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Natur brüllt! LIX

Tagesmail vom 23.02.2024

Natur brüllt! LIX,

Wie Menschen ihre Luft vergiften, so vergiften sie ihre Begriffe. An reines Denken ist nicht zu denken, in Deutschland wabert der Gestank bereits zum Himmel.

Ist es in andern Völkern besser? Schauen wir ostwärts.

Ist Putin böse? Wenn er’s die ganze Zeit noch nicht war: spätestens seit Nawalny ist er es – selbst Sahra Wagenknecht muss da zustimmen.

Schon mal von der russischen Kosmokratie gehört?

Kosmokratie: das russische Volk als Erlöservolk, als Weltraum-Volk, das im Universum siedelt. „Aufgabe des Menschen ist es, nicht nur zu besuchen, sondern auch zu bevölkern alle Welten des Universums“. Dazu ist der Mensch geschaffen.

Die moderne Zivilisation ist Mord und Selbstmord, da es ihr an Brüderlichkeit fehlt. Nur Zwang, Angst und Nützlichkeiten halten sie zusammen – und alles dient dem Kriege. Alle Erfindungen, Straßenbauten, Kommunikationsmittel.

Die Wissenschaft befindet sich unter dem Joch der Fabrikanten und Kaufleute … „Ehedem war die Wissenschaft Magd der Theologie, jetzt ist sie die Magd des Kommerzes geworden.“ Der Zar, nicht der Papst, als „Seelenbeherrscher“ soll die Menschheit befreien.

Das Reich Gottes: es ist vom Menschen hier auf dieser Erde und im Weltraum, der zu kolonisieren ist, zu verwirklichen. Geschichte ist bisher im Ganzen die Zerstörung der Natur und die gegenseitige Ausrottung der Menschen.

Die Vergottung des Weltalls ist durch aktives Eingreifen des Menschen zu befördern. Die Geographie soll eine heilige Wissenschaft werden: die ganze Erde ist ein Heiliges Land; auf dieser Erde ist der Mensch verpflichtet zum odium fati, zum Kampf gegen den Tod. Der Tod ist der Triumph einer blinden und amoralischen Kraft! Der Mensch ist berufen, ihn zu überwinden: die Auferstehung der Toten ist durch wissenschaftlich-technische und durch spirituelle Anstrengungen zu erkämpfen. Als Schöpfer ist der Mensch verpflichtet, „alle die unendlichen Welten im Himmelraum zu lenken und zu vergeistigen.“

Nach Fedorov soll die „regulierende Aktion“ das Reich des Menschen ausdehnen „auf alle Welten, Sternensysteme, bis das Universum endgültig vergeistigt ist.“

Den homo kosmonauta, den im Kosmos siedelnden Menschen vorzudenken, vorzuplanen, spirituell vorzubilden (im eigenen Leben) und ihm die Mittel (Raketen, Maschinen) zu erfinden: das ist das gemeinsame Ziel russischer religiöser Philosophen und Erfinder im 19. Jahrhundert: von hier führt eine gerade Linie (verborgen) zur russischen Weltraumfahrt.

Der homo kosmonautika tritt an die Stelle des homo faber, als der an sich und seiner westlichen Zivilisation klebende, ichsüchtige, homo faber, der „Banause“ (bedeutet ursprünglich Handwerker), der Philister, der Spießer. Der Bourgeois, über den Dostojewski und Lenin ihre Spott ausgießen.“

Menschengeschick ist es, den Himmel auf die Erde zu bringen. Ziel ist die Erlösung der Mutter Erde.“

(Alle Zitate in Friedrich Heer, Europa, die Mutter der Revolutionen)

Das ist das Denken Putins. Wenn er böse ist, ist es der gesamte Westen.

Putin sieht einen erbarmungslosen Wettkampf zwischen dem westlichen und östlichen Messianismus.

Wo bleiben Lenin und Stalin? Wollte Stalin nicht in seinen jungen Jahren Priester werden? Oder wurde er es vielleicht doch, nur mit anderen Mitteln, als man erwarten darf?

Selbst Lenin beruft sich auf das „Dritte Testament“ (das Dritte Reich, Mereschkowski knüpft direkt an das Dritte Reich des Heiligen Geistes von Joachim die Fiore an). Radikaler Messianismus verbindet sich in der frühbolschewistischen Dichtung mit der Vision: der Mensch erlöst die Welt durch seine Kunst, seine Technik.

W. Kirillow schreibt in „Der eiserne Messias“: „Hier ist er, der Erlöser der Erde, der Beherrscher titanischer Kräfte. Im Geräusch der Drähte, dem Funkeln der Maschinen, dem Glanz elektrischer Sonnen. Man glaubt, es käme im Sternenkleid, im Heiligenschein göttlicher Mysterien. … Jetzt schreitet er über Abgründe von Ozeanen, unbesiegbar, unaufhaltsam, er bringt der Welt eine neue Sonne.“

Gastew: „Mögen wir mit der Erde verschmelzen, sie ist in uns und wir sind in ihr.“ Uralte deutsche Traditionen der Romantik werden heraufbeschworen: die Heilige Hochzeit des Himmels und der Erde. (Novalis, Eichendorff, die Droste)

Das große rote Ostern: die Auferstehung und Himmelfahrt des Menschen, die Geburt des homo kosmonauta. Jean Paul träumte vom „Eisernen Messias“.

Doch zuerst muss das Proletariat als neuer Messias Golgatha besteigen, muss sich kreuzigen lassen, damit es auferstehen kann. Die Arbeiterklasse wird Gott töten, aber eine neue Religion schaffen, welche die früheren Religionen in „höchstem Ausmaß“ in sich enthalten wird.

Dann Stalin. Stalin weiß sich als neuer Moses, der die Kraft und die Härte besitzt, sein Volk durch Wüsten von Hunger, Elend und Kriegsdrohung in das gelobte Land zu führen. „Wir hängen fünfzig oder hundert Jahre hinter den fortgeschrittenen Völkern dieser Erde zurück. Wir müssen das in zehn Jahren nachholen. Entweder tun wir das oder die andern werden uns zerschmettern.“ (ebenda)

In Amerika herrschen dieselben messianischen Hoffnungen, die im Lauf des Fortschritts technisch realisiert werden sollen.

Der technische und wirtschaftliche Wettbewerb zwischen Ost und West sind nur Beilagen der unerbittlichen Konkurrenz um das menschengemachte Heil. Um weniger geht’s nicht.

Und nun oh Graus: die heilserblindeten Deutschen sehen und merken nichts. An ihren tauben Ohren und verschlossenen Augen geht alles vorüber.

Pa, ich habe Angst, was ist da draußen?
Sei ruhig, mein Kind, in dürren Blättern säuselt der Welt.
Mein Vater, mein Vater, jetzt fasst er mich an!
Putin hat mir ein Leids getan!
Dem Vater grauset’s; er reitet geschwind,
Er hält in Armen das ächzende Kind,
Erreicht den Hof mit Mühe und Not;
In seinen Armen das Kind war tot.

Das ist das geheime Ziel der deutschen Geschichte: nichts wissen, nichts sehen, nichts hören. Wenn’s schief läuft, gibt es uns ohnehin nicht mehr.

Nicht nur die Weltmächte schwimmen in messianischen Gewässern. Auch Netanjahu braucht die totale Zerstörung seiner Feinde, um Jerusalem im Glanz der Wiederkehr des Herrn aufstrahlen zu lassen.

Doch nicht nur das Leid der Feinde, sondern das eigene Erleiden von Tod und Schmerz soll der Welt die Überlegenheit der ultraorthodoxen Netanjahu-Fraktion unerbittlich vor Augen führen. Das ist der Grund, warum der Holocaust unvergleichlich sein muss.

Das irdische Verbrechen ist kein Gegenstand schnöder Wissenschaft, die nur Quantitäten misst, sondern muss ein jenseitiges Erlebnis im Diesseits sein. Ein auserwähltes Volk erlebt nur nicht-quantifizierbare Dinge, an die man glauben muss. Kein irdisches Leid ist mit überirdischem Leid vergleichbar.

Das sind die Merkmale eines wirklich auserwählten Volkes, das sich zur Ankunft des Messias auf dem Heiligen Berg vorbereitet.

Amerikaner und Russen kommen da nicht mit. Die Deutschen hat man bereits aus dem Weg geräumt. Ihr eiserner Messias war nur ein lächerlicher Bühnenheiland, der sich auf theatralische Gesten verstand.

Oh, beinahe vergessen: die Knechte des kommenden Herrn sind die Wissenschaftler, die das Universum erobern müssen. Sie wissen nicht, in wessen Diensten sie kreativ sein müssen. Und der Zufall will es:

„Ein halbes Jahrhundert nach den letzten Apollo-Flügen: Die Landung einer privaten Raumsonde auf dem Mond ist ein historischer Erfolg. Nun bleibt eine Woche, bis »Odysseus« in eisiger Mondnacht für immer verstummt. »Ein Triumph«, verkündete Nasa-Chef Bill Nelson, ein halbes Jahrhundert nach den letzten Apollo-Flügen sei »Amerika zum Mond zurückgekehrt«. Und diesmal wollen die Amerikaner kommen, um zu bleiben, um den nächsten Nachbarn im All zu erobern und zu besiedeln.“ (SPIEGEL.de)

Man höre und staune: die Amerikaner waren bereits auf dem Mond zu Hause: – und sind nur zurückgekehrt! Die Erde ist etwas, was überwunden und vergessen werden muss? Nur noch einige klitzekleine Atomkriege zwischen den Blöcken – und das irdische Spektakel ist endgültig im Eimer?

Das Böse kann die Spitze des Verderblichen und Schlimmen sein – oder die dualistische Gegenseite des Gottes. Als theologische Eigenschaft ist sie unbesiegbar. Gott, der Gute ist genau so stark wie der böse Teufel. Putin, die teuflische Gegenseite der Guten aus dem Westen? Das wäre ja die Wiederauferstehung des Mittelalters.

Bleiben wir bescheiden auf dem Boden. Putin war in seiner Jugend ein tapferer Schüler Gorbatschows. Er traute sich, im Deutschen Bundestag als Neubekehrter aufzutreten.

Doch was er dann erleben musste, erließ ihn erschauern: mit fliegenden Fahnen floh er zurück ins russische Dritte Reich. Warum? Weil der Westen nichts mehr hasste, als neubekehrte Rivalen, die sie taktisch imitieren wollten.

Was hassen die christlichen Herren aus Amerika am meisten? Den „säkularen Humanismus“ der Vernunft. Der muss ausradiert werden. In Amerika, wie in Deutschland. Obama entfaltete ein rhetorisches Feuerwerk, dem niemand widerstehen konnte. Dann stieß er Putin in den Abgrund. Ein Bündnis zwischen dem Reich des Bösen und dem Reich der Guten? Auf keinen Fall.

Sei Reagan herrschten in Amerika wieder die frommen Biblizisten, die nichts mehr verabscheuten als die Raison der Welt. Wie hatten sie aufgeatmet, als das Reich der Bösen zusammenbrach.

Doch dann die Katastrophe: nicht aus dem Westen kam der neue Heiland des Guten, sondern aus dem Osten. Gorbi begann, den heuchelnden Westen mit seiner Aufrichtigkeit in den Schatten zu stellen.

Da drehten die messianischen Westler der Gefahr aus dem Osten den Hahn zu. Obama erledigte den Nachfolger Gorbis mit dem beiläufigen Sätzchen: Putin, wer ist Putin?

Ab diesem Zeitpunkt eskalierte alles. Bei diesem hochbrisanten Finale der Heilsgeschichte wollte Netanjahu nicht abseits stehen. Schließlich ist die Heilsgeschichte als Konkurrenz der Völker die Erfindung seines allmächtigen Gottes.

Das Zerwürfnis mit dem Westen begann theatralisch. Aber kein Westler verstand, was geschah:

„Für den Eklat auf dem traditionsreichen Happen-Happening sorgte just der Mann, der derzeit die Welt in Atem hält. Sein Name: Wladimir Wladimirowitsch Putin, russischer Präsident, Hobbyhistoriker, Kriegsverbrecher. Vor 30 Jahren kannte ihn noch kaum einer. Putin war damals stellvertretender Oberbürgermeister von Sankt Petersburg, der Partnerstadt von Hamburg. Ein aufstrebendes Polit-Talent unter vielen – mit einer sehr, sehr kurzen Zündschnur. Die zusammengeknüllte Serviette wird neben den wappengeschmückten Weinpokal gepfeffert, dass die weißen Kerzen flackern. Mit durchgedrückten Knien, einen verächtlichen Blick auf den Gastgeber werfend, so verlässt er den Saal, jeder Schritt begleitet vom Knarzen des Parketts. Raunen folgt ihm. Wer war’s? Was hat denn der?“ (SPIEGEL.de)

Verstehen ist keine Königsdisziplin des Westens. Wer Orban versteht, gilt hier bereits als Verräter des Westens.

„Der Orban-Versteher. Politikwissenschaftler Werner J. Patzelt wird von zahlreichen Medien als unabhängiger Experte befragt.“ (SPIEGEL.de)

Verstehen heißt nicht verzeihen, schon gar nicht rechtfertigen. Auch bei Putin hat niemand verstanden. Unsere mütterliche Kanzlerin glaubte, ihn mit freundlichen Gesten zu umgarnen. Doch das misslang: Putin stellte sie kalt. Womit? Mit einem wunderschönen Schloss und einem bitterbösen Hund, der sie ständig umkreiste. Damals begann sie fürs Vaterland zu zittern.

Putin ist ein bedenkenloser und hinterlistiger Schwerverbrecher, kein Böser, denn Böse gibt es nicht. Der Westen ist nicht das Gegenteil des Ostens. Auf keinen Fall der Inbegriff des Guten.

Dies alles versteht Deutschland nicht. Verstehen heißt hierzulande parteiisch werden. Wer aber wird mit seinem Vaterland objektiv werden wollen?

Das war kein deutsches Märchen, sondern ein Tatsachenbericht über faulende und verderbende Begriffe. In Deutschland stinkt’s wie die Pest. Reißen wir die Fenster auf.

Fortsetzung folgt.