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Natur brüllt! LXVII

Tagesmail vom 22.03.2024

Natur brüllt! LXVII,

1 und 1 = wieviel?
a) exakt zwei?
b) knapp zwei?
c) annähernd 3?
d) irgendetwas zwischen 0 und unendlich?

Gibt es nur eine exakte Lösung – oder verschiedene Lösungen, weil es generell nicht nur eine Wahrheit gibt, sondern verschiedene Wahrheiten?

„Ab 1950 argumentierten Jacques Lacan und Michel Foucault, dass jede Epoche ein mehr oder weniger vollständig eigenes System des Wissens besitze. Viele Post-Strukturalisten teilen die Ansicht, dass jede Fragestellung nur in ihrem eigenen kulturellen und sozialen Kontext beantwortbar ist. Antworten lassen sich nicht in Bezug auf ewige Wahrheiten finden.“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Historizismus)

Das wäre die Lehre der Postmoderne: eindeutige Wahrheiten gibt es nicht. Wahrheit ist nicht objektiv, sondern subjektiv: wie es dem Einzelnen erscheint, so ist es. So viele Menschen es gibt, so viele Wahrheiten gibt es.

Streitigkeiten mit dem Ziel, die einzig gültige Wahrheit zu finden und durchzusetzen, sind sinnlos. Die Postmoderne ist das genaue Gegenteil der antiken Philosophie, die mit Hilfe der Vernunft die Wahrheit sucht.

Diese Philosophie wurde als Aufklärung in Europa verbreitet und prägte lange Zeit das westeuropäische Denken – im ewigen Streit mit der Theologie, die in allen Aussagen antinomisch ist: Gott ist allmächtig, gütig und gnädig – Gott ist schwach, zornig und unerbittlich.

Beide Aussagen widersprechen sich – und bedingen sich dennoch in ihrem Widerspruch. Es gibt nicht nur eine Wahrheit, die alle unterschiedlichen Wahrheiten ad absurdum führt, es gibt so viele Wahrheiten wie Menschen.

Philosophen, die versuchen würden, ihre Wahrheit als die einzig wahre durchzusetzen, wären anmaßende Besserwisser, Despoten oder Faschisten. In einer Demokratie hätten sie nichts zu suchen.

Postmodernisten sprechen nicht von unterschiedlichen Denkschulen, sondern von Erzählungen. Für sie gibt es nur drei große Metaerzählungen: Aufklärung, Idealismus und Historismus. „Folglich kann es auch kein Projekt der Moderne mehr geben, keine große Idee von Freiheit und Sozialismus, der allgemeine Geltung zu verschaffen ist und der sich alles gesellschaftliche Handeln unterzuordnen hat.“

Die heutigen Politiker haben aufgehört, über ihre Programme mit Argumenten zu streiten. Ihre Zusammenarbeit ist ein einziger Kompromiss, der nicht mehr zu erkennen gibt, welche Partei in welchen Punkten nachgegeben hat. Debatten über Theorien waren für Angela Merkel ein Grauen.

Die endlose Zersplitterung der Wahrheit in viele Erzählungen wäre auch der Grund, warum es keine führende Idee von Freiheit oder Sozialismus geben könnte. Jeder Privatier, jeder Politiker muss mit seiner subjektiven Wahrheit hausieren gehen.

Es wäre der Tod der Demokratie, wenn viele Meinungen sich auf der Grundlage einer zu suchenden Wahrheit die dialogische Mühe der öffentlichen Auseinandersetzung machen müssten. Derjenige gewinnt den Streit, der die besten Argumente hätte. Das Volk in öffentlichen Abstimmungen müsste bestimmen, wer die besten Argumente hat.

Jede Demokratie will das beste Leben auf Erden herausfinden: das allgemeine Wohl oder das Glück für alle. Eine Klassengesellschaft mit unvereinbaren Glücksvorstellungen dürfte es nicht geben, in einer vitalen Demokratie kann es nur gleichberechtigte Mitglieder geben.

Glück ist nicht identisch mit äußerem Wohlstand, Fortschritt oder Macht über Natur und Menschen.

Demokratisches Glück ist selbstgenügsam. Wenn ich besitze, was ich zum Überleben brauche, wenn alle anderen Menschen dasselbe haben und sich gut verstehen, brauche ich nichts weiter.

Die Formel: macht euch die Erde untertan, gilt hier nicht. Die Natur wird als großzügige Geberin all dessen geliebt und bewundert, was wir zu einem selbstgenügsamen Leben benötigen. Einen Drang zum Anhäufen von Geld und Macht, um sich als Sieger eines ewigen Wettbewerbs feiern zu lassen, ist ausgeschlossen. Alle Menschen sind gleich und sollen sich als gleichberechtigte anerkennen.

Die athenische Demokratie war bislang der mutigste Versuch, eine Demokratie ins Leben zu rufen. Am Anfang sah es verheißungsvoll aus, doch bald zerrissen widersprüchliche Denkarten und Klassenparolen jede Form einer allgemeinen Verständigung. Zudem wurden auch außenpolitische Fehler gemacht und bald standen die Römer vor den Stadttoren und nahmen Athen unter Kontrolle.

Rom übernahm viele humane Denkarten der Philosophie, ihre frühen demokratischen Elemente hatten sie längst abgelegt. Vollends das aufkommende Christentum führte die Theokratie ein mit dem unfehlbaren Papst an der Spitze Europas.

Erst ab der Renaissance verstärkte sich das Wiederaufleben urgriechischer Ideen und Politvorstellungen. In England, Frankreich und Amerika bildeten sich demokratische Strukturen auf der Grundlage der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.

Die Allgemeinheit der einen Wahrheit, die die Menschen verbindet, wurde zur Basis der strengen Logik, die das Besserwissen nicht verschmähte, sondern als vorbildlich und gemeinschaftsbildend heraushob.

Die eine, zu suchende Wahrheit wurde zur Grundlage der einen Nation – später aller Völker, die ein Weltparlament gründeten und ihre Streitigkeiten per logischer Argumente und mehrheitlicher Abstimmung zu lösen versuchten. Das ging, nach dem Ende des 2. Weltkriegs, ein halbes Jahrhundert lang gut.

Seit dem Aufkommen der Klimakrise und mannigfacher Streitigkeiten um den Vorrang der eigenen Macht verblassen wieder die demokratischen Fähigkeiten der Weltvölker. Ein Rechtsruck ist der Rückfall einer Nation ins Autoritäre und Undemokratische.

„Mit dem Begriff Postmoderne, um 1870 erstmals verwendet, wurde von verschiedenen Autoren versucht, sehr heterogene gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungen zu fassen und teilweise auch zu bewerten.“

Die eine Wahrheit, die eine Vernunft, die eine Vorstellung vom gemeinsamen Glück aller Menschen wurde in die kleinsten Teile gespalten. Verständigungsmöglichkeiten mittels anerkannter Argumente gehen verloren. Die führenden westlichen Staaten werden immer mehr von den bislang unterentwickelten Ländern eingeholt, was für zusätzliche Konflikte sorgt.

Auf der einen Seite die Furcht vor dem Untergang der Natur, auf der anderen die Chance, sich mit neuen furchtbaren Waffen an die Spitze der Menschheit zu setzen, verschärft jeden internationalen Konflikt.

Putin fürchtet, dass sein geschrumpftes Riesenreich – im Streit mit dem Westen – hoffnungslos untergehen wird, weshalb er alles unternimmt, um prophylaktische Siege zu erringen.

Die Zerrissenheit zwischen drohender Bedeutungslosigkeit und dem letzten Aufbäumen, ist charakteristisch für die Gegenwart.

Was ist Postmoderne?

„Absage an den seit der Aufklärung betonten Primat der Vernunft (ratio),

Verlust des autonomen Subjekts als rational agierende Einheit,

Ablehnung oder kritische Betrachtung eines universalen Wahrheitsanspruchs im Bereich philosophischer und religiöser Auffassungen,

Verlust von Solidarität, traditionellen Bindungen und eines allgemeinen Gemeinschaftsgefühls,

Toleranz, Freiheit und radikale Pluralität in Gesellschaft, Kunst und Kultur … etc.“
(https://de.wikipedia.org/wiki/Postmoderne#Politische_Kritik)

Womit wir wüssten, warum die Welt auseinanderdriftet: die gemeinsame Denkgrundlage, der Glaube an eine allgemeine Vernunft und Wahrheit, die man sich zusammen erarbeiten kann, droht verloren zu gehen. Es gibt keine Argumente mehr, die alle potentiell für richtig hielten.

Subjektive Erzählungen sind unfähig, andere Subjektivitäten mit allgemein-gültigen Wahrheiten zu überzeugen – zu denen auch die strenge Logik der Alten gehört. Eins und eins waren bei ihnen zwei – und sonst nichts. Punktum.

Die gedankliche Zerrissenheit der Menschheit führt zur politischen Zerrissenheit, die politische Zerrissenheit zur Zerrissenheit der Mutter Erde. Der Bestand der Menschheit ist in Gefahr. Denn die Natur, die sie bislang ernährt hat, verliert ihre Fähigkeit, die Völker ausreichend zu ernähren.

Und nun droht auch noch die strenge Naturwissenschaft, die bislang mit einem objektiven Denken den Bestand der Menschheit unterstützen konnte, mit unscharfen Kategorien das letzte feste Fundament – die Einheit der Logik – zu zerstören.

Bis zu Einstein galt ein gemeinsames logisches Denken als Grundlage jeder neuen wissenschaftlichen Einsicht. Ab Heisenberg wurde diese Grundlage zerstört. Bis heute.

Einstein lehnte Heisenbergs „Unschärferelation“ kategorisch ab. Berühmt wurde sein Ausspruch: „Gott würfelt nicht“. Zufälle kann es im deterministischen Bereich der Natur nicht geben.

Doch Heisenberg ließ sich nicht überrumpeln und ist bis heute unwiderlegt geblieben. Weshalb zwei Wissenschaftsansichten bis heute unüberwindlich gegenüberstehen: die logische Einheit – und die logische Mannigfaltigkeit.

Die Wissenschaftler einigten sich auf die Formel: im Bereich des unendlich Kleinen herrscht die Unschärferelation mit bloßen Wahrscheinlichkeiten, im Bereich der uns bekannten Alltagswelt herrscht weiterhin: eins und eins ist zwei – und sonst nichts.

Der unlösbare Konflikt der zwei Theorien führte zur Erfindung der Chaostheorie.

Ein Chaostheoretiker äußert sich im SPIEGEL zur Klimadebatte; er widerspricht den „Verzichtspolitikern“, die das Elend nicht anders kurieren wollen als durch Verzicht:

„SPIEGEL: Sie schreiben auch, dass der Gedanke des Weniger, des Verzichts und der Askese falsch sei. Waren alle Bemühungen der Leute weniger zu fliegen und mehr Fahrrad zu fahren also umsonst?
Levermann: Nein, gar nicht. Ich finde es toll, wenn Einzelne verzichten, bewusster einkaufen, leben, essen oder reisen. Leider bringt uns Verzicht nicht auf null Emissionen runter. Klimaneutral werden wir nur mit einem echten Strukturwandel. Auch hier sind die Bürgerinnen und Bürger gefragt, der Politik und Wirtschaft Druck zu machen und nicht auf die Nebelbomben von Lobbyisten und Populisten hereinzufallen.“ (SPIEGEL.de)

Sind Levermanns Faltungsthesen einleuchtend oder sind sie verschwurbelte Zwangseinheiten aus Weiterso und Ganzanders?

Hier muss sich jeder selbst eine Meinung bilden! Hat Levermann versucht, die Synthese aus strenger Logik und Chaostheorie zu bilden?

Susanne Götze, die Interviewerin, hat einen zusätzlichen Artikel zur Klimakrise geschrieben. Darin suchen wir vergeblich einen Hinweis auf Levermann. Sie selbst glaubt: alles wird weitergehen wie bisher:

„Es wird einfach weitergehen, doch Armut, Prekarität und Elend werden zunehmen. Der soziale Druck wird steigen, das Haus weiter brennen und auch Menschen darin sterben. Doch drumherum wird es noch genügend geben, die diese neue Realität als Normalität annehmen. So lange, bis es sie selbst trifft. Wollen wir wirklich so leben? Es ist nicht egal, dass Menschen ihre Äcker nicht mehr bestellen können, ihr Hab und Gut von reißenden Fluten mitgerissen werden oder sie vorzeitig am Hitzeschlag sterben. Daran sollte sich niemand gewöhnen, genauso wenig wie an Krieg oder an hungernde Kinder. Ich bin nicht bereit, mich in dieser neuen Normalität einzurichten. Das Buch schreibe ich trotzdem, egal wie viele Leser es interessiert oder wie viele Likes ich damit generiere. Und dann fahre ich wieder durchs Land. Zu den Menschen, die sich jeden Tag für den Klimaschutz einsetzen – und sich nicht mit dem Status quo abfinden wollen.“ (SPIEGEL.de)

Ratlose Schlussfrage: Wie kann der Kapitalismus weitermachen – wenn alles untergehen wird? Gehen wir in eine Zukunft, in der 1 und 1 nicht mehr zwei sein wird?

Das wäre das Ende der Menschheit.

Fortsetzung folgt.