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Natur brüllt! LVI

Tagesmail vom 12.02.2024

Natur brüllt! LVI,

welcher Begriff ist heute kaum zu hören – obgleich er vor kurzem noch die Weltpolitik beherrschte?

Frieden.

Es gibt heute keine Friedenspolitik mehr, kein gemeinsames Ziel der Menschheit. Was am bedrohlichsten auf uns zukommt, erscheint am willkommensten zu sein.

Geniale Maschinenerfinder schauen ins Grenzenlose und erblicken das Phantastische. Nur künstliche Intelligenz scheint fähig, die Tore des Paradieses zu öffnen: technische Utopie wird am meisten von denen erwartet, die sie am meisten in den Dreck zogen.

Die perfekte Maschine soll alles besser machen, was als Inhalt eines guten Lebens versprochen war. Es muss eine Paradiesmaschine sein, die zu allem fähig ist, wovon der Mensch bislang nur träumen konnte:

„Ich denke, der Sinn des Lebens besteht nicht darin, reich zu werden. Es geht eher um Erleichterung: darum, emotionale Anspannung loszuwerden, Zugang zu Wissen zu haben, unterhalten zu werden, Spaß zu haben und letztlich um mehr Zeit für Ihre Liebsten. Mein Ziel ist es, ein KI-System zu erschaffen, das Ihnen mehr Zeit verschafft, indem es Ihre Terminvereinbarungen übernimmt, Ihre Einkäufe erledigt und Ihre Rechnungen bezahlt. Wir müssten darauf vertrauen, dass so ein System zuverlässig ist und stets auf die gleiche Art und Weise handelt. Und wir müssten ihm emotional vertrauen, dass es immer auf unserer Seite ist. Denn was sie nicht selbst bauen oder bauen können, werden sie nie ganz verstehen. Überall werden wir mit weniger mehr erreichen. Medizinische Diagnosen, Bildung und persönliche Tutoren, selbstfahrende Autos, Logistik, Transport, Versicherungen, Kreditfinanzierung, das alles wird einen massiven Produktivitätsschub bekommen. Erst in der Zukunft werden wir uns fragen müssen, ob wir Nein sagen – wenn KI Autonomie und Selbstverbesserung entwickelt. Das wäre dann schwierig zu kontrollieren und einzuhegen.“ (SPIEGEL.de)

Ein allmächtiger Gott versprach seinen Gläubigen den Garten Eden – aber nur im Jenseits. Auf Erden gibt es nur Mühe, Arbeit und Sorge.

Eine allmächtige Erfindung liefert ihren Gläubigen ein mehr als vollendetes Leben. Dieses Mega-Super-Geschenk ist kaum abzulehnen. Platon erfand einen perfekten Staat als Zwangsbeglückung, eine KI wird Platon übertreffen und ihre Verheißung als unwiderstehliches Ereignis durchsetzen.

Ihr Menschen: legt eure dumme Arbeit nieder und wartet auf den Erfolg eurer Erfindungen, die euch in allen Dingen übertrumpfen werden. Politik – ade, wir brauchen kein demokratisches Palaver mehr, keine Auseinandersetzungen mehr um den Spiegelstrich einer Doku.

Muss der Mensch dann gar nichts mehr bringen? Weder Mathe studieren, noch seine Mitmenschen verstehen?

Doch, eine Kleinigkeit muss er mitbringen: das blinde Vertrauen in die Perfektion seiner technischen Geschöpfe.

„Wir müssten darauf vertrauen, dass so ein System zuverlässig ist und stets auf die gleiche Art und Weise handelt. Und wir müssten ihm emotional vertrauen, dass es immer auf unserer Seite ist.“

Sonst nichts, eine Kleinigkeit! Die Maschine wird etwas zustande bringen, wozu der veraltete biologische Mensch nie fähig sein wird: sie wird eine moralisch-perfekte Welt aus dem Ärmel zaubern.

Unlösbare Schwierigkeiten des Menschen werden im Handumdrehen verschwinden: ist der Mensch ein moralisches oder unmoralisches Wesen? Ist er fähig, seine Träume durch demokratisches Streiten mit seinen Mitmenschen zu lösen – oder wird er sich demnächst von der Erde verabschieden? Wird er es schaffen – der Menschheit Frieden zu bringen?

Alles wird er schaffen, antwortet lässig der KI-Jesus. Was früher Engel waren, sind morgen Friedensalgorithmiker. Früher musstet ihr an einen unsichtbaren Gott glauben, morgen nur noch an sichtbare Schrauben und Räder.

Bislang herrschten auf Erden vor allem Konkurrenzen. Wer sind die erfolgreichsten Welteroberer? Die listigsten Geldeintreiber, die aggressivsten Soldaten, die ersten Eroberer des Weltalls, die gescheitesten Erfinder?

Wenn aber Maschinen das Kommando übernehmen, werden Menschen von aller Anstrengung befreit.

Dann kommt das Friedensreich, von dem man einst träumte.

Stopp, Nachbesserung: zwischen den Völkern gab es tatsächlich auch einen ständigen Wettbewerb um Frieden. Vergleichen wir die Länder der drei Erlöserreligionen mit jenen Heiden, die sich auf ihre eigenen Fähigkeiten verließen.

„Friede sei mit euch allen“, war die Verheißungsformel der Offenbarer: ihr müsst nur an uns glauben. Glaubet ihr nicht, so bleibet ihr nicht. Folgt den Geboten des Himmels und werdet gehorsam. Dann werdet ihr die Früchte eures Glaubens empfangen, denn eure Sünden werden euch vergeben.

Aber nicht, solange ihr noch lebt, denn es gibt zu viele Neidhammel, die euch das friedliche Leben auf Erden missgönnen. Ihr müsst warten, bis ihr im Himmel angekommen seid.

Ganz anders die Kulturen, die nur ihren eigenen Fähigkeiten folgten:

„Die chinesische Geschichtsschreibung hat ethisch-moralische Tendenzen. Völkerschicksale im Guten wie im Bösen erscheinen als Folgen von Tugend und Laster. Solche Geschichtsschreibung ist pazifistischen Tendenzen durchaus zugänglich. Das Überwiegen agrarischer Wirtschaftsformen in China lässt uns überdies das Vorhandensein einer friedlich gesinnten Bevölkerung verständlich erscheinen.“ (Engelhardt, Weltbürgertum und Friedensbewegung)

Hierzulande gilt Laotse als perfekter Pazifist. Doch kann eine Bevölkerung überleben, wenn ihre Nachbarvölker nur das Schwert kennen? Wird sie nicht überfallen und unterjocht, wenn nicht vom Erdboden vertilgt?

Als die Ukraine von den Russen überfallen wurde, gab es ein schnell vorübergehendes Gefecht zwischen Alt-68ern, die den Geruch des Urevangeliums verbreiten wollten – und kühlen Machttheoretikern, die ohne Soldaten keine Überlebenschancen der Ukrainer sahen.

Das Gefecht ging schnell vorüber, aber ohne Lösung.

Denn längst hatten sich die Großmächte nach dem Weltkriegsende einander angenähert, Russland schickte Gorbatschow und zum ersten Mal im Kalten Krieg kehrte Frieden ein. Deutschland nahm Abschied von seinen Urdebatten und versenkte sich in Wirtschaftsfragen.

Das schien gut zu gehen – bis gestern. Doch jetzt ist die deutsche, um nicht zu sagen altpreußische, Tüchtigkeit abhandengekommen. Der Deutsche will nur noch malochen, um seinen Welturlaub zu finanzieren. Ansonsten überlässt er sich dem Mitläufermodus seiner Politiker – und lässt Gott walten. Sein Gott ist zugleich der Gott seiner einstigen Befreier, und was in Silicon Valley geschieht, beweist ihm die Vorzugsstellung des christlichen Westens.

Allmählich aber wird der einstige Musterschüler der USA nervös. Muss er denn wirklich überall dabei sein – oder schaffen es seine Mentoren diesmal allein, die Führung der Welt in der Hand zu behalten? Eine funktionierende Führung ist immer ein gegenseitiges Vertrauensverhältnis. Man muss einander glauben, um erfolgreich miteinander zu kämpfen. Verschwindet der Glaube an die Tüchtigkeit des Anderen, geht’s mit Führern und Geführten abwärts.

Mit anderen Worten: zwischen USA und Germany beginnt der längst überfällige Abnabelungsprozess. Wichtiger als geniale Maschinen wird den Deutschen das überbordende Spektakelwesen Amerikas. Das bewundern sie – aber nur zum Schein. Insgeheim erwarten sie das Ende der Weltnation.

Der Glanz von Silicon Valley schwindet, dafür steigt die Faszination des Super-Bowl:

„In Europa pflegen wir eine besonders abstruse Form von Ambivalenz: Wir schauen nach Amerika, gruseln uns und sind zugleich fasziniert. Dabei ist gerade das US-Bild der Deutschen maßgeblich geprägt von der Figur an der Spitze.Wir lassen uns in die inneren Widersprüche eines Landes hineinziehen, die nicht die unseren sind – und kümmern uns dabei viel zu wenig darum, wie wir Deutschland und die EU insgesamt so weit stabilisiert bekommen, dass wir aus eigener Kraft handlungsfähig werden. Während die öffentliche Aufmerksamkeit auf den mikroskopischen Details der inneren Verfassung der USA liegt, gerät unsere eigene Verfassung aus dem Blickfeld. Amerika ist große Unterhaltung. Das ist keine Kritik, sondern eine Qualität. Die soft power der USA, eine Formel, die der Politikwissenschaftler Joseph Nye geprägt hat, resultiert gerade aus ihrer kulturellen Anziehungskraft – samt Hollywood, Taylor Swift und (meinetwegen) Super Bowl, samt genial-größenwahnsinnigen Unternehmern wie Elon Musk, Techriesen wie Microsoft, Apple, Alphabet und neuerdings Nvidia und OpenAI. Statt auf die USA zu glotzen, uns zu ärgern, zu amüsieren, mitzufiebern, uns abgestoßen oder betört zu fühlen, sollten wir diese vitale Schaffenskraft als Ansporn nehmen, selbst Großartiges zu leisten – mit unseren eigenen Charakteristika, nach unseren eigenen Bedürfnissen.“ (SPIEGEL.de)

Sollen wir uns wieder anstrengen? Wenn wir uns wieder in die Wirtschaft stürzen, beweisen wir nur, dass wir nichts gelernt haben. Denn Wirtschaft ist Naturschädigung, und Naturschädigung wird die Menschheit mit Sicherheit dezimieren, ja vielleicht ausrotten.

Wir bräuchten Frieden mit der Natur. Wie aber könnten wir uns allein erlauben, die Natur zu schonen, wenn die meisten Völker gar nicht daran denken, ihren Kriegszug gegen Baum und Tier einzustellen?

Laotse hat den souveränen Frieden verkündet: den rational-möglichen auf Erden. Mit dem Himmel hatte dieser Frieden nichts zu tun. Souveräner Frieden ist unbedingter Friedenswille, geschützt von Abwehrbereitschaft auf minimaler Ebene.

Rationaler Pazifismus ist gerüstet, er kann sich zur Wehr setzen, wenn er angegriffen wird. Aber er wird immer als erster die Friedensflagge hissen.

„Die Ackerwirtschaft des Landes verlangt Frieden, um sich entfalten zu können – und doch wieder Krieg, um gegen die ringsum hausenden feindlichen Gewalten geschützt zu werden. Notwendig ist körperliche Kriegstüchtigkeit für den Fall der Notwendigkeit des Kampfes. Der Edle siegt, aber er freut sich nicht.“

Echter Pazifismus ist Frieden mit Mensch und Natur. Frieden mit Menschen kann sich in Notwehr verteidigen, Frieden in der Natur muss sich in Einklang mit ihr bringen.

Aber auch Frieden mit der Natur muss politisch durchdacht sein. Entschlösse sich nur ein Land zur Naturverträglichkeit, würden die anderen Völker diese Dummheit missbrauchen. Hier hülfe nur ein Bündnis mit allen Völkern.

Denn Natur ist ein Ganzes und nur, wer das Ganze rettet, rettet auch das Einzelne. Ein echter Frieden mit Natur und Menschen kann nur als Kosmopolitismus erfolgreich sein: alles oder nichts. Denn auch die Wirtschaft ist global geworden. Wer sich nicht an der allgemeinen Vernetzung beteiligt, hat von Frieden nichts verstanden.

Ganz anders als die Friedensvorstellung der Chinesen ist der überirdische Frieden der Erlöserreligionen. Ursprünglich wollten die Christen mit Kaiser Augustus konkurrieren: wer ist der größte Friedensstifter der Welt: der große mächtige Kaiser oder das kleine Jesulein in der Krippe? Deshalb wurde der Kaiser in der Geburtsgeschichte Jesu erwähnt:

„Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde. 2 Und diese Schätzung[1] war die allererste und geschah zur Zeit, da Quirinius Statthalter in Syrien war.“

Wer würde das Rennen machen und der Welt echten Frieden bringen: der mächtige Philosophenkaiser in Rom – oder der armselige Erlöser am Kreuz? Hatte der Heiland nicht selbst die Antwort gegeben, als er sagte: „Ihr sollt nicht wähnen, dass ich gekommen sei, Frieden zu senden auf Erden. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu senden, sondern das Schwert.“ War das nicht die Antwort, die wir kennen – bis heute.

Ein deutscher Gelehrter bestätigt:

„Daher sind die betreffenden Stellen des Neuen Testaments nicht zu fassen als Äußerungen über den Frieden als den dem Kriege entgegengesetzten Zustand im Leben der Völker, sondern als solche über den von den Christen zu erstrebenden und ihnen verheißenen inneren Frieden.“ (Hans Prutz, Die Friedensidee)

Seit der Abkehr von der Französischen Revolution begnügten sich die Deutschen mit dem inneren Frieden. Daher ist es seltsam, dass derselbe Hans Prutz die merkwürdige Frage stellte:

„Welche Gründe haben es bewirkt, das das deutsche Volk an den Erörterungen über die Möglichkeit eines allgemeinen Friedens einen verhältnismäßig so geringen Anteil genommen hat?“

Antwort: weil die Deutschen die Innerlichkeit vorzogen – damit sie in der gesetzlosen Äußerlichkeit munter losfeuern konnten. Die deutsche Innerlichkeit war kein Revier des Friedens und der Einkehr, sondern ein verstecktes Refugium der Amoral. Innerlich bin ich mein eigner Gott, niemand kann mir sagen, was ich zu tun habe.

Kant, der Friedensphilosoph, war keineswegs ein kategorischer Feind jedes Kriegs:

„Der Krieg war ihm auch eine sittlich berechtigte, unter Umständen sittlich gebotene Form menschlicher Betätigung.“

War das taoistischer Realismus – oder eine von deutscher Innerlichkeit geforderte, listige Machtpolitik?

So stehen wir heute: schwankend zwischen gesetzloser Innerlichkeit und abendländischer Angeberethik – und wissen nicht, wohin.

Fortsetzung folgt.