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Natur brüllt! LXIV

Tagesmail vom 11.03.2024

Natur brüllt! LXIV,

„Noch Ludwig XV. hatte im Siebenjährigen Krieg das Angebot einer Erfindung abgelehnt, mit der er die englische Flotte hätte vernichten können, da er erkannte, dass sich diese Waffe auch gegen andere Völker und schließlich auch gegen sein eigenes Volk richten konnte, und da er die Schrecken des Krieges nicht noch vermehren wollte.“

Doch der Fortschritt ist unbezwinglich.

Der amerikanische Präsident, ein vorbildlicher Demokrat, „erwog jedoch niemals die Möglichkeit, diese Waffe nicht einzusetzen und folgte, wie seine Regierung, allein dem Ziel, »als erster eine Atomwaffe zu produzieren und von ihr Gebrauch zu machen.«“

Sein Kriegsminister Stimson, als er Roosevelts Nachfolger Truman in das Geheimnis der „schrecklichsten Waffe der ganzen Menschheitsgeschichte“ einweihte, wusste, dass die moderne Welt „solch einer Waffe auf Gnade und Ungnade ausgeliefert“ und durch sie „von Grund auf zerstört werden könnte.“ Er sah in der neuen Waffe nicht nur das „Mittel, den Krieg zu beenden“, sondern auch durch ihre Drohung, künftig „Geschichte zu machen“, die „Trumpfkarte“ seines Landes, zumal in dessen vorauszusehendem Machtkampf mit Russland. Die neue Kernenergie sollte man nicht nur als Kriegsmittel betrachten, sondern als „neue Beziehung des Menschen zum Universum“, die zur Vollendung, aber auch zur Vernichtung der Zivilisation führen könnte.“

Ohne besondere Warnung wurde sie dann zum Einsatz gebracht.

Beim ersten Versuch, sie zur Explosion zu bringen, hielt Oppenheimer es durchaus für möglich, dass die ganze Erde zerstört werden könnte. Er rezitierte einen heiligen Vers aus der indischen Mythologie – und drückte auf den Knopf.

So funktioniert Fortschritt immer – im Einklang mit dem Heiligen.

Neben Oppenheimer beobachtete General Farrel die Versuchsexplosion. Er betrachtete das schreckliche Spektakel als „Warnung des Jüngsten Gerichts“, „die uns fühlen ließ, dass wir winzigen Wesen uns in blasphemischer Weise erdreisteten, in Kräften herumzupfuschen, die bisher im Bann des Allmächtigen standen.“

Auch Churchills apokalyptische Formel für diese neue Waffe – „die zweite Sintflut“ –begrüßte ihre totale Vernichtungskraft.“
(alle Zitate in „Die Wissenschaft und die Gefährdete Welt“ von Friedrich Wagner)

Wir wissen nicht, wie der heutige Film über Oppenheimer diese existentielle Gefahr für die ganze Menschheit darstellt. Was wir aber wissen und erleben, ist der außerordentliche Glitzer & Glamour Hollywoods, mit dem Amerika seinen Weg in die Zukunft unbeirrt voranschreitet.

Hat der Mensch aus Hiroshima und Nagasaki dazugelernt? Ist er sich der suizidalen Vernichtungskraft der Bombe bewusst geworden? Erkennt er das Zerstörungspotential der Natur durch Wissenschaft und Technik? Ist er dabei, sein irdisches Leben grundsätzlich zu verändern?

Jimmy Kimmel beschrieb mit spöttischen Worten den hochgepriesenen Film, mit dem Sandra Hüller hätte ausgezeichnet werden können:

„Sandra spielt in »Anatomie eines Falls« eine Frau, die wegen Mordes an ihrem Ehemann vor Gericht steht, und in »The Zone of Interest« eine Nazihausfrau, die in der Nähe von Auschwitz lebt. Während dies für amerikanische Kinobesucher sehr schwere Themen sind, nennt man sie in Sandras Heimat Deutschland romantische Komödien.« Das Publikum stöhnte auf, Hüller lächelte gequält.“ (SPIEGEL.de)

Benutzte Kimmel etwa dieselben Worte umgekehrt für die Amerikaner: Oppenheimer, ein interessanter Film für die Welt aus der Geschichte der Naturwissenschaft, für uns Amerikaner aber ein schwer erträglicher Film wegen Gefährdung der Welt durch unseren Fortschrittswahn?

Die Zerstörung der Natur wird heute nur noch mit verdrehten Augen erwähnt. Viel wichtiger ist die potentielle Vernichtung unseres Wirtschaftswachstums durch unaufhaltsamen Fortschritt und wenn er noch so katastrophal daherkommt. Was sein muss, muss sein. Ohne Risiko läuft nichts.

Welche Idioten glauben, dass der Mensch allein durch unvergiftete Natur überleben könnte? Das Geheimnis des natürlichen Wachsens ist der Mensch mit seinen Laborkünsten – und seien sie noch so gefährlich.

Bereits vor über 200 Jahren beschrieb ein späterer Klassiker die aggressive Auseinandersetzung auf dem Marktplatz eines Dorfes zwischen einem Bergman und einem Bauer, der durch den Bergbau um seine Ernte fürchtete:

„Der Bauer schalt den Bergmann, dass er es wage, auf seinem Acker zu hantieren.

Jener kam nicht aus der Fassung, sondern fing an, den Landmann zu belehren, dass er (der Bergmann) recht habe, hier einzuschlagen und gab ihm dabei die ersten Begriffe vom Bergbau. Der Bauer, der die fremde Terminologie nicht verstand, tat allerlei alberne Fragen, worüber die Zuschauer, die sich klüger fühlten, ein herzliches Gelächter aufschlugen. Der Bergmann suchte ihn zu berichtigen und bewies ihm den Vorteil, der zuletzt auch auf ihn fließe, wenn die unterirdischen Schätze des Landes herausgewühlt würden. Der Bauer, der jenem zuerst mit Schlägen gedroht hatte, ließ sich nach und nach besänftigen, und sie schieden als gute Freunde voneinander: besonders aber zog sich der Bergmann auf die honorabelste Art aus diesem Streite.“ (Wilhelm Meisters Lehrjahre)

Ein kluger Schriftsteller wird sich doch nicht dem Fortschritt entgegenstellen wollen. Obgleich er kurz vor dem Streit den Verjüngungs- und Belebungswert der unberührten Natur erwähnt hatte:

„Er durchstrich langsam Täler und Berge mit der Empfindung des größten Vergnügens. Überhangende Felsen, rauschende Wasserbäche, bewachsene Wände, tiefe Gründe sah er hier zum erstenmal; und doch hatten seine frühesten Jugendträume schon in solchen Gegenden geschwebt. Er fühlte sich bei diesem Anblicke wieder verjüngt, alle erduldeten Schmerzen waren aus seiner Seele weggewaschen.“

Wenn die Menschheit, kollektiv belehrt durch eine unerwartete Offenbarung von Oben, plötzlich glasklar wüsste, dass sie, auf dem Niveau der Indigenen, noch immer überleben könnte, wenn sie nur die destruktiven technischen Eingriffe wegschüfe – würde sie es machen?

Machen wir uns nichts vor: vermutlich nicht. Womit aber mit absoluter Klarheit bewiesen wäre, dass der wissenschaftliche Erkenntnistrieb nichts anderes ist als ein hochaufgezäumter Selbstvernichtungstrieb.

Was schon daran zu erkennen ist, dass kein Fortschritt verknüpft ist mit Frieden und vergnügtem Leben des Menschen.

Keine Schule dürfte ihrer Jugend KI beibringen, die ihr nichts von Frieden und Zusammenarbeit erzählt hätte. Internationale Tests untersuchen die technischen Fortschrittsfähigkeiten der Heranwachsenden. Niemals hingegen die überlebensnotwendigen Fähigkeiten, symbiotisch mit der Natur zu überleben. Ist das kein Riesenskandal, Herr Schleicher?

In der SZ kann man einen eindrucksvollen Artikel über Friedenserziehung lesen:

„Friedenserziehung beginnt mit dem Ende der Gewaltverklärung. Friedenserziehung gelingt durch das Hinterfragen von Heldenbildern, durch Diskussionen über Zivilcourage. Friedenserziehung ist Bildung in der Kunst des Kompromisses. Sie ist Schule der Neugier, die dem Anderen begegnet, ohne gleich zu werten. Zur Friedenserziehung gehört es, Schüler in der Schule als Streitschlichter und Mediatoren einzusetzen. Zur Friedenserziehung gehört das Sprachenlernen und das gemeinsame Musizieren. Friedenserziehung ist Werteerziehung; sie kann stattfinden in Themenwochen, durch Patenschaften, beim gemeinsamen Kochen nach Rezepten verschiedener Länder. Das aber nicht als Ego-Shooter-Projekt, sondern als Gemeinschaftserfahrung; denn es gilt dabei zu lernen: auch der Andere, den ich eventuell gar nicht leiden kann, ist etwas und kann etwas.“ (Sueddeutsche.de)

Wer diese Worte ernst nimmt – und jeder sollte das tun, der müsste vor allen anderen Dingen – die deutsche Schule abschaffen. Denn sie eine Kloake des Unfriedens.

Statt zusammenarbeiten und sich befreunden mit Nachbarn und Fremden, gibt’s in deutschen Schulen nur das Martyrium des in allen Dingen Besserseinmüssens. Von der ersten Minute an bis zur allerletzten Prüfung, die darüber entscheidet, welche Chancen man in der beruflichen und sonstigen Karriere erworben hat.

In der Schule schließt man nur Freundschaft, wenn sie, nehmt alles in allem, eine höhere Gesellschaftsschicht darstellt als andere Schulen, in denen man Kinder trifft, die nicht mal „Messer und Gabel“ benutzen können, wenn sie essen wollen.

Man schließt Bündnisse mit seinen Klassenkameraden, mit Freundschaft hat das Ganze nichts zu tun. Die Gründe kennt jeder: in der Schule herrscht – wie in der ganzen Gesellschaft – Konkurrenz, Rivalität, Wettkampf. Wettstreit – aber kein offenherziges Vertrauen in andere.

Allerhöchstens eine zweckvolle, aber vorübergehende Zusammenarbeit mit Leuten, von denen man eines Tages zu profitieren hofft.

In der Schule soll Bildungsgerechtigkeit hergestellt werden. Weil man dort von sozialer Gerechtigkeit nichts hält – sie untergrübe nur die Wettbewerbsfähigkeit und gefährde den Wohlstand der ganzen Nation – will man die Menschen mit mühsam zu erwerbender Schul-Gerechtigkeit abspeisen. Jeder ist jedem ein Wolf, aber kein Freund, den man gerne sieht, weil man sinnvoll mit ihm kooperieren kann.

Warum ist die Linke gescheitert? Weil sie offenbar nicht mehr weiß, dass alle Tugenden der Gesellschaft an der Basis eingeübt werden müssen. Warum werden die Grünen immer mehr in den Abgrund gestoßen? Weil man unbeteiligt zusieht, wie Plätze und Straßen der Stadt immer mehr de-naturiert werden.

Es gab mal eine Friedenspädagogik, die Wert legte auf Neue Spiele, in denen man weder gewinnen noch verlieren konnte. Hört man noch davon?

Anstatt das Miteinander zu betonen, wächst auf allen Gebieten die bedingungslose Rivalität. In TV kann man die Quizshows kaum noch zählen. Lächerlich-absurde Fragen über Nichtigkeiten, niemals die kleinste Frage: wie man friedlich und kooperativ zusammenarbeiten kann?

In den Schulen die Volksseuche der allpräsenten unerbittlichen Konkurrenz.

Dann wundert man sich, warum die Regierungen kosmopolitisch versagen. Immer mehr wird der wirtschaftliche und militärische Krieg zum Muster internationaler Zerstörungs-Lösungen.

Der Neoliberalismus ist der Gipfelpunkt wahnsinniger Rivalität. Die Allerbesten von Milliarden sind drei Herren, die fast alles abräumen, um den Rest in den Dreck zu stoßen. Natürlich sind sie nur die Besten im listigen und hinterlistigen Übertreffen der Wettbewerber.

Die Würde des Menschen ist unantastbar, nur nicht die Würde der Wettbewerber, die schon lange nicht mehr wissen, was sie tun.

Wenn auf allen Gebieten die Rivalität steigt, wie kann man sich wundern, dass die Luft von Süd nach Nord und Ost nach West immer eisenhaltiger wird?

Echte Demokratien kennen sehr wohl den Wettbewerb, niemals aber einen Mechanismus, der angebliche Versager noch mehr ins Versagen stieße.

Typisch für eine kranke Gesellschaft die unerbittlichste Konkurrenz. Nur im fairen Wettbewerb der um die Wahrheit ringenden Genossen heulen sie, wenn ihre faulen Argumente nicht mehr ausreichen, um ihre angeblich besseren Erkenntnisse nachzuweisen.

Also werden die Letzten die Ersten sein und die Ersten die Letzten. Ergo ewiger Wettbewerb und niemals friedliches Zusammenarbeiten.

Weil, aus Konkurrenzgründen, niemals ein fairer Erster gekürt werden kann, gibt’s in frommen Gemeinden ein ewiges Gegeneinander im Schein des Miteinanders.

Grundlage ist der Wettbewerb um die wenigen Plätze im Himmelreich.

Denn die Pforte ist eng und der Weg ist schmal, der zum Leben führt, und wenige sind es, die ihn finden.

„Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, Frieden zu bringen auf die Erde. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert. 35 Denn ich bin gekommen, den Menschen zu entzweien mit seinem Vater und die Tochter mit ihrer Mutter und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter. 36 Und des Menschen Feinde werden seine eigenen Hausgenossen sein. 37 Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert; und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert. 38 Und wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und folgt mir nach, der ist meiner nicht wert. 39 Wer sein Leben findet, der wird’s verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen, der wird’s finden.“

Dieses Getümmel jeder gegen jeden ist das Spiegelbild irdischer Gesellschaften.

Fortsetzung folgt.