenischen Frühzeit das positive Interesse einiger griechischer Schriftsteller an den Juden, die man als eine besondere Art barbarischer „Philosophen“ betrachtete. In steigendem Maß negativ wirkte dagegen der exclusive Wahrheitsanspruch der jüdischen Religion und die durch rituelle Gesetzesbestimmungen geforderte Absonderung der Juden von ihrer nichtjüdischen Umgebung. Hier entstand allmählich die Abneigung der Heiden gegenüber den Juden – die keine Gleichheit der Menschheit anerkannten.“ (Martin Hengel, Judentum und Hellenismus)

Die Juden ertrugen nicht die Gleichmacherei der Hellenen, wandten sich ab vom Denken der Ungläubigen und entschieden sich für ihre Thora, in der Gott sie zu seinem Volk auserwählt hatte – in scharfer Gegenüberstellung zu den Ungläubigen.

Das war die Ur-Teilung der beiden Kulturen, die später die europäische Geistesgeschichte, zumeist im Streit, bestimmen sollten. Es gab aber nicht nur Streit und Verfolgung der Juden durch die Christen.

Im 19. Jahrhundert, als Napoleon die Gleichberechtigung der Juden von den besetzten deutschen Landen verlangte, begann die Annäherung beider Gruppen. Die deutschen Juden, die die Kultur der Dichter und Denker, der erfolgreichen Fabrikanten und Naturwissenschaftler immer mehr als die ihre betrachteten, Schillers Werke auswendig kannten, verachteten selbst jene Ost-Juden, die verächtliche Berufe hatten, kaum Deutsch kannten und längere Zeit benötigten, um sich zu assimilieren.

Die Annäherung begann mit Moses Mendelsohn und seinen Schülern – den jüdischen Aufklärern –, die sich vor allen an Kant orientierten. Die Salons kluger Jüdinnen wurden zum gesellschaftlichen Mittelpunkt Berlins, wo sich die Gebildetsten trafen und nicht selten ein Leben lang zusammenblieben.

Die jüdischen Aufklärer waren nicht selten schärfere Kritiker ihrer Volksgenossen als diese selbst:

„In diesem Punkt wie in der Schärfe der stellenweise hasserfüllten antirabbinischen Attacken steht der Breslauer Maskil (Aufklärer) Hirschel nicht hinter den antijüdischen Tiraden Voltaires und anderer christlicher Zeitgenossen zurück. … Tatsächlich ist sein Büchlein die wildeste und unreflektierteste Suada gegen die Rabbiner aus einer jüdischen Feder, die wüsteste und beleidigendste Kampfschrift der Haskala (der jüdischen Aufklärung) wider die rabbinische Autorität.“ (Christoph Schulte, Die jüdische Aufklärung)

Im heutigen Streit zwischen Deutschen, Juden und israelischen Ultras werden jüdische Aufklärer als Schüler Mendelssohns fast vollständig negiert, Lessings Werk „Nathan der Weise“ ist auf keiner Bühne zu sehen.

Der Hass der Deutschen gegen Juden – und umgekehrt – wäre längst nicht so gefährlich, wenn beide Seiten von ihrer Geschichte wüssten.

Wer nichts voneinander weiß, kann keine guten Gefühle entwickeln. Zwar sind die Deutschen noch immer Christen, doch von ihrem Glauben haben sie, abgesehen vom Färben der Ostereier (und das ist germanisches Erbe), keine Ahnung.

Der angeblich steigende Antisemitismus – in Wirklichkeit vor allem ein Hass gegen die politische und militärische Inhumanität der Ultraregierung – wäre keine Gefahr, wenn bornierte Politiker und Schulbehörden nicht stets mit rüden Polizeimaßnahmen reagieren würden, sondern mit Bildung und Aufklärung. Auch die Medien sind vor allem an aggressiven Sensationsmeldungen interessiert.

Beileibe nicht alle Juden unterwarfen sich bei der Trennung vom Hellenismus der Selbstgerechtigkeit ihrer strengen Rabbinen. Paulus war ein hochgebildeter Kenner beider Kulturen und bearbeitete sorgfältig ihre Unterschiede und Ähnlichkeiten.

Philon war ein Verehrer Platons und schrieb dessen Weisheit dem Einfluss des Mose zu. Hillels Ethik war geradezu identisch mit der stoischen:

„Was dir nicht lieb ist, das tue auch deinem Nächsten nicht; das ist die ganze Gesetzeslehre, alles Andere ist nur die Erläuterung, gehe und lerne sie.“

Hier gab es mannigfache Überlappungen eines vernünftig gewordenen Judentums mit der Weisheit der Hellenen.

Im Mittelalter wurden Ähnlichkeiten zurückgedrängt. Erst ab der Renaissance kooperierten wieder die sprachlichen und philosophischen Interessen beider Seiten.

In der Epoche der Aufklärung sorgten wache Berliner Juden und Schüler des Moses Mendelsohn für die Öffnung aller Schleusen.

Wer das Büchlein über die jüdische Aufklärung von Christoph Schulte liest, dem gehen die Augen über, wenn er das damalige Geschehen mit dem heutigen Chaos vergleicht.

Die besten Beiträge zur Deutung der Gegenwart kommen von israelischen Humanisten wie Avraham Burg, Uri Avnery – einem ehemaligen Schulfreund Augsteins –, Moshe Zimmermann und Moshe Zuckermann, Abraham Melzer, Yakov M. Rabkin, Amira Hass, Gideon Levy, Elisabeth Langer und vielen vielen anderen. Von deutschen Medien werden sie fast nicht wahrgenommen, deutsche Talkrunden haben keinen Platz für sie.

Ihre Gegner in Deutschland sind vor Hass erblindet. Melzer schreibt über sie:

„Broder und andere Extremisten dürfen alle Bühnen benutzen. Wir aber werden von solchen Leuten diffamiert und verleugnet – und die Gerichte und die Öffentlichkeit, die uns schützen sollten, versagen. Wie kann es sein, dass ein Richter in Deutschland einem Hetzer und Verleumder wie Broder erlaubt, mich und den Holocaust-Überlebenden Hajo Meyer allen Ernstes in die Nähe von Adolf Hitler zu rücken. Wie ist es möglich, dass eine Charlotte Knobloch (die Starjüdin der Münchner Schickeria) öffentlich behaupten darf, ich sei ein „berüchtigter Antisemit“, ohne dass Presse und Öffentlichkeit dagegen protestieren? Eine kleine aggressive, skrupellose und unverschämte Minderheit nutzt die in unserem Grundgesetz garantierte Meinungsfreiheit, um anderen genau diese Meinungsfreiheit abzusprechen – und die Mehrheit schweigt dazu. Das darf nicht sein.“ (Melzer, die Antisemitenmacher)

Wer sich je in dieser Wildnis der jüngsten Vergangenheit verirrt hat, wundert sich nicht mehr über das Chaos der Gegenwart, in der Netanjahu und seine Propagandisten nach Belieben herumwüten können.

Dass die deutsche Regierung die Völkerverbrechen Netanjahus unter dem Siegel: „Holocaust, und Nie wieder“, verleugnen, um sich gleichzeitig auf die Menschenrechte der UNO-Charta zu beziehen, müsste die Deutschen in Scham versinken lassen.

Deutschland ist zur Mülltonne der Aufklärung geworden. „Wohlstand“ ist der einzige Begriff, den sie ausspucken können.

Anstatt sich zu überlegen, woher der deutsche Schlamassel kommt und die Tradition der Dichter und Denker gnadenlos zu zerlegen, streiten sie um den DFB: darf er oder darf er nicht ausländische Finanzen anzapfen oder nicht?

Wie Luther der Rechtfertiger des Glaubens allein aus Gnade wurde, so wurde Hegel der Rechtfertiger des Bösen allein aus dialektischen Gründen. Bei ihm ist nur positiv, was negativ sein kann und was der Schwabe den „Ernst, den Schmerz, die Geduld und Arbeit des Negativen nennt. Die negative Rolle des politischen Lebens ist in der Tatsache des Krieges enthalten. Den Krieg abzuschaffen oder zu begrenzen wäre der tödliche Schlag für das politische Leben. Es ist bloße Utopie, zu denken, dass die Konflikte zwischen Nationen jemals durch gesetzliche Mittel beigelegt werden könnten – durch internationale Schiedsgerichte.

Von seiner frühen Jugend an hatte Hegel alle „humanitären“ Ideale verworfen. Er erklärte die „allgemeine Menschenliebe“ für nichts als eine „törichte Erfindung“. „So eine Liebe, die kein wirkliches, konkretes Objekt hat, ist seicht und unnatürlich.“ Anders als Novalis ist Hegel nicht an der Schönheit des Staates interessiert, sondern an seiner „Wahrheit“. Nach ihm ist diese Wahrheit keine moralische; sie ist eher die „Wahrheit, die in der Macht liegt“. Die Menschen sind so närrisch, … in ihrem Enthusiasmus für Gewissensfreiheit und politische Freiheit die Wahrheit zu vergessen, die in der Macht liegt.“ (in Ernst Cassirer, Die Kunst des Staates“)

Bleibt nur noch das harmlose Schlusswort: „Diese Worte, geschrieben vor etwa 150 Jahren, im Jahre 1801, enthalten das klarste und unbarmherzigste Programm des Fascismus, das jemals durch irgendeinen politischen oder philosophischen Schriftsteller vorgetragen wurde. Große Taten sind von allen moralischen Forderungen ausgenommen. Ihre Taten mit unserem herkömmlichen Maßstab zu messen, wäre lächerlich. Die Größe eines Helden hat nichts zu tun mit sogenannten „Tugenden“. Da Größe Macht bedeutet, ist es offenkundig, dass Laster so groß ist wie Tugend. Eine abstrakte moralische Ansicht bringt jene „psychologische Interpretation der Geschichte hervor, die alle großen Taten und Helden zu verkleinern sucht, indem sie sie auf elende und niedrige psychologische Motive zurückführt: „Es ist die Ansicht der psychologischen Kammerdiener, für welche es keine Helden gibt, nicht weil diese keine Helden, sondern weil jene nur die Kammerdiener sind.“ Von einer solchen Interpretation der Geschichte spricht Hegel immer mit äußerster Verachtung.“ (ebenda)

Dank unserer amoralischen Verlage und ökonomischen Hayekianer können wir getrost sein: unsere nationalen Helden bleiben ungefährdet. Zwar sprechen sie feierlich von weltumspannenden Grund- und Völkerrechten. Doch sie denken nicht daran, diese in Weltpolitik umzusetzen.

Hegel bleibt für sie der radikale Denker der Dialektik, der, über Nietzsche, das Dritte Reich des Bösen erst möglich machte. Der anmutige Garten neben dem KZ, das Orchester der Insassen: das war keine himmelschreiende Bigotterie: das war eine jahrhundertealte bewährte Tradition des Landes der Dichter und Denker.

Fortsetzung folgt.