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Natur brüllt! LVIII

Tagesmail vom 19.02.2024

Natur brüllt! LVIII,

Deutschland, das von Amerika gebändigte chaotische, nach der Niederlage vorbildliche, wenn auch schlaue und eigensüchtige, heute in die Krise geratene Kind, muss seinen pubertierenden Ehrgeiz überwinden und sich eine kritische Distanz zu seinen transatlantischen Mentoren erarbeiten – damit zwei gleichberechtigte, sich gegenseitig verstehende und auf gleicher Augenhöhe debattierende Partner versuchen, die anwachsenden Weltprobleme auf gemeinsamer Ebene zu lösen.

Nein, sie verstehen sich nicht, die beiden Partner – die noch lange keine sind.

Lange genug war Amerika nachsichtig, ja stolz auf das adoptierte Kind, das so leichtfüßig seine wirtschaftlichen Aufgaben übernahm und mit Bravour ausführte.

Deutschland tat ein halbes Jahrhundert, als bewundere es das Land der Sensationen und Rekorde im neuen Kanaan. Hemmungslos ließ sich das in die Freiheit entlassene Kind beschützen, um seine neue Tüchtigkeit vor der ganzen Welt zu demonstrieren.

Heute will Amerika niemanden mehr beschützen, damit verwöhnte europäische Bälger ihm auf dem Kopf herumtanzen können.

Die neue Rücksichtslosigkeit seines Wunderlandes versteht Deutschland nicht mehr – und flüchtet in infantile Bewunderung diverser Disney- und Silicon-Valley-Sensationen.

Was sie angeblich bestaunen, haben sie noch nie verstanden. Denn das Verführerische Amerikas ist nichts als der Abglanz des messianischen Glanzes, an den die Biblizisten glauben. Die Deutschen indessen: haben sie nicht längst ihre Aufklärung hinter sich gebracht?

Ihre allmähliche Kritik beginnt gerade, das glamourhafte Wesen seiner Vorbilder zu durchschauen und den technischen Weltmeistern den wahren Ernst des Lebens zurückzumelden.

Das aber mit schlechtem Gewissen. Denn die neue Distanz halten sie für schnöden Undank, den sie schnell wieder ablegen müssten.

Ein neokonservativer Denker hat die deutsch-amerikanischen Beziehungen in seinem Buch „Macht und Ohnmacht, Amerika und Europa in der neuen Weltordnung“ bereits im Jahre 2003 so geschildert:

„Die meisten Europäer sehen das große Paradoxon nicht, oder wollen es nicht sehen: dass nämlich ihr Eintritt in die Post-Historie nur möglich war, weil die Vereinigten Staaten nicht den gleichen Schritt machten. Weil Europa weder willens noch fähig ist, sein Paradies selbst zu schützen und es davor zu bewahren, geistig wie körperlich von einer Welt überrannt zu werden, die die Herrschaft des „moralischen Imperativs“ erst noch akzeptieren muss, ist es abhängig geworden von der Bereitschaft Amerika, seine militärische Macht einzusetzen, um überall auf der Welt all jene abzuschrecken oder zu besiegen, die noch immer an Machtpolitik glauben.“ (Robert Kagan)

Stimmt die Analyse? Nur zum Teil. Deutschland war nie das kantische Land des moralischen Imperativs. Zwar sind sie stolz auf ihre Klassiker, denken aber keine Sekunde daran, deren überkandidelten Idealen zu folgen.

Im Gegenteil: heute ist es tägliche Pflicht, ordinär gegen jegliche Moral zu predigen. An die Stelle der Moral sollen Interessen gesetzt werden.

Moral ist: wie man sich verhalten soll, unabhängig von Rang, Ruf und Reichtum; Interesse ist – nach Erich Fromm – pures Haben-wollen. Nicht was ich bin, sondern was ich am Ende an Profit und Erfolg kassiert habe, macht den Sinn meines Lebens.

Von Anfang an herrschte in Deutschland kaum ein Interesse an humaner Reue über seine Verbrechen, sondern lediglich ein Interesse an weltweitem Erfolg und Geschäftstüchtigkeit.

Das moralische Deutschland – ist heute das Schmähobjekt der immer reicher werdenden Öffentlichkeitsüberwacher.

Kant kann ihnen gestohlen bleiben, sie sind zu Hegel zurückgekehrt, stopp, nicht zurück-gekehrt: einen anderen Standpunkt hatten sie nämlich nie. Noch immer kleben sie fest an Hegels Moralaversion:

„Das Prinzip der Moral bei den Griechen wurde der Anfang des Verderbens.“ Hegel und Nietzsche hassten Sokrates, das inkorporierte Vorbild aller Guten.

Moral will eine gleichberechtigte, tugendhaft-autarke Menschheit. Interesse hingegen will eine Welt mit wenigen Superreichen – und endlosen Massen an Überflüssigen.

Womit wir bereits am nächsten Kernpunkt der Moderne angekommen wären:

„Die Herausforderung für die postmoderne Welt besteht, so Cooper, darin, sich an den Gedanken der Doppelmoral zu gewöhnen.“ Untereinander mögen die Europäer „auf der Basis von Gesetzen und offener, kooperativer Sicherheit agieren. Doch im Umgang mit der außereuropäischen Welt „müssen wir auf die raueren Methoden einer früheren Epoche zurückgreifen – Gewalt, Präventivschlag, Täuschung und was sonst noch notwendig sein mag.“ Coopers Grundsatz für den Schutz der Gesellschaft lautet: „Im Umgang miteinander halten wir uns an Recht und Gesetz, doch wenn wir im Dschungel agieren, müssen wir uns nach den Gesetzen des Dschungels richten.“

Diese Diagnose würde nur stimmen, wenn die vormoderne Welt ein einziger Dschungel und Hellenen nie die Begründer des Abendlandes gewesen wären.

Demokratie, Toleranz, Völkerrecht, universelle Gleichheit aller Menschen: all das aber waren Erfindungen der Athener und ihrer mächtigen Schüler, der Römer. Als Christen die Regie in Europa übernahmen, taten sie alles, um den Einfluss der moralischen Heiden zu verdammen – und durch eine theokratische Priesterdiktatur zu ersetzen.

Heute haben es die Frommen in Amerika geschafft, alles Vorbildliche und Humane, das sie in die beste Demokratie der Welt modelliert haben, aus der – angeblich trostlosen – Vergangenheit des Abendlands auszuradieren.

Simple These: Alles Gute, was nicht aus der Neuen Welt stammt, kann nicht gut sein.

Selbst wenn die Amerikaner den Vorwurf schlucken würden, dass sie hemmungslose Doppelmoralisten seien, würden sie kühl reagieren:

„Selbst wenn wir uns den Vorwurf der Doppelmoral gefallen lassen müssen, ist sie unter Umständen die beste aller Moralen und vielleicht sogar das einzige Mittel, um den Fortbestand der Menschheit zu befördern.“

Schlichte Moral bewegt nichts, nur Doppelmoral dient dem Fortschritt. Womit nun endlich klar wäre, dass nur moralischer Verfall den Fortschritt der Moderne bewegen kann.

Wo zeigt sich die amerikanische Doppelmoral? Einerseits rühmen sie sich der besten Verfassung, der Organisation der UN-Charta mit universellem Völkerrecht. Andererseits hören wir ganz andere Stimmen:

„Dean Acheson, einer der führenden Architekten der Weltordnung nach dem Krieg, hielt die UN-Charta für „unbrauchbar“ und die Vereinten Nationen selbst für ein Beispiel eines fehlgeleiteten Wilsonschen Glaubens „an die Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen und an den Anbruch eines Zeitalters des universellen Friedens und der Herrschaft des Gesetzes.“

Da stehen wir heute. Einerseits sind die Amerikaner stolz auf das von ihr angeregte universalistische UN-Völkerparlament, andererseits sind sie dieser unbestechlichen Richterin müde, da sie selbst allzu viel gegen diese Richtlinien verstoßen.

Das ist der Hauptvorwurf der einstigen kolonial besetzten Völker, dass ihre weißen Herren eine gleichberechtigte Völkerordnung verordneten, die sie nach Belieben brachen.

Die befreiende Ethik aller gleichberechtigten Völker wurde zu einem neuen, aber ungerechten Richtschwert im Dienste des heuchelnden Westens.

Auch im Falle Israel wirft die Welt dem Juden- und Christentum eine heuchlerische Doppelmoral vor: die Moral, die sie von anderen fordern, gilt nicht für sie.

Das ist der Hauptgrund der meisten Spannungen und Kriege in der Gegenwart.

Um von der Verurteilung durch die UN-Charta nicht ständig getroffen zu werden, ist Israel in die Vorwärtsverteidigung gegangen und fordert die Auflösung der UN und aller universellen Richtschnüre.

Nicht alle Völker, nicht alle Menschen sind gleich, für verschiedene Menschen und Religionen muss es also auch verschiedene Gesetze geben.

Ergo müsste die Präambel der UN-Charta umgeschrieben werden:

„… künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat,
unseren Glauben an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit, an die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie von allen Nationen, ob groß oder klein, erneut zu bekräftigen …“

Jetzt müsste sie lauten:

… Kriege sind unvermeidlich, denn Völker haben das Recht, nach ihrem Gefühl andere anzugreifen, um sich ihre Rechte mit Gewalt zu sichern. Und:

… unseren Glauben an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit, an die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie von allen Nationen, ob groß oder klein, nach Belieben so zu verändern, dass die stolzen und mächtigen Nationen sich als Herren der Welt fühlen dürfen …

Amerika, der großartige Lehrer der Menschenrechte in der Nachkriegszeit, ist unglaubwürdig geworden. Zusammen mit Israel fühlen sie sich als religiös-auserwählte Nationen, die sich keinesfalls mit denselben Kriterien messen lassen wie der Rest bedeutungsloser Völker.

„Eine der größten Differenzen zwischen Europäern und Amerikanern ist heute eine philosophische, ja metaphysische Kontroverse darüber, wo genau die Menschheit auf dem Kontinuum zwischen den Gesetzen des Dschungels und den Gesetzen der Vernunft steht. Anders als die Europäer glauben die Amerikaner nicht, dass wir kurz vor der Verwirklichung des kantischen Traums stehen.“

Hier offenbart sich, wie Deutschland und Amerika Katz und Maus miteinander spielen. Deutschland ist nicht im geringsten kantianisch, tut aber so, als ob es Politik im Talar des kategorischen Imperativs betriebe.

Als Fukuyama optimistische Perspektiven in der Weltpolitik sah: wo wurde er am meisten geschmäht? Halten zu Gnaden, bei uns. Optimismus sei Leichtsinn, Leichtsinn sei verderblich. Wir Preußen würden nur harte Arbeit und Wirtschaftswachstum kennen. Alles andere verriete uns als Hanns Guck-in-die-Luft.

Zufällig erschien das Buch eines Historikers, der den Vorwurf der Heuchelei der westlichen Staaten gegen ausländische Diktatoren wissenschaftlich bestätigt:

„In seiner großen Analyse „Deals mit Diktaturen“ schildert der Historiker Frank Bösch, wie deutsche Regierungen seit 1949 im Umgang mit Autokratien stets ohne ethische Skrupel agierten.“ (Sueddeutsche.de)

Neocon Kagan unterschreibt diesen Vorwurf nicht. Er verteidigt die machtbewusste Amoral der USA:

Während Europa sich angeblich abwende von der Macht, zugunsten eines „posthistorischen Paradieses von Frieden und relativem Wohlstand“, das der Verwirklichung von Kants „Ewigem Frieden“ gleichkomme, würden die USA der Geschichte verhaftet bleiben und Macht in einer anarchischen Hobbes’schen Welt ausüben, in der auf internationale Regelungen und Völkerrecht kein Verlass sei und in der wahre Sicherheit sowie die Verteidigung einer freiheitlichen Ordnung nach wie vor von Besitz und militärischer Macht abhingen. Aus diesem Grund entwickelten sich Amerikaner und Europäer heute immer weiter auseinander.

Europäer sind Mitglieder der westlichen Völkerfamilie, die sich den Luxus der moralischen Überkorrektheit erlauben kann, während unsere bisherigen Beschützer sich den widrigen Anforderungen der Realität widersetzen müssen – wenn’s sein muss mit Gewalt.

Von daher ist es einfach für spielende Kinder, sich auf Moral zu berufen – werden sie doch von ihren Erziehungsberechtigten ausreichend beschützt – auch wenn dabei die Reinheit der Moral verloren geht.

Moralgegner der Deutschen sind demnach die Hyper-Erwachsenen in den USA, die sich des Ernstes der Weltlage wohl bewusst sind, während hiesige Tugendapostel sich den Luxus scheinbarer Moral leisten können.

Kagan denkt nicht daran, die USA moralisch zu verurteilen. Er gehört zu den neuen Realisten, die wissen, dass nur schmutzige Machtpolitik das Gröbste in der sündigen Welt verhindern kann.

Hauptdummheit der Europäer sei ihre Meinung, die Probleme der Machtpolitik mit Appellen an das Gewissen bändigen zu können.

Ist es möglich, dass Trump das Wort Gewissen noch nie gehört hat?

Fortsetzung folgt.