Kategorien
Tagesmail

Natur brüllt! LIII

Tagesmail vom 02.02.2024

Natur brüllt! LIII,

Was tun, wenn Demokratie aus ihrem Schlaf erwacht und sich zu regen beginnt?

Immer demokratischer werden – bis jeder Mensch seinen politischen Willen einbringen, ihn mit Argumenten rechtfertigen und sich rundum wohlfühlen kann?

Doch was bedeutet das?

Warum fragst du so eigenartig? Bist du kein Demokrat? Hast du das nicht gelernt und in vielen Jahren eingeübt? Waren Schule und Elternhaus so miserabel, dass sie dir die Grundelemente einer Volksherrschaft vorenthalten haben?

Mal langsam, Demokratie ist ein Fremdwort, und Fremdwörter gab es bei uns nicht in der Familie.

Ach so, Flüchtling, stimmt’s? Das Alltägliche mühsam eingepaukt, aber das Wichtigste vergessen?

Okay, dann beginnen wir am besten mit dem ABC der Demokratie. Nicht erschrecken: mit einem trefflichen Zitat:

„Das Merkmal für das Wesen demokratischer Tüchtigkeit ist ihr Nutzen für das allgemeine Wohl. Dieses kann nur gefördert werden, indem man „dem Gesetz und Recht“ zu Hilfe kommt, denn das ist es, was den Bestand der Staaten und das Zusammenwohnen der Menschen ermöglicht und erhält.

Darüber hinaus wird man seine Nächsten unterstützen, wenn sie es brauchen. Unbestechlichkeit ist eine unerlässliche Forderung, doch der „wahrhaft gute Mann“ wird zugleich erhaben sein über „Gewinnsucht, Ehrgeiz und Machtgier“.“

Wenn das persönliche Wohl jedes Einzelnen gleich viel wert ist, kann das Recht des Stärkeren, der Wille zur Macht, keine demokratische Gesinnung sein. Genauso wenig wie die Meinung, dass Gehorsam gegen das Gesetz nur Schwäche sein kann. Die Unterschiede zwischen Arm und Reich werden ausgeglichen. Alles, was getan wird, kann ohne Angst, Sorge und Kummer geschehen.

In sozialer Hinsicht erwartet er weder eine Herrschaft der Reichen, noch eine Herrschaft der Armen. Von einer gesunden Volksherrschaft erwartet er auch die Förderung der Besitzlosen. Politische und wirtschaftliche Gegensätze sollen ausgeglichen werden. Weder herrschaftssüchtige Reiche noch randalierende Massen sollen das Politgeschehen bestimmen dürfen.

Mit modernen Vokabeln: weder Gierige und Nimmersatte noch Faule und Behäbige sollen eine Demokratie dominieren. Gleichheit und Freiheit sind die Grundlagen einer demokratischen Gesellschaft.

Niemand, auch wenn er mehr leistet als andere, ist mehr wert als jener. Jeder soll bringen, wozu er fähig ist. Leistungen sind zwar unterschiedlich, doch der Leistungsfähigere ist nicht zugleich der bessere Mensch.

Bis hierher mal. Erkennst du an diesen Worten deine Demokratie?

Nur schablonenhaft und ungefähr, aber nicht springlebendig und jedem das Seine bringend. Haben die Deutschen keine demokratische Tradition, in der sich dies alles von selbst versteht?

Auf keinen Fall. Demokratie war in England und in Frankreich von den Alten übernommen und in der Aufklärung zum ersten Mal in der Politik erprobt worden. Schiller, fast der Einzige unter den Klassikern, war ein früher Bewunderer der Französischen Revolution. Doch als die ersten inhumanen Taten über den Rhein drangen, wars aus mit seiner Begeisterung. Goethe war ohnehin kein Freund der Massen.

Was geschah? „Der Gipfel der Humanität. Der Zustand, in dem der Mensch am vollkommensten Mensch sein kann, das sollte jener ästhetische Zustand sein, der uns zuteil wird im Anschaun und Genuss der Kunst. Der notwendige Ausgleich für die unvermeidlichen Schädigungen des Menschen durch die fortschreitende Kultur, die diesen seiner Ganzheit und seiner vollen Humanität beraubt. Erst durch die Kunst, erst durch die Teilnahme an einem höheren, weiteren und volleren Leben, wie es uns durch die Kunst vermittelt wird, werden wir wieder zu wahren Menschen. Kunst ist daher, so könnte man zusammenfassen, die Erlösung des Menschen aus der Fron der Arbeit, das heißt, der arbeitsteiligen Kultur, welch letztere zwar ein Fortschreiten zu immer höheren Menschheitszuständen, aber leider auch zu solchen ist, die den Menschen selbst auch immer fragwürdiger und erlösungsbedürftiger machen.“ (H. A. Korff, Geist der Goethezeit, Bd. 1)

An dieser Stelle wendeten sich die Deutschen, was demokratische Politik betrifft, von ihren griechischen Vorbildern ab und überließen die Machtfragen dem Adel und den Starken.

In Athen war Kunst ein Bestandteil der Demokratie. Politik sorgte für das Gute, das in der Kunst zum Schönen, in der Philosophie zum Wahren wurde. Die Deutschen lebten noch so sehr in himmlischen Höhen, dass der abstoßende Alltag nicht durch menschliches Tun besser werden konnte. Ab jetzt war die Welt der Deutschen zwiegespalten: Oben – oder im Theater, in der Literatur, in der Kunst – war alles vollkommen, Unten – im wirklichen Leben – blieb alles, wie es war: unvollkommen und abstoßend.

„Fliehet aus dem engen, dumpfen Leben
In des Ideales Reich!“

Dieses Ideal war die Humanitätsdichtung der Goethezeit: es war das Leiden des gebildeten deutschen Bürgertums an seinem Bürgertum. Die Bildung zum harmonischen Menschen musste in harter Arbeit dem Elend des Alltags entrissen werden.

Das war die ästhetische Erziehung des Menschen. Politik ade, Kunst, komm an meine Brust!

Ab jetzt wendeten sich die Deutschen dem Schönen zu – und begannen, die Welt in einen hässlichen Abfallplaneten zu verwandeln. Heute haben wir weder Gutes, noch Wahres und Schönes.

Doch was, wenn „aus der Beglückung durch die höhere Welt des Geistes eine verstärkte Unzufriedenheit mit der bürgerlichen Welt entsteht, so dass das praktische Leben in seiner bürgerlichen Wirklichkeit als Qual empfunden wird?“

Daraus wird das unglückliche Los der bürgerlichen Dichter. In der Spannung zwischen bürgerlicher Existenz und überbürgerlichem Idealismus, müssen sie zu jenen unglücklichen Existenzen werden, die die Dichter jener Zeit alle gewesen sind. Äußerlich besteht sie aus der Schwierigkeit ihrer alltäglichen Existenz. Ihr inneres Leben hatte nichts mehr zu tun mit ihrem äußerlichen Leben.

Es entstand das neue Phänomen der „Entfremdung“, jener Zustand der inneren Distanzierung des idealen Menschen von der realen Wirklichkeit. In der Frankfurter Schule wurde Entfremdung zum Zentralbegriff der leidenden Menschheit, verursacht durch übermächtigen Kapitalismus.

Schwermut, Wertherkrankheit, Weltschmerz wurden die Diagnosen der empfindlichen Deutschen. „Ihr äußerster Grad, wie ihn Hölderlin darstellt, ist jene schwermütige und auch äußere Absonderung von der bürgerlichen Gesellschaft, mit der Hölderlins Jugendroman Hyperion endet.“

Dieser Zwiespalt zwischen unerreichbarer Höhe des Perfekten und der Niedrigkeit des Alltäglichen vertiefte sich im Laufe der deutschen Geschichte immer mehr zur Kluft zwischen notwendigem Willen zur Macht und der Erlösung der Welt durch ein Drittes Reich.

Die Brutalität der Deutschen im Dritten Reich war für sie keine Amoral, sondern ein notwendiges Therapeutikum, um die Welt endlich dem Himmel näher zu bringen. (Siehe Himmlers Posener Rede)

Deutschland hat es bis zum heutigen Tag nicht geschafft, seine Zerrissenheit zwischen unerreichbarer Vollkommenheit seiner Kunst und seiner bedenkenlosen Machtpolitik seit Bismarck zu einer, wenn auch mit sich ringenden, Gesellschaft zusammenzubringen.

Zuerst wurden sie begeisterte Schüler des griechischen Schönen, dann der Französischen Revolution, des schottischen Kapitalismus, dem welterobernden Imperialismus des Westens, nach dem Krieg des amerikanischen Fortschritts.

Während Kunst das Ganze der kaputten Welt reparieren sollte, zersetzte sich die Welt immer mehr durch Zerfall der klassischen Künste. Nach dem Krieg – bis heute – gibt es nur Wirtschaft, die das Deutsche in vorbildlicher Perfektion in die Welt strahlen soll. Was aber, wenn auch die Wirtschaft durch die momentanen Krisen in den Abgrund rutscht?

In einem halben Jahrhundert haben die Deutschen lediglich technische Höchstleistungen oder harte Arbeit gezeigt. Wo blieb ihre Seele, ihre einstige Neigung zur ästhetischen Vollkommenheit? Es gibt keine Erbaulichkeit mehr, die die Deutschen zur Besinnung kommen lässt.

Übrig geblieben sind nur Geschwindigkeits- und Rekordfanatismus. Wer – wie die heutigen Griechen – nicht sofort seine EU-Pflichten erfüllen kann, wird durch einen gemütlichen Schwaben ins Bodenlose versenkt. Wie heißt die kalte Losung der EU? No bail out.

Mein Freund, erkennst du deine Demokratie wieder? Nein? Das wundert mich nicht. Deutschland war nach dem Krieg ein Abziehbild aller westlichen Staaten, vor allem von Hollywood und Silicon Valley.

In der Tat fielen wir zurück in die harten Zustände der beginnenden Demokratie in Athen, die das Ziel hatten, die Brutalität der Klassenkämpfe zu beenden.

„Während die wirtschaftliche und soziale Entwicklung auf eine Verschärfung des Gegensatzes von arm und reich, auf die Zunahme der Ungleichheit und Unfreiheit hindrängte, ist die politische Entwicklung beherrscht von den Ideen der Freiheit und Gleichheit. Diese Ideen waren damals noch weit radikaler verwirklicht als in irgendeinem demokratischen Gemeinwesen der Neuzeit. Selbst das „freie“ Amerika hat sich bisher noch nicht zur Höhe der Demokratisierung erhoben, wie sie Athen schon im 5. Jahrhundert erreicht hatte.“

Die damaligen Wirtschaftsverhältnisse waren – modern gesprochen – nichts anderes als Neoliberalismus der schärfsten Art. Erst Solon gelang es, diese Schärfe des Klassenkampfes in einer Ausgleichung der Exzesse zu mildern.

„Da Nutzung der Arbeitskraft zugleich Nutzung des Menschen selbst ist, so räumt der Arbeiter durch Verkauf seiner Arbeitskraft einem andern zugleich die Herrschaft über seine Person ein – demselben, dem er politisch als „Freier“ und Gleicher“ gegenübersteht. Seine ganze Lebensführung wird in körperlicher, moralischer, geistiger und damit auch sozialer Hinsicht abhängig vom Arbeitgeber. Hat doch selbst das Christentum diese Konsequenz des Lohnverhältnisses nicht zu beseitigen vermocht, dass der Arbeiter für die vulgäre Unternehmerlogik häufig nur als bloßes Werkzeug der Produktion in Betracht kommt – nicht als der Freie und Gleiche, der wie jedes andere Mitglied der Gesellschaft als Selbstzweck anzuerkennen ist.“

Mit anderen Worten, die damaligen Arbeiter waren kaum mehr als besser gestellte Sklaven.

„Wenn schon bei solch freier Arbeit eine solche Erniedrigung des Arbeitenden möglich ist, so kann dieselbe – bei aller politischen Freiheit – einer Wirtschaftsordnung nicht fremd sein, in der die Mehrheit der Arbeitenden der einfachsten Menschheitsrechte entbehrte.“

Man vergleiche diese Sätze mit einem Satz des freiheitsliebenden H. D. Thoreau:

„Ein tüchtiger und wertvoller Mensch tut, was er kann, ob die Gesellschaft ihn bezahlt oder nicht.“ (Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat)

Thoreaus Freiheit wäre die wahre Freiheit eines Arbeiters, der nicht daran denkt, seine Kompetenzen gegen Money völlig zu verkaufen. Wer kann das heute?

Wo stehen wir mit unserer heutigen Demokratie, mein Freund?

Nach den scharfen Kriterien der frühen Demokratie leben wir in einer verkappten Wirtschaftsdiktatur mit absurden Klassengegensätzen. Eine wirklich demokratische Reform in Richtung einer freien sozialdemokratischen Republik wäre heute eine Sensation.

Erst jetzt kommen Stimmen auf, die die Absurdität der heutigen Geldaristokratie zum Verstummen bringen könnten:

„Niemand sollte mehr als 10 Millionen besitzen. Seit 2020 wurden 60 Prozent der Menschheit ärmer, während sich die Konten der Milliardäre weiter füllten. Ingrid Robeyns fordert in einem neuen Buch, exzessivem Reichtum eine Grenze zu setzen. Ihre Gegner brüllen: Kommunistin, Kommunistin.“ (der-Freitag.de)

Solon, komm zurück und rette uns!

Fortsetzung folgt.