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Natur brüllt! LXVI

Tagesmail vom 18.03.2024

Natur brüllt! LXVI,

Was ist die gedankliche Generalursache allen menschlichen Versagens?

Die Unfähigkeit, sich weltweit auf ein gemeinsames politisches Ziel zu verständigen.

Wer kein klares Ziel im Auge hatte, kann nicht angeben, wo, wann und wie weit er vom Wege abkam.

In den Naturwissenschaften ist es eindeutig: nur die strenge Norm bewertet die Versuche des Menschen, beispielsweise eine exakte und stabile Brücke zu bauen. Nicht der subjektive Augenschein, sondern das objektive Metermaß entscheidet, ob der Bau der Brücke dem präzisen Plan entspricht.

Norm entscheidet über Empirie, Ideal über Realität, perfekte Vorlage über die Praxis, den Entwurf in die Wirklichkeit zu übertragen.

Wer sich am Bau einer Mondrakete beteiligt, wird nicht auf die Idee kommen, alle sorgfältig berechneten Pläne vom Tisch zu wischen mit der wütenden Begründung: ich lasse mir doch von schwärmerischen Idealen nicht meine Freiheit nehmen; ich will machen, was ich will.

So sprechen nur Wirrköpfe, die alle Ideen für unfähig erklären, zur empirischen Realität zu werden. Platons Ideen können nie vollständig zur irdischen Realität werden. Zumeist bleibt das Ideale unerreichbar, die Menschen müssen sich mit der irdischen Welt begnügen. Eine Einheit von überirdischer Perfektion und irdischer Unvollkommenheit gibt es nicht. Als Platon einen perfekten Staat wollte, verfiel er dem Faschismus der Zwangsbeglückung.

Das ist die Kluft zwischen exakten Naturwissenschaften und Na-ja-Geisteswissenschaften oder praktischer Politik. Vorausgesetzt, Politik will eine praktische Idee realisieren.

Quantitative Präzision ist für die ersteren keine Einschränkung der Freiheit, sondern exakte Entsprechung zur – Erkenntnis. Erkenntnisse sind immer ideal, denn sie sind Teile der Natur.

Platon erfand eine Vorform der Zweiweltentheorie: beide Welten waren nur zum Teil mit sich vereinbar. Das hatte Platon am Vorbild seines geliebten Lehrers Sokrates erlebt.

Dies im Gegensatz zur Zweiweltentheorie des Christentums, in der Jenseits und Diesseits grundsätzlich auseinanderklaffen.

Andere griechische Philosophen wie Aristoteles waren hingegen von der Vollkommenheit des Kosmos überzeugt. Gründliche Denker hatten die Chance einer Annäherung an die Vollkommenheit bejaht.

Warum spalteten einige Völker die Welt in zwei Welten – und rätselten, welche von ihnen die bessere war: das einzigartige und harmonische Universum, oder die zwei gespaltenen Welten für zwei Populationen: eine für die Vollkommenen und Mächtigen, die andere für die armseligen Geschöpfe.

Wären die Irdischen mit ihrem Leben auf Erden glücklich gewesen, hätten sie sich eine vollkommene überirdische Welt ersparen können. Wer zufrieden ist mit seiner Existenz, sucht nicht nach anderen und besseren Existenzen.

Gleichwohl aber hatten sie sich mit ihrer subjektiven Welt schon so weit von der objektiven entfernt, dass sie dringend eine neue Welt benötigten, um die Mängel ihrer eigenen zu beseitigen.

In der neuen Überwelt platzierten sie einen Schöpfer, um die verkommene oder sündige Menschenwelt von ihm erlösen zu lassen. Der gute Schöpfer wurde komplettiert von einem bösen Gegenspieler, der jedoch nicht die Fähigkeit hatte, dem allmächtigen Gott Paroli zu bieten.

Zwar konnte er alles schikanieren, was perfekt schien, doch das änderte nichts daran, dass er als böser Teufel der Knecht seines perfekten Gottes blieb.

Das wiederum führte zu einer Dreiweltentheorie: zur Natur, dem perfekten Himmel und einer unentrinnbaren Hölle, in der die Bösewichter ewig schmachteten. Dieser Teufel als Diener Gottes war ein Bösewicht, der das Gute stets mit seinem Bösen vorantrieb.

Der allmächtige Schöpfer wurde zur Kompensation nichtswürdiger Naturgeschöpfe, die von ihrem Traum, selbst allmächtig zu sein, nicht lassen konnten.

Wer nicht autonom ist, bedarf gewisser Schöpfungslegenden, die seine Unvollkommenheiten mit wunderbaren Fähigkeiten ausgleichen konnten.

Die sündigen Völker weißer Gottesanbeter wurden zu strahlenden Herren der Weltgeschichte, indem sie sich als Anbeter einer vollkommenen Religion darstellten.

Die Heilszeit wurde zur Konkurrenzgeschichte auserwählter und gläubiger Völker oder einzelner Erlöster, die ihre Überlegenheit über alle Mitgeschöpfe am Ende der Geschichte offenlegen würden. Bis dahin wurde mit prophetischen und apokalyptischen Endqualitäten geblufft.

Die Macht ihrer Götter wurde von den Griechen zu Märchen und Mythen degradiert, die in der realen Welt nichts mehr zu suchen hatten. An ihre Stelle sollten Menschen treten, die ihr Schicksal selbst in die Hände nahmen.

Die politische Autonomie der Heiden rivalisierte seit dem Aufstieg Athens mit der Heteronomie auserwählter Gotteskinder.

Gegensätzlicher konnten die politischen Imperative der Völker nicht sein. Und dennoch vermengen sie sich seit Beginn des christlichen Europa zu unentwirrbaren Klumpenbildungen, die mit ihrer angeblichen Symbiose paradieren, aber bei jedem internationalen Konflikt die Unverträglichkeit von Selbst- und Fremdbestimmung aufdecken..

Jede Offenbarung übermächtiger Götter ist eine Degradierung autonomer Kräfte des Menschen. Anstatt selbst zu überdenken, welche Schuld die Völker tragen, flehen die Frommen zu ihrem Himmel, der ihnen die Kraft geben soll, die irdischen Konflikte zu beheben. Nicht durch Bemühungen ihrer Vernunft, sondern durch Himmelseitelkeiten: Wir sind Kinder Gottes, Söhne des Himmels, unsere Feinde sind Kinder des Satans, die eine gewisse Zeit den Tumult unter den Völkern aufstacheln können, aber nicht die logischen Fähigkeiten, bestimmte Widersprüche gedanklich zu entlarven, um viele Völker an einen Tisch zu bringen und die mangelhafte Logik ihrer Weltkonflikte aufzudecken.

Wer der Meinung ist wie die amerikanischen Frommen oder die Ultras in Israel, sie allein werden den Sieg über ihre ungläubigen Feinde davontragen, der hat keine logischen Argumente, um die Ungläubigen am Konferenztisch umzustimmen.

Auch Putin gehört zu den messianischen Gläubigen, die nur noch eine Chance zur Rettung der Menschheit sehen: entweder gewinnt er mit seinem heiligen Russland – oder die Welt muss in toto untergehen.

Der Osthistoriker Schlögel kennt die religiöse Sprache der Auserwählung nicht, formuliert aber areligiös-präzis:

„Putins Lösung ist: Nach mir die Sintflut.“ (SPIEGEL.de)

Nicht anders denken Trump, Netanjahu und ihre frommen Hilfstruppen: entweder sie oder niemand. Die Geschichte wird reguliert im Über- oder Unterirdischen, nicht aber im Rampenlicht der politischen Vernunft. Argumente gibt es hier keine, nur die Sprache ferngesteuerter Drohnen und angedrohter Atombomben; es ist die Brutal-Sprache gottbesessener Überheblichkeit.

Die christlichen Reichen in der Welt brennen die Welt nieder – wie Christian Stöcker in seinem neuen Buch beschrieb. Christliche Politiker sind verschlossen gegen jede Friedenspolitik. Christliche Wissenschaftler heizen den Fortschritt an, um die ausgelaugte Natur endgültig zur Strecke zu bringen.

Jede Offenbarung göttlicher Weisheit ist ein Vernichtungsschlag gegen die Natur oder die Vernunft des Menschen. Der Mensch ist ein Teil der Natur, nicht einer dubiosen Übernatur.

Von Oben muss man importieren, was man selbst nicht produzieren kann.

Machiavelli war der erste europäische Analytiker der christlichen Machtlehre – die zur Grundlage der lutherischen Reformation werden sollte:

„Jedermann sei untertan der Obrigkeit[1], die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit außer von Gott; wo aber Obrigkeit ist, ist sie von Gott angeordnet. 2 Darum: Wer sich der Obrigkeit widersetzt, der widerstrebt Gottes Anordnung; die ihr aber widerstreben, werden ihr Urteil empfangen. Seid niemandem etwas schuldig, außer dass ihr euch untereinander liebt; denn wer den andern liebt, der hat das Gesetz erfüllt. 9 Denn was da gesagt ist: »Du sollst nicht ehebrechen; du sollst nicht töten; du sollst nicht stehlen; du sollst nicht begehren«, und was da sonst an Geboten ist, das wird in diesem Wort zusammengefasst: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.« 10 Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. So ist nun die Liebe des Gesetzes Erfüllung.“

Das war die Totalvernichtung der menschlichen Vernunft und des guten menschlichen Willens. Wenn nur Liebe die Erfüllung des göttlichen Gesetzes ist, muss man jeden guten Willen verwerfen. Er entspringt einer verderbten und sündigen Einstellung, aber keiner göttlichen Ermächtigung zum Frieden.

Das Christentum enthält keinen Aufruf zur autonomen Politik, sondern nur die Forderung, seinen Kopf auf dem Altar des Herrn zu opfern und all Seinen ultimativen Forderungen nachzugeben: Schluss mit den Eigenmächtigkeiten der Sünder.

Nur die von Gott eingesetzten Obrigkeiten entscheiden über das Schicksal der Welt. Mit Demokratie haben sie nichts zu tun. Wenn die Merkelnation ein ganzes Jahr lang ihren Reformator feiert, hat sie nicht die blasseste Ahnung, was eine autonome Friedenspolitik ist.

Deutschland ist nur auf dem Papier demokratisch, in Wirklichkeit unterwirft sich das Land einer Obrigkeit, die nur einer überirdischen Unfehlbarkeit gehorcht: wir haben es mit einem theologischen Faschismus zu tun.

Merkels bedingungslose Loyalität gegenüber Israel war kein Vernunftakt, sonst hätte sie fein säuberlich erklären müssen, was dieses Motto bedeutet: gilt diese Loyalität auch dann, wenn das Land internationales Völkerrecht bricht?

Ist es etwa deutsche Pflicht, Israels Verbrechen gegen internationales Recht blindlings zu unterstützen? Und dies mit Bezug auf den Holocaust, der ein unvergleichlicher Akt sein soll? Nur das Heilige ist unvergleichlich, alles Irdische ist vergleichbar und verstehbar.

Was man nicht vergleichen kann, kann man auch nicht bewerten. Was man nicht bewerten kann – ist ein Glaubensakt, aber kein rationales Argument.

Wir befinden uns im Revier der Geisteswissenschaften oder der Philosophie, wo ideelle Zielvorstellungen das politische Geschehen bestimmen. Die Richtigkeit einer solchen Politik wird nicht durch subjektives Vergleichen erreicht. Sondern durch messerscharfe Dialoge auf den Marktplätzen der Welt.

Die Deutschen sind dieser Logik eines politischen Verfahrens nicht gewachsen.

Als Kinder haben sie die reine Moral eingebläut bekommen. Dann rutschten sie von Jahr zu Jahr in die Bigotterie der Erwachsenen, die keine Probleme haben, die Politmoral der Völker zu feiern – aber kurz danach jedes Moralisieren verächtlich zu machen.

Hier versinken sie wieder im hegelianischen Sumpf, wo sie gelernt haben: „Das Prinzip der Moral bei den Griechen wurde der Anfang des Verderbens.“ Nein, sie wollen nie mehr „Kammerdiener der Moral“ sein, um sich vor der Welt mit Bigotterie zu beschmutzen.

Was ist das rationale Grundübel allen menschlichen Versagens in der Welt?

In vielen Jahrhunderten haben sich die Völker auf die besten humanen Imperative in der Politik geeinigt. Doch immer, wenn’s ernst wird, beginnen sie ordinär zu schreien: diese Normen sind zu hoch, sie sind nicht die unseren, niemand kann sie erfüllen.

Lernen wir von Machiavelli, die Normen zu reduzieren, damit wir uns nicht völlig blamieren. Lieber weniger ideal – und das erreichen wir – als völlig perfekt und wir stehen da wie dumme Sünder.

Oh doch, solche Klugheiten können im Leben sinnvoll sein – wenn sie bewusst durchgeführt und selbstkritisch bewertet werden. Wir sind nicht perfekt und partout nicht in der Lage, einer perfekten Moral zu folgen.

Deshalb müssen wir uns zusammensetzen und die Frage stellen: Was wollen wir? Was können wir? Lieber ein geringeres Ziel, aber mit authentischer und selbstkritischer Kraft angepackt, als ein perfektes Ziel, an dem wir wegen Inkompetenz scheitern müssen.

Auf keinen Fall sollten wir tun, als folgten wir idealen Zielen, täten aber das genaue Gegenteil.

Wir müssen zusammen lernen. Lernen ist ein allmählicher Vorgang – kein abrupter Sprung ins Vollkommene. Nur das ferne Ziel muss vollkommen sein, dann können wir es aufspalten in viele Schritte, die wir nach und nach in politische Realität verwandeln.

Etwas tun wollen, das ideal klingt, das wir aber niemals beherrschen; das wäre Heuchelei in Perfektion – oder westlicher Imperialismus.

Was müssten wir tun?

In Völkerkonferenzen herausfinden, welchen rhetorischen Müll wir permanent produzieren.

Sodann einen Fahrplan entwickeln, der uns zeigt, wo wir stehen und wohin wir wollen.

In selbstbewusster und selbstkritischer Klarheit.

Fortsetzung folgt.