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Natur brüllt! LVII

Tagesmail vom 16.02.2024

Natur brüllt! LVII,

In einem kühlen Grunde
Da geht ein Mühlenrad
Mein’ Liebste ist verschwunden,
Die dort gewohnet hat.
Sie hat mir Treu versprochen,
Gab mir ein’n Ring dabei,
Sie hat die Treu’ gebrochen,
Mein Ringlein sprang entzwei.
Ich möcht’ als Spielmann reisen
Weit in die Welt hinaus,
Und singen meine Weisen,
Und geh’n von Haus zu Haus.
Ich möcht’ als Reiter fliegen
Wohl in die blut’ge Schlacht,
Um stille Feuer liegen
Im Feld bei dunkler Nacht.
Hör’ ich das Mühlrad gehen:
Ich weiß nicht, was ich will —
Ich möcht’ am liebsten sterben,
Da wär’s auf einmal still!“ (Eichendorff)

Du Streber in der letzten Reihe: aufstehen und interpretieren.

Okay, okay, nur keine Aufregung!

Das Mühlenrad ist die leibnizische Uhrenordnung der besten aller Welten – ursprünglich das Freudenrevier der Natur, in dem sich der Mensch wohlfühlen sollte.

Tut er aber nicht mehr seit den pessimistischen Ökonomen Englands, weshalb die feinfühligen deutschen Innerlichkeitsdenker – oder Romantiker – das neue und erschreckende Gefühl entwickelten: die Liebste ist verschwunden. Natur war bei den Urmenschen die Liebste, die durch kesse Männer zerstört wurde.

Das Ringlein, oder das Mühlenrad en miniature: ist zerbrochen, weil die Weltuhr der Moderne, spätestens mit dem Erdbeben von Lissabon, zerbrach. An allem Elend ist die Natur oder die Liebste schuld; wissen wir doch, dass Eva den Baum der Erkenntnis schändete.

Adam musste auf den Acker und malochen, aber der deutsche Recke lässt sich mit simplen Parolen nicht demütigen: er möchte hinaus in die Welt, um sie durch seine Lieder wieder zu berücken und zu heilen. Wenn’s sein muss, auch mit Gewalt: als Held in der blutigen Schlacht.

Die Aufklärung brachte das Licht, in der Romantik kehrt die Dunkelheit zurück, in der deutsche Feingeister den intakten Urzeiten mit Trauer nachsinnen konnten.

Und jetzt das welterschütternde Bekenntnis, noch heute geeignet, die versumpften Urgründe der Gegenwart in Asche und Staub zu verwandeln:

„Ich weiß nicht, was ich will; ich möchte am liebsten sterben, da wärs auf einmal still.“

Das war das infernale Credo der mächtigen deutschen Seele, die den Schein der guten Natur zerstören musste, um wieder von vorne zu beginnen.

Der Deutsche litt für die Welt und ließ sie für sich leiden: er weiß nicht, was er will. Am liebsten will er sterben, da wärs auf einmal still. Der rasende Fortschritt schreit wie eine Schwangere, die in Schmerzen auf der Straße liegt und alle automatischen Teslas rasen ungerührt vorbei.

Das nachrückende Leben muss sich mit gellenden Schreien ins Dasein zwingen. Schon haben sie ihre Ohren verschlossen und schauen gebannt auf ihre genialen Maschinen, um von der krepierenden Natur nicht abgelenkt zu werden.

Eigentlich sollte der Mensch wissen, was er will: auf Erden – oder in den Armen der Liebsten – sollte er glücklich werden. Doch nichts davon. Das war der fliehende Sinn oder das unerreichbare Ziel seiner Existenz – die sich beide davon gemacht hatten. Wohin er blickt: das Ziel seines einst geglückten Lebens hat er verloren, rundum nichts als gequält aufschreiendes Elend und sich auftürmendes Chaos.

Der Tod, der stille Tod: das wär seine Erlösung. Die Natur würde zurückkehren in die Anfänge ihres liebenden Schweigens, nach dem lärmenden Sein das absolute Nichts.

Das infernale Geschrei auf der Straße, das war die ruhelose Geschäftigkeit des Westens.

„Der Liberalismus hat Kulturen untergraben. Er hat Religionen vernichtet. Er hat Vaterländer zerstört. Er war die Selbstauflösung der Vaterländer.“ (Moeller in Sontheimer, „Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik“)

Die wunderbare Uhr oder die zirkuläre Zeit war die beste aller möglichen Welten von Leibniz – oder der klassische, vollkommene Liberalismus, der mit Erfindung des Kapitalismus verschwand.

Was blieb? Jener Liberalismus, der sich bis heute zerfleischt, um die goldenen Zeiten wieder zurückzugewinnen, die noch immer an den vollendeten Schöpfer glauben möchten.

Dennoch und dennoch: möchte ich noch glauben – kann ich noch glauben?

Der Liberalismus zerfiel in seine Teile. In den Neoliberalismus der Wiener Katholiken, die die zerbrochene Ordnung der Welt wieder reparieren wollten – auch wenn die Faulen und Verkommenen dabei untergehen sollten.

Und in den Neoliberalismus der Deutschen, angeführt von Rüstow, der Hayek einen Paläoliberalen (Uraltliberalen) nannte und sich selbst den Titel des Neoliberalen nicht nehmen lassen wollte. Rüstow ist vergessen, der Neoliberalismus triumphiert, gerade jetzt im Geburtsland des Papstes:

„Demokratie ist für Milei zweitrangig: Er arrangiert sich mit ihr und nutzt sie, solange sie seiner libertären Doktrin nicht im Wege steht. Damit steht er in der Tradition von Friedrich August von Hayek, einem bekannten Vertreter der »Österreichischen Schule« der Wirtschaftswissenschaft, auf die sich einige libertäre Wirtschaftswissenschaftler immer noch berufen. »Persönlich ziehe ich einen liberalen Diktator einer demokratischen Regierung ohne Liberalismus vor«, sagte Hayek 1981 bei einem Besuch in Chile, wo Diktator Augusto Pinochet die Wirtschaft mithilfe neoliberaler Wirtschaftsexperten aus den USA reformierte. Liberalismus bedeutete für Hayek in erster Linie wirtschaftliche Freiheit. Demokratie schien ihm dafür nicht unbedingt nötig. In Lateinamerika fällt dieses Denken auf fruchtbaren Boden. Der Kontinent hat eine lange Tradition des Autoritarismus. Ein liberales Bürgertum wie in Europa hat es hier nie gegeben, die meisten sogenannten »Liberalen« stehen politisch weit rechts. Dieser Etikettenschwindel könnte erklären, warum die der FDP nahestehende Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit (FNF) jahrelang Milei und andere Rechte in der Region gefördert hat. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass Milei die deutschen Liberalen mit seiner libertären Wirtschaftstheorie verführt hat. Dieses Netzwerk neoliberaler, libertärer und ultrarechter Thinktanks aus den USA hat auch Donald Trump in den USA und den rechtsextremen Ex-Präsidenten Jair Bolsonaro in Brasilien ideologisch unterstützt. Als Redner war Milei häufiger Gast auf Veranstaltungen dieser Thinktanks. Wirtschaftlich libertäre Zirkel, die den Staat auf ein Minimum reduzieren wollen, feiern jeden politischen Winkelzug des argentinischen Präsidenten, als säße er nicht in Buenos Aires, sondern in Berlin. Hinter ihnen verbergen sich oft rechte Ideologen. Milei bedient die Sehnsucht vieler Argentinier nach einem Erlöser. Gern vergleicht er sich mit Moses, oft beruft er sich auf die Bibel. Um Argentinien aus der Wirtschaftskrise zu führen, müsse man nur den Gesetzen der Ökonomie folgen, versichert er gern. Widerspruch duldet so jemand nicht. Wer ihn kritisiert, disqualifiziert sich automatisch als Dummkopf, so stellt er es dar.“ (SPIEGEL.de)

Was steht heute, in der Krise der Welt, auf dem Spiel?

Die Antwort auf die Frage: Welche Wirtschaft hat recht? Ist Wirtschaft eine Naturwissenschaft, die den Regeln einer harmonischen Uhr Gottes folgt – oder eine Fleißaufgabe der Menschen, die diesen Glauben an die perfekte Schöpfung nicht mehr teilen können und selbst eine Ordnung herstellen müssen: die Ordnung der Vernunft, die keinen Gott mehr benötigt?

Leibniz glaubte an die beste aller möglichen Welten, nicht an die vollkommene. So realistisch war er, dass er Fehler in der Natur einräumen konnte.

Eben dies war die Einflugschneise der Moderne, die – durch Erfindung der Naturwissenschaften – sich nicht nur der Antike überlegen fühlte, sondern auch dem christlichen Schöpfer.

Die Gottebenbildlichkeit des Menschen sollte ihn befähigen, die Schrammen der Natur durch eigene Kraft zu korrigieren.

Für die Antike war der Kosmos ein perfektes Ding, das der Mensch durch perfekte Moral bewahren konnte. Den christlichen Sündern waren solche Perfektionen heidnische Hybris. Nur ihrem tätigen Glauben war es möglich, diese Vollkommenheit durch tiefe Glaubensperfektion schrittweise zu erlangen.

Für die Antike gab es sehr wohl ein Ziel der Natur: das Glück des Menschen. Wer es schaffte, durch ein angemessenes Leben glücklich zu werden, der gehörte zu den Lichtgestalten des Kosmos.

Glück musste man lernen oder sich erarbeiten – durch eine naturidentische Moral. Im Glück des Menschen wurde die Natur mit sich identisch.

„Es gab nur ein wirkliches Glück: gut oder gerecht zu handeln. Diese Überzeugung ist nicht nur eine Erkenntnis, sondern auch eine Kraft: der gute Mensch ist stärker als der böse, und dieser kann jenem keinen wirklichen Schaden zufügen. Diese unerschütterliche seelische Handlung war ein höherer Wert als alle äußeren Güter zusammen.“ (Nestle)

Auch die Griechen kannten die zirkuläre Zeit. Nicht alles blieb im absolut perfekten Zustand. Wenn es sich über ein bestimmtes Maß hinaus verschlechterte, drehte sich die Zeit und alles begann von vorne.

Teilweise übernahmen Christen dieses Modell, aber ohne an die Möglichkeit eines kompletten Neuanfangs zu glauben. Stattdessen endete alles in der messianischen oder apokalyptischen Endzeit mit doppeltem Ausgang: die Erwählten ins Himmelreich, die Verworfenen in die Hölle.

Noch immer suchen wir den Frieden. Ist Fortschritt die Voraussetzung für den Frieden?

Nie und nimmer. Fortschritt blockiert jeden Frieden als Glücksziel des Lebens. Sie blockiert alles Vernünftige mit dem Blick ins Grenzenlose, sie verurteilt alles Gegenwärtige als Pfusch, der nur weiteren Pfusch zulässt und fordert. Wer kein Ziel kennt, kennt keinen Frieden als harmonischen Abschluss seiner Zeit.

Warum regredieren die heutigen Völker immer mehr in ihre garstige Vergangenheit? Allzu lange haben sie nach echtem Glück als Ziel der Menschheit gesucht. Als sie keines fanden, sagten sie jeder Zukunftsverheißung Ade und marschieren seitdem zurück in die Vergangenheit.

Ist KI die Voraussetzung einer Entwicklung der Menschheit ins allgemeine Glück?

Nie und nimmer. Wer einer KI alles anvertraut, traut sich selbst nichts mehr zu. Glück ist nur in niederen Bereichen delegationsfähig. Besitzt ein Herr einen intelligenten Knecht, ist er noch lange nicht selbst intelligent. Heute wird KI zum Lebensersatz des Menschen – der vergessen will, wie er leben kann.

Die Menschheit befindet sich in ihrer Fortschritts- und Zukunftsmanie auf dem Holzweg. Sie verrammelt sich jedes Nachdenken über autarkes und autonomes Glück.

Der Glaube an immer allmächtiger werdende Maschinen verbaut jede Glücksfähigkeit des Menschen – der alles Sinnvolle inzwischen von außen erwartet. Damit hat er das Humane der Menschheit restlos verspielt.

Frieden ist Eintracht mit sich, kein Impuls zur endlosen Bewegung ins Unbekannte.

„Fortschrittsglaube begann als ein säkularisierter Chiliasmus innerhalb der Religionsgeschichte des aufgeklärten 18. Jahrhunderts. Für Condorcet war er letzter Trost im Angesicht des Todes.“ (Rüstow, Ortsbestimmung der Gegenwart III)

„Was mich drückt, ist eine Sorge … für alle Zukunft. Das überhandnehmende Maschinenwesen quält und ängstigt mich, es wälzt sich heran wie ein Gewitter, langsam, langsam, aber es hat seine Richtung genommen, es wird kommen und treffen. … Man denkt daran, man spricht davon, und weder Denken noch Reden kann Hülfe bringen. Und wer möchte sich solche Schrecknisse gern vergegenwärtigen?“ (Goethe)

Das Lebensziel jedes Menschen sollte sein:

Ich weiß, was ich will – solange ich das weiß, will ich nicht sterben.“

Fortsetzung folgt.