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Natur brüllt! LXI

Tagesmail vom 01.03.2024

Natur brüllt! LXI,

Wirre Gedanken für wirre Zeiten.

Putin droht – mit atomarem Auslöschen der Zivilisation.

Dann hätten wir unsere Ruhe.

Die Zivilisation erbricht sich. Was unten war, rülpst nach oben. Was schreckliche Ausnahme war – wird Normalität:

„Der Vorfall hat weltweit Bestürzung hervorgerufen. Besonders deutliche Worte kommen aus Frankreich: »Der Beschuss von Zivilisten durch das israelische Militär bei dem Versuch, an Lebensmittel zu gelangen, ist nicht zu rechtfertigen«, heißt es in einer am Donnerstagabend veröffentlichten Mitteilung des französischen Außenministeriums. In jedem Fall liegt es in der Verantwortung Israels, sich an die Regeln des Völkerrechts zu halten und die Verteilung humanitärer Hilfe an die Zivilbevölkerung zu schützen. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron schrieb in der Nacht zum Freitag auf X: »Ich bringe meine entschiedene Ablehnung gegenüber diesen Schüssen zum Ausdruck und fordere Wahrheit, Gerechtigkeit und die Einhaltung des Völkerrechts. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell sprach von einem »Blutbad«. »Ich bin entsetzt über die Nachrichten über ein weiteres Blutbad unter Zivilisten in Gaza, die verzweifelt humanitäre Hilfe brauchen«, schrieb er in der Nacht auf Freitag auf X. »Diese Todesfälle sind absolut inakzeptabel.«“ (SPIEGEL.de)

Noch unfassbarer: aus Deutschland keine Reaktion. Wahrheit, Gerechtigkeit und Völkerrecht: diese Begriffe gibt es nicht mehr bei uns. Sie sind abgestürzt.

Nichts schlimmer als Moral. Habeck, der Grüne, will „nicht bessere Menschen machen, sondern bessere Politik. … Wir wären doch Idioten, wenn wir die Freiheit, die wir verteidigen wollen, zerstören würden.“ (SPIEGEL.de)

Bessere Menschen machen ist Freiheit zerstören? Das ist das Dogma des Neoliberalismus. Müssen nicht erst Menschen besser werden, damit sie bessere Politik machen können?

Ist Freiheit Würgegriff der Moral? Ist Moral Inbegriff der Unfreiheit?

Was heute Neoliberalismus heißt, nannte man einst Naturrecht der Starken:

„Schon der jugendliche Alkibiades aus der Schule der Sophisten beweist seinem Vormund Perikles, dass die vom Volk erlassenen Gesetze genauso „Gewalt“ seien wie die Herrschaft eines Tyrannen. Später erklärt er in einer in Sparta gehaltenen Rede die Demokratie für einen “ausgemachten Unsinn“.“

Der Hass zwischen unten und oben erreichte einen solchen Grad, dass in manchen Städten die Oberen und Reichen zu schwören pflegten: „Ich will dem Feinde feindlich gesinnt sein und so viel ich kann, zu seinem Schaden beitragen.“

Das war in einer Zeit, als der Charaktertypus Trump längst bekannt war:

„Wenn aber ein Mann ersteht, der die genügende natürliche Kraft dazu hat, dann schüttelt er das alles ab, zerreißt seine Bande und tritt unser Buchstabenwerk und die sämtlichen naturwidrigen Gesetze und Bräuche mit Füßen, unser bisheriger Sklave tritt auf einmal vor uns hin und erweist sich als unser Herr, und da leuchtet in seinem Glanze das Recht der Natur. „Dann folgt die Berufung auf eine berühmte Pindarstelle vom Gesetz, dem König der Sterblichen und Unsterblichen, das „mit erhobenem Arm die gewaltsamste Tat rechtfertigend durchführt“.“

Was ist der Unterschied zwischen Putin und Trump?

Putin bezieht sich auf einen altrussischen Cäsaropapismus, Trump auf eine christliche Obrigkeit, die keine selbstbestimmten Gesetze der Menschen anerkennt.

Wenn der Westen durch die vereinigten Despoten der antiwestlichen Welt zerlegt wird, werden diese um die Vorherrschaft der ganzen Welt würfeln.

Auch die Verachtung der Moralisten gab es schon früher:

„Die Beschäftigung mit der Philosophie sei zwar für das jugendliche Alter eine nützliche Übung im Denken, für Politiker aber nicht nur unnütz, sondern gerade schädlich.“

„Das führte zur Unterscheidung zwischen dem beschaulichen und dem tätigen Leben. Kallikles forderte unverblümt das Recht des Stärkeren im Sinn hemmungsloser Zuchtlosigkeit, die Moralisten hingegen mit der Forderung nach Selbstzucht und Rechtlichkeit bezeichnete er als Toren und Schwächlinge. Denn diese Moral galt ihm als naturwidrige Konvention und wertloses Geschwätz.“

Sind wir wieder in uralte Zeiten zurückgekehrt?

Nein, das Christentum war es bestimmt nicht, was das Naturrecht der Starken schwächte und die Gesetze der Nächstenliebe zur Geltung brachte.

Augustin hatte rechtzeitig die Welt in zwei Teile gespalten: in das böse Reich des Teufels und das gute Reich Gottes. Christen waren Untertanen beider Reiche. Solange sie lebten, waren sie vor allem Diener des irdisch Bösen. Das himmlisch Gute diente nur – als Ausnahme – dem lebenslangen Erobern des Reiches Gottes.

Das Naturrecht der Schwachen klang diametral anders. Alkidamas wollte eine Verbindung der Politik mit der Philosophie: „Gesetz und Brauch sind die herkömmlichen Könige der Staaten.“ Philosophie ist ein kritisches Angriffswerk gegen – schlechte – Gesetze und Bräuche.

An diesem Punkt sind wir beileibe noch nicht angekommen, bei uns gilt selbständiges Denken nichts. Wir haben der Gesellschaftsmaschine und den Dogmen der Öffentlichkeit zu folgen.

Wer es wagt, zu widerstehen, hat nichts zu lachen. Siehe die Fälle Nawalny, Assange und viele andere. Auch die revoltierende Jugend FFF ist schon systematisch ausgebeint worden. Hat sie etwa die Gesellschaft durch ihre Aktionen für ihre Sache gewonnen? Als ob es ein geheimes Kalkül gäbe, mit dem man eine träge Gesellschaft ins Rollen bringen könnte!

Tritt jemand als Heilsbringer auf, wird er vor allem veralbert. Heil können die Modernen nicht mehr von Vernunft unterscheiden. Vernunft will nicht erlöst, sondern ins Nachdenken gebracht und in den Dialog verwickelt werden.

Alkidamas vertrat das Naturrecht der Schwachen. Er verlangte nicht nur, dass „der Friede das Unheil wieder gut mache, das der Krieg verursachet habe,“ sondern vertrat kühn die Meinung: „die Natur hat niemanden zum Sklaven gemacht.“

Aus den Gedanken des Naturrechts der Schwachen entstand allmählich das Gesetz der Gleichen oder das Völkerrecht. Naturrecht der Gleichen und Freien expandierte zum universellen Recht der Menschheit in der späteren Aufklärung.

Es dauerte lange, bis das Abendland die Freiheit und Gleichheit aller Menschen im Völkergesetz zur politischen Einheit zusammenfasste und die Idee der Demokratie zu verbreiten begann.

Auch hier gab es eine Kluft. Amerika, die stärkste und überzeugendste Demokratie der Neuzeit, wollte vom alten Europa nichts wissen und glaubte, die Demokratie aus dem Geist eines unendlich gedeuteten Christentums ableiten zu können.

„Unser freies, aber noch längst nicht befreites Land ist die Zufluchtsstätte, wenn es überhaupt solche gibt, für die Hoffnung des Menschen; und dort soll, wenn überhaupt irgendwo, das zweite Eden errichtet werden, in dem die göttliche Saat das Haupt des Bösen zertreten und den Menschen wieder in seine rechtmäßige Gemeinschaft mit Gott im Paradies des Guten einsetzen soll.“ (Abraham Lincoln in Sydney Mead, Das Christentum in Nordamerika)

Die griechische Erfindung der Demokratie verband sich im neuen Kontinent mit dem messianischen Gedanken einer heilsgeschichtlichen Endzeit. Da herrscht ein Widerspruch zwischen Autonomie und Heil, der bis heute nicht gelöst ist. Abwechselnd obsiegte die gütige Praxis für das Wohl der Welt – wie in der Nachkriegszeit zur Wiedereingliederung Deutschlands. Dann wiederum wurden die Billy Grahams zu Einflüsterern der amerikanischen Präsidenten. Oder die christlichen Sieger über das neue Kanaan, um die Wahrheit des Evangeliums vor aller Welt zu demonstrieren.

Momentan haben sich die Frommen wieder hochgearbeitet, um ihre geistliche Dominanz der Welt mitzuteilen: America first, Manifest Destiny und andere triumphale Slogans. Der Gedanke der messianischen Endzeit verbindet die Frommen Amerikas mit den Ultras Israels.

Obwohl es vor dem Krieg selbst in Amerika einen starken Judenhass gab, hatten sich später Juden und Christen zusammengeschlossen, um Israel zum Mittelpunkt der Welt zu machen: in Jerusalem wird der Herr der Christen zurückkommen und der Heilsgeschichte ein Ende bereiten.

Diese Vormacht der jüdisch-christlichen Erlöser hat dem christlichen Westen den – zuerst untergründigen – dann immer deutlicher werdenden Hass der Welt eingebracht.

Israel gilt heute als Hätschelkind des im Holocaust so schrecklich leidenden Volkes Gottes, das sein Leiden benutzt, um seine unfehlbare Machtpolitik über Palästina zu rechtfertigen.

Deutschland liegt ohnehin flach auf der Matte, kennt keinerlei Kritik an seinem ehemaligen Opfervolk und folgt blind den unfehlbaren Parolen der Regierung in Jerusalem.

Was bedeutet das für die israelische Gesellschaft, die kurz vor dem Hamas-Terror so unermüdlich gegen Netanjahu demonstriert hatte?

„Die Meinungsforscherin Dahlia Scheindlin weist darauf hin, dass heute rund 65 Prozent der Israelis »rechts« seien. Sie seien keine religiösen Fundamentalisten, keine Rechtsextremisten, aber ihre Grundüberzeugung basiere auf dem Prinzip einer starken Armee und einer gehörigen Skepsis gegenüber der Zweistaatenlösung. 63 Prozent der jüdischen Israelis sprechen sich nach dem Massaker vom 7. Oktober gegen einen Palästinenserstaat aus, eine nahezu logische Konsequenz, die das Trauma und die Angst vor neuen Überfällen, Terrorattentaten und Massakern im eigenen Land bewirkt haben. Kein israelischer Premier wird daher auf absehbare Zeit seine Bevölkerung überzeugen können, den Palästinensern Land abzutreten. Damit aber wird das Siedlungsprojekt, zumindest im Westjordanland, auch unter einem Nachfolger Netanyahus weitergehen, ganz egal wie er letztlich heißen mag. Die religiös-radikale Siedlerbewegung ist inzwischen zu stark und überall im Staat verankert. Doch damit wird Israel weiter in dieser widersprüchlichen, komplexen politischen Konstruktion verharren: im Kernland eine inzwischen angreifbare Demokratie, im Westjordanland und möglicherweise bald auch wieder in Gaza eine Besatzungsmacht.“ (SPIEGEL.de)

Schneiders Beurteilung Israels ist zu wohlmeinend. Äußerlich ist das Land zwar eine leidlich funktionierende Demokratie, doch in Wirklichkeit dominieren die intoleranten Religionsvertreter – die kein Pardon kennen gegen die heidnischen Palästinenser – und ihr biblisch verheißenes Land so erwarten, wie es in der Bibel beschrieben wird.

Die gegenwärtige Weltpolitik ist vor allem zweifach zerrissen:
a) zwischen humaner Moral und brutaler Machtpolitik und
b) zwischen kühler Autonomie und messianischer Schwärmerei.

Zu a) In der Neuzeit haben der „Principe“ Machiavellis und Nietzsche mit seiner Lehre vom „Willen zur Macht“, seiner Forderung der „Umwertung aller Werte“ und seiner Lobpreisung des Herrenmenschentums ganz bewusst an das sophistische Naturrecht der Starken angeknüpft.

Zu b) Die nüchterne Idee eines menschenverbindenden Vernunftstaates scheint zurzeit gegen den messianischen Gedanken eines Gottesstaates zu verlieren.

Religiöse Schwarmgeister, besonders in den USA und Israel, fühlen sich bereits als Sieger der Weltgeschichte.

Gegen demokratische Moralhasser und religiöse Schwarmgeister muss die rationale Völkergemeinde endlich aufbegehren und versuchen, das Endziel der Geschichte als Reich des Friedens zwischen Mensch und Natur und Mensch und Mensch zu errichten.

Die deutsche Allergie gegen universelle Moral ist völlig unverständlich.

Ist die Würde des amoralischen Menschen – unantastbar?

Ist Recht nicht die kodifizierte Fassung jener Moral, die die Demokratie erfand?

Sind Freiheit und Gleichheit nicht die kostbaren Früchte jener altgriechischen Moral, von der wir heute – sinnverblendet – nichts mehr wissen wollen?

Ökonom John Maynard Keynes hielt selbst die Wirtschaft für eine moralische Angelegenheit:

„Keynes hielt nichts davon, die Ökonomie als eine Art mathematischer Naturwissenschaft zu betreiben und in Formeln zu gießen, obwohl er selbst durchaus ein begabter Mathematiker war und in Mathematik promoviert hatte. Für Keynes war offensichtlich, dass die Ökonomie zu den Gesellschaftswissenschaften gehörte, und er nannte sie daher „a moral science“. (zit. in U Herrmann, Der Sieg des Kapitals)

Die Welt wird nur weiterleben als moralische – oder sie wird nicht weiterleben.

Fortsetzung folgt.