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Natur brüllt! LX

Tagesmail vom 26.02.2024

Natur brüllt! LX,

Plädoyer für Moral.

Für eine weltumfassende Moral.

Für eine Moral, mit der sich der Mensch retten kann – indem er sich für Natur und Mensch einsetzt.

Stopp, ein solches Plädoyer ist vollkommen überflüssig, denn ohne Moral auszukommen wäre so sinnlos wie ohne Gehirn denken wollen.

Es ist die Natur, die den Menschen von Geburt an mit Moral ausstattete. Moral ist jene Gabe der Natur, mit der sich der Mensch so weit von ihr abnabeln kann, dass er sich ihr Herr nennen darf.

Ein Herr hat zwei Gesichter: ein fürsorgliches und ein despotisches. Für welches Gesicht entscheidet sich der mündige Mensch? Das muss er selbst herausfinden, keine Natur bestimmt über ihn.

Würde Natur ihm Moralisches vorschreiben, wäre er nichts anderes als eine gewöhnliche Pflanze oder ein Tier.

Seine besonderen Fähigkeiten will der – verständige – Mensch zu keinem anderen Zweck nutzen, als mit diesen die verletzbaren Verhältnisse mit der Natur so zu gestalten, dass er ein gleichberechtigter Teil der Natur bleiben kann.

Mit besonderen Fähigkeiten wäre er nichts Besonderes, sondern ein Teil der Natur mit leicht differenten Eigenschaften.

Zwar nennt er sich Krone der Schöpfung. Zeigte er sich aber der Krone unwürdig, wäre er nur ein Zerstörer der Natur.

Moral, Kultur oder Denken sind Künste des Lernens, mit denen er seine Stellung in der Natur einnehmen will.

Er könnte die Zeit des Lernen als überlegenes Wesen so betrachten, bis er eines Tages wüsste, wie er sich durch ein neu erobertes Bewusstsein mit der Natur vereinigen könnte, um eine neue Harmonie aller Wesen zu schaffen.

Das wäre eine Zeit jener profanen Geschichte, die von ihm – oder einer Heilsgeschichte, die von seiner Gottheit abhinge.

Die Geschichte des Westens ist vor allem eine Heilsgeschichte, unterbrochen von kurzen Epochen einer Zeit, in der sein autonomer Wille sein Geschick dominiert.

Griechische Heiden erfanden die selbstbestimmte Zeit. Dann erschienen die Erlöserreligionen und kämpften verbissen gegen die Autonomie der Ungläubigen.

Die Geschichte des Abendlands war ein ununterbrochener Zweikampf zwischen der Vernunft des Menschen und dem irrationalen Willen eines unbekannten Gottes, der sich der Menschheit in Heiligen Büchern mitteilt.

Irrational muss nicht immer unvernünftig sein: wir kennen des Willen eines unbekannten Gottes zu wenig, um dies zu behaupten. Auch seine Offenbarungen können so unterschiedlich sein, dass wir um seine wahre Interpretation heftige Streitigkeiten oder Kriege durchführen müssen.

Da Texte verschieden gedeutet werden können, entstanden mehrere Religionen, die nichts anderes sind als Interpretationen, die sich entweder vertragen oder deren konkurrierende Deutungen sich gegenseitig unterdrücken oder gar ausradieren müssen.

Bis zum heutigen Tag war die Geschichte des Abendlands ein endloser Streit um die wahre Deutung oder die Berechtigung, die Rivalen zu bekämpfen oder auszurotten.

Da die abendländischen Religionen zudem auch friedensstiftend sein wollen, hat jede Religion zwei Gesichter: eine zum Frieden einladende und eine vernichtende.

Sinn der Geschichte ist der Wettkampf aller Religionen, um die Geschichte als Sieger zu beenden.

Fromme Religionen kennen nur ein schreckliches Finale der Heilszeit, in dem die Stärksten die Oberhand gewinnen. Das apokalyptische Ende ist die Spaltung der Menschheit in wenige Sieger und viele Verlierer.

Die weltlichen Rivalen kennen kein apokalyptisches Finale. Überwuchert von religiösen Anfangs- und Endzeitmythen haben sie versäumt, ihre eigenen Projektionen durchzudenken und aufzuschreiben. Deshalb mussten sie markante Abschnitte der Geschichtsdeutungen den Phantasien der Offenbarer überlassen.

Atheisten und Offenbarungsleugner wissen kaum, woher die Menschheit kommt (da müssen sie sich auf Andeutungen der Natur verlassen) und wohin sie gehen soll.

Das Ziel der Geschichte, das wir mit unserem Verstand ansteuern, kennen wir nicht und wollen es auch nicht erkennen. Ziele der Geschichte gelten als Visionen, und die Entwicklung von Visionen überstiege radikal unsere rationale Vernunft.

So bliebe unserem politischen Willen nichts übrig als grenzenlos in die unbegrenzte Zukunft zu schweifen oder in einem langweiligen und problemlosen Frieden zu enden.

Nicht rationalistische Geschichtsplanungen bestimmen ergo die Politvorstellungen der heutigen Völker, sondern die kontroversen Offenbarungen unterschiedlicher Propheten.

Über ihre Geschichtsziele denkt die Menschheit kaum nach. Entweder sind sie religiös vorgegeben und unveränderbar oder aber so unterschiedlich, dass sie kaum synchronisierbar sind.

Der religiöse Endkampf, in den wir allmählich schliddern, ist eine mörderische Konkurrenz um totale Sieger oder Verlierer.

Bereits das Dritte Reich der Deutschen war nur eine Kopie des Dritten Reiches von Joachim di Fiore, einem italienischen Mönch des Mittelalters. Die Deutschen hatten die Schnauze voll von endlos irdischen Konflikten.

Die Juden mussten sie vernichten, weil diese laut Heiliger Schrift die Lieblinge des Offenbarers waren. Sie waren die potentesten Rivalen, die zuerst verschwinden mussten. Nach ihrer Vernichtung würde man weiter sehen, welche anderen Völker ausgelöscht werden müssten, um den irdischen Endsieg zu erringen.

Aus einem Schulbuch des Dritten Reiches:

„Wie Jesus die Menschen von Sünde und Hölle befreite, so rettete Adolf Hitler das deutsche Volk vor dem Verderben. Jesus und Hitler wurden verfolgt, aber während Jesus gekreuzigt wurde, wurde Hitler zum Kanzler erhoben. Während die Jünger Jesu ihren Meister verleugneten und ihn im Stich ließen, fielen die 16 Kameraden für ihren Führer. Die Apostel vollendeten das Werk ihres Herrn. Wir hoffen, dass Hitler sein Werk selbst zu Ende führen darf. Jesus baute für den Himmel, Hitler für die deutsche Erde.“ (Lesebuch zur Deutschen Geschichte, 1989, Vorwort Walter Scheel)

In Amerika haben Biblizisten keine Schwierigkeiten, ihre politischen „Offenbarungsziele“ zu nennen und praktisch anzugehen.

In Russland beginnt Putin, die parallelen messianischen Ziele des heiligen russischen Reiches seinem Volk erneut unter die Weste zu jubeln.

Der Rechtsruck in vielen Völkern ist nichts anderes als das unterirdische Streben nach dem endgültigen Ende der Geschichte. Das Getümmel der menschlichen Konflikte muss endlich mal ein Ende haben. Sie wissen nicht mehr wohin, also soll man dorthin zurückgehen, wo man einstmals war.

In Erlöserländern, wo Christen, Juden und Muslime wohnen, ahnt man die letzten Züge der Menschheit. (Gut, kann noch ein paar 100 Jahre dauern, der Geist, er verbirgt sich gern.)

In Europa, dem Kontinent der Aufklärung, will man von solchen vortechnischen Fisimatenten nichts wissen. Aufklärung heißt für sie Technik und Fortschritt, alles andere in den Müll.

Was hat dies alles mit Moral zu tun?

Alles, was den Menschen bewegt, ist Moral. Ob er es weiß oder nicht. Moral kann bewusst oder unbewusst den Menschen beherrschen. ES und ICH sind keine absolut getrennten Bereiche, sondern verschwimmen ineinander.

Die meisten Motivationen des Menschen sind eine trübe Melange aus einem Fitzelchen Helligkeit und vielen Fetzen wachsender Dunkelheit.

Ohne Moral geht nichts. Denn Moral ist der Wille des Menschen, mit dem er die Welt antreibt. Ein Mensch ohne Moral wäre ein willenloser Phlegmatiker, der sich nach dem Tode sehnt.

Alles, was den Menschen bewegt, ist Moral – nicht immer die richtige oder ihn förderliche. Die Moral muss keine gute sein. Der Wille könnte aus dem letzten Winkel seines Bewusstseins kommen – was der Mensch gar nicht wissen will, er würde sich wahrscheinlich schämen. Die meisten Moralmotivationen sind mehr oder minder versteckt oder kaschiert.

Ist der Mensch von einem heftigen Willen erfüllt, kann er seine Feinde töten wollen – oder aber ein Luftschiff auf den Mond schießen. Denn er will leidenschaftliche Intensitäten spüren und sich wichtig vorkommen.

Hätte der Mensch keinen Willen, wäre er noch immer ein Teil der bewusstlosen Natur. Erst durch einen naturunabhängigen Willen kann er sich von seiner Umgebung abheben und seine eigene Welt basteln.

Es spielt keine Rolle, ob der moralische Wille gut oder schlecht ist. Das wären Unterschiede, die längst verschwimmen. Moralfreie Menschen gibt es nicht.

Nur, wenn der Einzelne ein gutes und kein schlechtes Leben führen will, muss er ins Denken kommen, seinen unbewussten Willen aus der Dunkelheit seines Gehirns ausgraben und in einen bewussten umwandeln.

Wer diese Moral als Lebenswille leugnet, der will den Menschen degradieren zu einem determinierten Wesen.

Naturwissenschaften können determinierte Vorgänge der Natur erkennen, die Geisteswissenschaften nicht. Denn der Geist ist nicht 100%ig quantifizier- und bestimmbar. Er kann plötzlich aufatmen, seine Motive erkunden, seine Vergangenheit erkunden.

Deutsche sind an solchen Vorgängen kaum interessiert. Vom Verstehen verstehen sie nichts, von den eigenen Motiven wollen sie nichts verstehen.

Sie sind Hegelianer geblieben: das Vernünftige ist wirklich, das Wirkliche vernünftig. Also genügt es ihnen, das Handfeste zu beschreiben, wie es ist. Haben sie das Wirkliche in der Faust oder in der Feder, haben sie zugleich das inhärente Vernünftige. Gibt es sonst noch was Erlauchtes, oh objektiver Geist?

Unsere Medien sind Prototypen des Vernünftigen, wenn sie das Wirkliche in Zahlen und Figuren herunterrattern können. Warum nur bewegen sie nichts mit dem Status quo des Seienden? Weil sie nichts bewegen wollen.

Diesen Übermut überlassen sie den Luisas und Gretas, wissen sie doch: die FfF werden sich noch wundern, dass sie soviel Klebstoff benötigen, um alles festzukleben, aber bestimmt nicht, um Dinge ins Rollen zu bringen.

Wer nicht weiß, was er will, weiß auch nicht, was er dennoch will: er will vom Leben ein genügend großes Teil erhalten, damit er weiß, wozu er lebt.

Wenn er nur tut, was er muss, vergeht ihm jeder Sinn des Lebens. Gibt es einen einzigen Film im deutschen TV, in dem ein gewitztes Menschlein nicht einem andern sagt: Du, ich muss mit dir reden. Hast du nicht auch das Gefühl, dein Leben zu verpassen? Komm, wir machen uns auf und gehen in den Süden, um bei wunderbarer Sicht aufs Meer unsere neuen Horizonte zu entdecken.

Zuhause gibt’s nur Malochen bei ratternden Maschinen. Weit draußen in der Ferne hingegen ist am Horizont das neue Leben zu spüren. Doch dann kommt man zurück nach Hause – und die Horizonte des Seins sind wieder verschwunden.

Deutschland lehnt jede Moral ab, weil es jeden Willen zum bewussten Leben ablehnt. Seine Vergangenheit versteht es nicht, will von Verstehen überhaupt nichts hören und versteckt sich hinter jeder ökonomischen Leitplanke.

Klare Moral wäre ein klarer Wille zu einem bewussten Leben. Nichts aber für vollmotorisierte Cocktail-Germanen.

Wer unsere Demokratien retten will, muss die Gründe ihres Verfalls verstanden haben. Davon kann weit und breit keine Rede sein.

Fortsetzung folgt.