Kategorien
Tagesmail

Natur brüllt! LIV

Tagesmail vom 05.02.2024

Natur brüllt! LIV,

Spottet nimmer des Kinds, wenn noch das alberne
Auf dem Rosse von Holz herrlich und viel sich dünkt,
O ihr Guten! Auch wir sind
Tatenarm und gedankenvoll! (Hölderlin, An die Deutschen)

Was ist effektiver – der überlaute oder der schweigende Protest?

Sind wir immer noch, wie Hölderlin tadelte: tatenarm und gedankenvoll?

Nein, wir sind voll lärmender Hetze – und unsere Gedanken haben sich längst aus dem Staub gemacht. Nun stehen wir da: taten- und gedankenleer.

Unsere Betriebsamkeit ist zwar außerordentlich, doch wenn sorgsame Gedanken fehlen, gibt es nur Maschinenlärm mit geldbesessenem Rechnen, das jeden Hüte-Gedanken zum Teufel jagt.

Denken ist zum Gehirnschmalz geworden, zu nichts anderem fähig als Rechenmaschinen am leeren Laufen zu halten, die das Erdreich ruinieren.

„“Spectant victores ruinam naturae“: der Mensch wähnt sich als Sieger über die Natur, triumphierend schaut er ihrem Zusammenbruch zu: seinem Werk, auf das er stolz ist – ohne sich darüber im Klaren zu sein, was er tatsächlich angerichtet hat und dass die ruina naturae auch ihn unter sich begraben könnte.“ (Weeber, Smog über Attika)

Weg mit dieser naturfressenden Technik, so lautete die Formel der ersten Stunde. Inzwischen haben die Fortschrittler längst gelernt, die Vernichtungsforderungen der ersten Ökologen außer Gefecht zu setzen:

Nein, wir müssen die Technik nicht in Bausch und Bogen zertrümmern. Es genügt, sie naturfreundlich umzugestalten. Müssen Natur und Mensch, organische Krume und künstliche Intelligenz Todfeinde sein? Nein, sie müssten nur lernen, sich zu vertragen, um die Einheit von Natur und Mensch auf neuer Basis herzustellen.

Doch da steht bereits John Seymour vor dem Kanzleramt und hält eine Papierrolle in die Höhe:

„Das Szenario des gemilderten Wachstums wird nicht funktionieren. Es wird unseren Planeten nicht retten. Technologie wird nicht die Krankheit heilen, die die Technologie geschaffen hat. Nur eine fundamentale Änderung unserer gesamten Haltung gegenüber der Welt, dem Leben, der Arbeit und dem Konsum kann das bewirken.“ (ebenda)

Einwand der Produzenten: wird das geschrumpfte Angebot unserer Fabriken nicht das Glück der Menschheit auch schrumpfen lassen?

Seymours Antwort: „Soweit ich weiß, gibt es kein Instrument, das Freude oder Glück messen kann. Das ist eine Sache, die Ökonomen nicht in ihre Kalkulation einbeziehen können, weil sie dafür keine Zahlen haben.“ (ebenda)

Hier stoßen wir auf einen Unterschied zwischen Wissenschaft und Wissenschaft, den die Wissenschaftssucht der Gegenwart nicht zur Kenntnis nimmt. Eine Hauptursache der gegenwärtigen Malaise.

Seit Newton, Galilei gibt es Wissenschaften, die Naturgesetze mit mathematischen Methoden erkennen. Neben diesen exakten Gesetzen gibt es nichtexakte, die die Ansichten der Menschen vermischen mit selbsterdachten Auskünften der Geisteswissenschaftler.

Um eine schwierige Frage zu beenden, stellen die Medien gern einen Wissenschaftler vor mit der Formel: Untersuchungen haben ergeben, dass …

Doch diese Formel führt in die Irre. Sie erweckt den Eindruck, dass alle Wissenschaften von gleicher Qualität wären. Sind sie nicht.

Selbst Naturwissenschaften können exakte Zahlen liefern. Doch was die bedeuten, muss nicht identisch sein mit dem, was die Interpreten der Gesetze von sich geben.

Zahlen der Geisteswissenschaftler hingegen sind nur Ergebnisse ungefährer Benennungen, die nicht identisch sind mit exakter Realität. Die Methoden ihrer Berechnung sind nur ungefähr, was Experten statistisch nennen. Der Krankenstand einer corona-geschwächten Schulklasse kann nur ungefähr erhoben werden, weil die Symptome der Krankheit nur ungefähr bekannt sind.

Pisa-Erkenntnisse, mit denen die Intelligenz der Kinder weltweit erhoben und verglichen werden, sind besonders fahrlässig. Hier schwimmt alles in trüben Gewässern.

Was man ursprünglich unter Intelligenz verstand, war in jeder Kultur anders. Heute hat man sich auf die Maschinenformel geeinigt: intelligent ist, wer das Wissen der Industrie exakt imitiert. Mit autonomem Erkennen hat diese Intelligenz nichts zu tun.

Wenn wir Seymours Kritik an der Technik Recht geben, wären jene Länder am intelligentesten, die sich von der Technik am schnellsten trennen und zurückkehren würden zur naturnahen, giftfreien Landwirtschaft.

Wäre diese in der Lage, die Milliarden Menschen der heutigen Erdbevölkerung so gut, ja vielleicht besser zu ernähren als die auf Gewalt beruhende Welt der Maschinen?

Befürworter der unendlichen Technik werden diese Frage verneinen, doch statt Beweisen liefern sie nur Glaubenssätze, beruhend auf gelegentlichen Experimenten, die keineswegs die Realität exakt widerspiegeln.

Ihre Behauptungen ruhen auf dem Credo, dass Fehler der Wissenschaft nur von der Wissenschaft selbst korrigiert werden können. Dieses Credo ist das Erbe der Religion, die nur Allmacht und Allwissen propagiert, aber im irdischen Leben versagt hat.

Die modernen Wissenschaften wollten die Vagheit des Glaubens überwinden, indem sie deren Formeln durch rechnerische Pseudoerkenntnisse ersetzten. Fast das gesamte Gebiet der heutigen Wissenschaften ist nichts anderes als in empirische Erkenntnisse übersetzte Glaubenssätze.

Moderne Wissenschaft will der Menschheit ein fortschreitendes Glück beschert haben.

Wenn Seymours These Recht hat, wären wir für immer verloren – wenn wir bis morgen früh die Elemente unserer angeblich überlegenen Kultur nicht vollständig auf den Kopf gestellt haben:

Längst sind die aus allen Poren blutenden Wunden unserer tollen Kultur auf der ganzen Welt sichtbar geworden. Doch der Glaube unserer Experten bleibt unerschütterlich.

„Die Industrielle Revolution verursachte die drastischsten Veränderungen der Lebensweisen seit Beginn des Landbaus. Sie verwandelte den Großteil der Menschen in Maschinen-Bediener. Sie zerstörte die Würde der Arbeit und der Freude an der Kreativität. Sie verdammt Millionen von Menschen zu einem Leben unter schrecklichen Bedingungen, in den Slums der Großstädte. Ebenso begann sie, die Lebenssysteme unseres Planeten zu bedrohen, und wenn es unkontrolliert so weitergeht, wird sie ihn zweifellos zerstören – oder wenigstens das Leben auf ihm, einschließlich unseres eigenen.“

Nehmen wir die offensichtlichsten Symptome der Gegenwart:

„Die Bewegung von Waren ist grundsätzlich umweltverschmutzend.

Es ist erwiesen, dass wir all die Nahrung, die wir brauchen, ohne Verwendung von Agrochemikalien anbauen können.

Die Mechanisierung macht immer mehr Leute arbeitslos.

Fabriken, die Agrochemikalien herstellen, verschmutzen immer mehr die Umwelt.“

Ein schreckliches Beispiel aus dem heutigen Afrika:

„Die Cholera breitet sich auf dem Kontinent aus. Schuld daran sei auch der Klimawandel, sagen Experten. Sie warnen: Künftig werden solche medizinischen Notlagen häufiger, und sie treffen vor allem die Ärmsten in den Ländern des Globalen Südens – obwohl die kaum etwas zum Klimawandel beitragen. »Das ist erst der Anfang, eine Art Weckruf«, sagt Professor Roma Chilengi vom staatlichen Zambia National Public Health Institute. »Wir werden eine starke Zunahme an Krankheitsausbrüchen sehen. Die Entwicklungsländer stehen wegen des Klimawandels vor massiven Problemen. Das sollten endlich alle begreifen.«“ (SPIEGEL.de)

In einer friedlichen Menschheit gäbe es keine Konkurrenz der Völker, um die beherrschende Nation der Welt zu werden. Wettbewerb lässt sich zurückführen auf den Agon der ersten Demokratien – den Wettkampf um die humanste Wahrheit in Philosophie, Kunst und Literatur.

Diese Konkurrenz verlagerte sich auf den Wettbewerb der Starken in den Sportarenen, und dann in den Bereich der Ökonomie. Die Reichsten wurden auch die Einflussreichsten und Mächtigsten in der Stadt.

Heute sind Kunst, Philosophie und Literatur nur noch Möchtegerntribunale. Die wirklichen Machthaber verachten die Streitigkeiten ihrer Feuilletonisten.

Zu welchen Konsequenzen dies führe, zeigt ein Kommentar im SPIEGEL über die momentanen Demonstrationen:

„Ich glaube, die Demonstrationen haben mehrere gute Seiten, aber auch eine schlechte. Die guten Seiten wurden vielfach beschrieben: Zeichen setzen, selbstvergewissern, anderen den Rücken stärken. Die schlechte Seite ist, dass die Demonstrationen die Gesellschaft in zwei Teile spalten, in böse AfD-Wähler und gute AfD-Bekämpfer, dazwischen gibt es nichts. Diese Polarisierung ist schädlich. Wer schwarz-weiß malt, fordert die Leute, die sich mit ihrer Meinung im Graubereich bewegen, dazu auf, sich für eine Seite zu entscheiden. Das tun sie dann auch, aber eben leider nicht immer in der gewünschten Weise. Wenn ich die AfD wäre, würde ich den Demo-Veranstaltern anonym Geld zustecken, damit sie möglichst viele linke Aktivistinnen und Aktivisten von Fridays for Future oder Pro Asyl ans Rednerpult lassen. Spalten statt versöhnen: Da freut sich der Extremist.“ (SPIEGEL.de)

Waren die Mitglieder der Weißen Rose Spalter der Gesellschaft? In einer totalitären Gesellschaft geht es gar nicht anders: gelegentlich muss man spalten, wenn man zum Widerstand aufrufen will.

Jede vitale Demokratie ist eine gespaltene, denn sie streitet um die wichtigsten Fragen. Schärfste Kritik und einfühlsamstes Verständnis des Gegners: das wären die wichtigsten Fähigkeiten eines Demokraten.

Das Gegenteil wäre geheuchelte Einheit. Wahre Demokraten müssen standfeste Streiter sein, um der Demokratie würdig zu bleiben. Wer sofort in die Knie geht, ist ein läppischer Mitläufer, aber kein aufrechter Demokrat.

Es war postmoderner Unfug, den sokratischen Dialog für inhuman zu erklären, weil er dem Mitstreiter die Möglichkeit der „Niederlage“ nicht erspart. In echten Dialogen gibt es keine Verlierer, sondern nur Gewinner, weil beide sich dem Prozess der Wahrheitsgewinnung unterziehen. Wenn ich meinen Irrtum erkenne, habe ich bereits einen Rockzipfel der Wahrheit erfasst.

Heribert Prantl steuerte noch einen interessanten Kommentar zur Weimarer Verfassung bei, weil viele Vergleiche zwischen heute und der damaligen Zeit gezogen werden:

„Die Weimarer Verfassung war eine bemerkenswert gute Verfassung, aber die Zeiten, in denen sie Geltung hatte, waren bemerkenswert schlecht. Die Weimarer Verfassung war modern, sie war aufklärerisch, sie war emanzipatorisch; sie brachte das Frauenwahlrecht, sie war ihrer Zeit voraus. Die Weimarer Verfassung war nicht, wie heute oft behauptet wird, ein Murks, sondern ein Glanzstück. Es stehen darin Artikel, die man heute noch mit Respekt und Stolz zitieren mag; zum Beispiel der: „Die Ordnung des Wirtschaftslebens muss den Grundsätzen der Gerechtigkeit mit dem Ziele der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle entsprechen.“ In der Weimarer Verfassung steckte schon die Vision eine freien und solidarischen Bürgergesellschaft. Damals, vor 105 Jahren, beschwor die Nationalversammlung den Geist von Weimar. Sie meinte die aufklärerischen und humanistischen Traditionen, für die die Dichter der deutschen Klassik, für die Goethe, Schiller und Herder stehen. Reichspräsident Friedrich Ebert legte deshalb zu Beginn der Beratungen am Goethe-Schiller-Denkmal einen Kranz nieder: „Genius loci“ stand auf der Schleife.“ (Sueddeutsche.de)

Gerechtigkeit? Ein unbekannter Begriff heute. „Was ist Gerechtigkeit, Herr Henkel,“ wurde vor Jahren ein führender Hayekianer im Fernsehen gefragt. „Ach, wissen Sie“, war die Antwort, „jeder hat hier seinen eigenen Begriff“, womit er nahtlos überging zum System der neoliberalen Wirtschaftsgesetze.

In einem Punkt irrt Prantl: die Weimarer Klassiker waren keine Demokraten. Sie waren ästhetische Humanisten. Kunst ist an die Form gebunden, „vom Inhalt völlig unabhängig. Kunst soll frei machen von der Moral, sie soll den kleinlichen Moralismus der Aufklärung überwinden.“ (Lütgert, Die Religion des deutschen Idealismus und ihr Ende)

Der deutsche Humanismus war inhaltlich entbeint, er hatte viel mit Kunst zu tun, aber nicht mit Alltags-Politik. Die Anknüpfung der Weimarer Republik an den Humanismus der deutschen Klassiker war ein Armutszeugnis.

Noch heute scharren die meisten deutschen Gelehrten und Studienräte mit den Hufen, wenn ihre hohen Gedanken die jämmerliche Wirklichkeit gestalten sollen. Frei schweben sie über der politischen Realität. Im Dritten Reich hat man nichts von ihnen gehört.

Nun wissen wir, warum die deutschen Medien objektiv und neutral sein wollen: sie empfinden sich als Adelsklasse ästhetischer Realitätsbeschreiber. Wer schon kann mit ihrem erlesenen, objektiven und neutralen Standpunkt mithalten? Wir Leser jedenfalls nicht. Bleiben wir doch unser ganzes Leben lang nichts als hoffnungslose Subjektivisten und pathologische Tagträumer.

Fortsetzung folgt.