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Natur brüllt! LII

Tagesmail vom 29.01.2024

Natur brüllt! LII,

Sind das kleine Wunder? Sollte Old-Germany doch noch lernfähig sein?

Plötzlich sind Begriffe zu hören, die längst mit der Guillotine bedroht waren: „Schluss mit dem Übermoralisieren“!

Plötzlich hört man von Frieden, von Liebe, von Zusammengehörigkeit.

Rein zufällig und zeitgleich mit den mächtigsten Demonstrationen hierzulande seit Jahren – kramte die WELT in ihrem Abfallkeller:

„Und so schrecklich es klingen mag – jeder Versuch, die Erde zum Paradies zu machen, führt ins Gegenteil, in die Hölle.“

Kann die WELT nicht unterscheiden zwischen himmlischem Paradies und weltlicher Utopie? Immerhin traten Ernst Cramer und Matthias Walden nicht für religiösen Rückschritt ein, sondern für gemäßigte Reformen:

„Während linke wie rechte Ideologen die Wirklichkeit an ihren Theorien messen, suchen Liberalkonservative nach den Stellschrauben, mit denen die Realität vernünftig verbessert werden kann – und sei es stets auch nur ein wenig.“ (WELT.de)

Wer in Deutschland für Vernunft eintritt, weiß offenbar nicht, dass er für Utopie plädiert.

Das Reich der Vernunft ist bei Platon ein ideales Reich, weshalb Popper & Hayek ihm einen Faschismus des Vollkommenen vorhielten: die wenigen Weisen sollten den unverständigen Demos zu seinem Glück zwingen.

Das ging in der Tat zu weit. Doch Platon widersprach sich hier selbst, er wollte die Mitglieder der neuen Polis zur Vollkommenheit erziehen. Erziehen nicht mit dem Prügel, sondern mit der Einsicht ihres Verstands.

Am Ende seines Lebens verließ Platon die Geduld eines gütigen und verständigen Pädagogen – und er griff zur Peitsche. Damit wurde er zum Vorbild der von seinem perfekten Staat lernenden Christen, die als allerletztes Mittel ihrer Predigt die apokalyptische Hölle einsetzten, um die Menschheit zur Raison zu bringen.

Das Anpeilen einer Utopie – oder einer Vision – hat mit Geschwindigkeit nichts zu tun. Wer einen Berggipfel ersteigt, den erwartet keine schnelle und mühelose Gondel. Er muss sich mühsam mit den Gegebenheiten auseinandersetzen.

Der Weg zum Ziel kann beschwerlich und zeitraubend sein. Man muss aufpassen, dass kein Mitwanderer aus Leichtsinn in den Abgrund rutscht. Jeder Mensch muss die gleiche Chance haben, den Gipfel zu erreichen, wie seine Mitwanderer.

Keine Utopie ist so komplex und kräfteraubend, dass die Schwachen kapitulieren müssten. In der langen Geschichte der Menschheit sind nicht wenige „Paradiese“ bekannt, die in günstiger Umgebung noch heute existieren.

Die Moderne ist nicht der Pulk der Ersten, die den Hauch der Symbiose des Menschen mit der Natur in sich spüren. Wie die Wörter „links“ und „rechts“, so müsste auch der Begriff „Moderne“ wegen Vieldeutigkeit aus dem Vokabular der Politik gelöscht werden.

Er ist mindestens zweideutig. Einerseits prescht er nach vorne als Inbegriff der Aufklärung, andererseits steht er für genialen technischen Fortschritt, der alles unter sich zunichtemacht, wenn er nur ins Unbegrenzte davondüsen kann.

Beide Begriffe sind unvereinbare Gegensätze. Was humane Aufklärung für gut hält, wird vom amoralischen und unbegrenzten technischen Fortschritt verspottet. Der achtet nur auf den Erfolg seiner Maschinen.

Was diese Maschinen mit der Natur anstellen – so ihr Credo – muss immer gut sein. Sind sie es wider Erwarten nicht, muss der Fortschritt fähig sein, diese Fehler mit neuen Inventionen zu korrigieren.

Nietzsches Kritik an der Moderne ist eine Kritik an der sokratischen Vernunft, die es – leider – geschafft habe, die Gegenwart seit der Renaissance zu dominieren. Diese Moderne habe dazu geführt, die Herrschaft der „Sklaven-Moral“ herzustellen. Jede Form von Moral sei ein Zwangssystem, in dem der Mensch gebunden sei.

Der verwandte Begriff „Modernismus“ ist eine Erfindung der jetzigen Zeiten und bezeichnet eine „unter evangelischen Theologen der liberalen Richtung verbreitete Meinung, wonach der Rang einer Religion, auch des Christentums, nicht auf der Wahrheit ihrer Lehren beruhe, sondern auf der Gefühlsqualität der Erlebnisse, die sie vermittelt. Die Glaubenslehre ist der Ausdruck für die Schöpferkraft des Unbewussten, das Bilder erzeugt, in denen sich das religiöse Gefühl wiedererkennt.“ (Historisches Wörterbuch der Philosophie)

Kurz vor der Erfindung des Modernismus glaubten die Gottesmänner noch an die Unfehlbarkeit jedes Bibelwortes. Dieser Glaube wurde rüde vom Tisch gewischt und ersetzt durch willkürliche Gefühlsprojektionen. Man könnte auch von geistlichen Lügenmärchen erzählen.

Wir sprechen auch von der Postmoderne. Das Wörtchen post ist zum beliebten Vorwort geworden – aber ohne jeden klaren Inhalt. Ob etwas vor oder nach einem anderen Ereignis stattfindet, ist belanglos. Begriffe sind nur zu rechtfertigen, wenn sie sich um die Darstellung der Wahrheit bemühen. Alles andere ist „moderner Schnickschnack“. Die Sucht nach einem beliebigen Neuen ist die Krankheit der modernen Schaubühnen.

Die Moderne ist eine absterbende Epoche, weil sie den Begriff Wahrheit unter sich begraben hat. Die Scheu vor dem Wahren und Vernünftigen ist die Todeskrankheit der Moderne, die sich nicht traut, der göttlichen Wahrheit ihre eigene irdische Wahrheit entgegenzusetzen.

Wir sprachen vom Frieden und der Liebe, zwei besonders umstrittenen Moralbegriffen, bei denen die Reaktionäre der Gegenwart am liebsten ausspucken würden. Warum?

Sie fühlen sich in ihrer endlosen Freiheit eingeschränkt. Nachdem der religiöse Mythos in der Früh-Zeit der antiken Demokratie abgelöst wurde von der alleinigen Selbstbestimmung des Individuums, wurden die Vorlauten besonders empfindsam gegen – vermeintlich – kleinste Beeinträchtigungen durch fremden Willen.

Zum Teufel mit allem, was sich einbildet, mir sagen zu dürfen, was ich zu tun oder zu lassen habe.

Kommt dies jemandem bekannt vor? Dann hätte er auch recht, wenn er an die jetzige Supermoderne des Neoliberalismus dächte – die keinerlei Wahrheit zulässt, außer der ökonomischen. Mündige Moral gibt es nicht mehr.

Die autonome Vernunft des Menschen hat zu schweigen, seitdem die Naturwissenschaft zum Vorbild des Menschen in allen Dingen geworden ist. Die gesetzmäßige Natur dominiert, die Meinungen des Menschen werden uninteressant.

Diesen Kampf zwischen dem „Naturrecht der Starken“ und dem „Naturrecht der Schwachen“ gab es schon bei der Entstehung des Kapitalismus im demokratischen Athen.

Die Vertreter der reichen und erfolgreichen Klassen maßten sich an, durch ihren Erfolg den Schwachen und Armen alles vorschreiben zu dürfen, was sie selbst für richtig hielten. Macht und Erfolg bestimmten Wahrheit und Moral.

Die absolut Freien der Geschichte wurden, nach vielen Jahrhunderten des erbitterten Streits zwischen „Oben“ und „Unten“, zu den Superreichen und Supermächtigen der Gegenwart.

Die frühen Freiheitssüchtigen beschreibt Pöhlmann: „Der Selbstsucht, die nichts kennt als die Bedürfnisse des unersättlichen Ich, wird entgegengehalten, dass sie im letzten Grunde alle Gemeinschaft zwischen den Menschen (koinonia) und damit alle Bande der Sympathie oder Liebe aufhebt, dass sie eine allgemeine Ordnung und ein Recht eigentlich gar nicht mehr zulässt und damit negiert, was „Himmel und Erde, Götter und Menschen zusammenhält“. (Geschichte der Sozialen Frage)

Pöhlmann fährt fort: „Schon der Begriff der alles umzwingenden Weltordnung des Kosmos, dessen Wesen eben Ordnung, Harmonie sei, lasse eine Gesellschaft, die durch rücksichtslose Geltendmachung der Sonderinteressen zu einem Wirrsal anarchischer Kräfte geworden sei, als naturwidrig erscheinen. „Die „Pleonexie“, d.h. das Streben nach Gewinn auf Kosten der anderen, ist unvereinbar mit dem, was man verhältnismäßige Gleichheit nennt.“ Und jetzt müsste die Gegenwart genau zuhören, um die Krisen der grenzenlosen „Freiheit“ in den Griff zu kriegen:

„Hatte eine radikal-utilitaristische (amoralische Nützlichkeitslehre) Denkweise den Staat in ein Gewirr von atomistisch nebeneinanderstehenden Individuen aufgelöst, so erscheint hier das Getrennte wieder zu einer lebendigen Gemeinschaft verbunden, deren Glieder sich stets der Pflicht bewusst sind. Dass jeder sich in seiner Wirkungssphäre beschränke und zugleich immer so handle, dass seine Tätigkeit auch der Gesamtheit zugutekomme. Über die egoistischen sollen soziale Beweggründe die Herrschaft gewinnen, vor allem die sittliche Hingebung an die höchste Gemeinschaft, den Staat.“ (ebenda)

Eine Freiheit, die die Gesellschaft negiert, ist keine Freiheit mehr, sondern ein Chaos zum eigenen Vorteil und zum Nachteil aller andern. Das ist die heutige Gegenwart.

Zur Bekämpfung des vordemokratischen Wirrwarrs trat nun endlich – die Philosophie auf. Schon ab Homer, sicher seit Hesiod, Solon, Sokrates und vielen anderen wurden die moralischen Gesetze des humanen Zusammenlebens erdacht und im Volk verbreitet.

Was wir heute erleben, ist fast die genaue Wiederholung der klassischen Zeit in Athen. Auf der einen Seite die Rücksichtslosen im Namen grenzenloser Freiheit, auf der anderen die Rücksichtsvollen und Gemeinschaftsbildenden, deren Freiheitsbegriff eine Harmonie aus egoistischen und altruistischen Motiven sein sollte.

„Ab jetzt setzte eine mächtige Strömung ein, die von dem Gedanken ausging, dass alles individuelle Leben und Streben stets zugleich unter dem Gesichtspunkt seiner Zusammengehörigkeit mit dem Ganzen betrachtet werden müsse. An die Stelle einer Moral, welche mit Bewusstsein einer Dogmatik des Egoismus huldigte, deren letztes Ergebnis nur der Kampf aller gegen alle sein konnte, sollte eine reine Sittlichkeit treten, welche die Ziele des menschlichen Wollens über das Individuum hinaus verlegte, die verfeindeten Elemente der Gesellschaft aufs neue zu einer lebendigen Gemeinschaft zusammenzuschließen vermöchte. So soll aus dem Kampfe, der Gesellschaft und Staat zu zersprengen drohte, der Weg gezeigt werden zum sozialen Frieden, zu einer fortschreitenden Vereinheitlichung der Glieder des Staates. In diesem Sinn wird schon von Sokrates mit besonderem Nachdruck auf den Bürgereid hingewiesen, der jeden Hellenen auf die Pflege bürgerlicher Eintracht verpflichtet, und den Gemeinsinn (omonoia) als das höchste politische Gut proklamiert. In demselben Sinn erklärt Platon als höchstes Ziel aller Politik Friede und wechselseitiges Wohlwollen. Die Gemeinschaftsgefühle, die den Staat zusammenhalten und seine innere Einheit verbürgen, sie müssen vor allem gepflegt werden, auf dass der Staat ein „in sich befreundeter“ sei. Dieses „Ineinanderweben der Gemüter“ stelle durch Eintracht und Liebe das „allerköstlichste Geflecht her.

Der Selbstsucht, die nichts kennt, als die Bedürfnisse des unersättlichen Ich, wird entgegengehalten, dass sie im letzten Grunde alle Gemeinschaft zwischen den Menschen und damit alle Bande der Sympathie aufhebt, dass sie eine allgemeine Ordnung und Recht gar nicht mehr zulässt und damit alles negiert, was „Himmel und Erde, Götter und Menschen zusammenhält.“ (ebenda)

Soziales Geflecht, Moral des Miteinanders, Liebe, Friede, Sympathie und Gemeinschaftsdenken: eben das sind die Begriffe der Gesellschaft, die heute auf den Demonstrationen zaghaft ausgesprochen werden.

Ohne sie, so die Überzeugung vieler Redner und Teilnehmer, entkommen wir den immer tieferen Klüften der Menschen- und Naturkrisen nicht mehr.

Eben das ist schwer zu verdauen: dass schon vor mehr als 2000 Jahren, bei den ungläubigen Heiden, das Wissen um die Kunst des Zusammenlebens in brillanter und demokratischer Weise vorhanden war.

Was ist das schlimmste Übel der Gegenwart? Die natur- und menschenausbeutende Wirtschaft. Wie werden wir sie für unser aller Interesse bezähmen können? Durch Rückgang zu den Alten, die uns weit in ökonomischer Weisheit und politischer Klugheit übertreffen.

Auch das damalige Judentum und beginnende Christentum hatten die kapitalistischen Gefahren erkannt – wie wohl sie noch weitab von jenen entfernt waren – und entwickelten eine Kampf-Theologie, die die asozialen Reichen mit aller prophetischen Macht bekämpften.

Für Jesaja war die Katastrophe des Staates, die er verkündete, vor allem eine Katastrophe der Besitzenden. Er weidet sich geradezu an dem Gedanken, „wie die Vornehmen Israels hungern und die großen und feinen Häuser öde stehen und die Stadt von den Füßen der Armen und den Tritten der Geringen zertreten wird.“

Nicht anders bei Jeremia und Ezechiel. „Empor mit den Niedrigen und herunter mit dem Hohen.“

Doch die Frommen begingen einen entscheidenden Fehler. Statt das Geschäft der sozialen Verbesserung mündigen Menschen zu übertragen, verkündeten sie nur den allmächtigen Willen des Gottes, dem man sich zu beugen habe.

Die Frommen wurden zu devoten Gläubigen, die nichts aus eigener Kraft unternahmen. Dem Himmel blieb nichts übrig, als die Heilsgeschichte in einer grauenhaften Unheilsgeschichte zu beenden.

Dieser Glaube der Juden und Christen, heute noch immer präsent, endet „als größte Massenillusion der Weltgeschichte“. (ebenda)

Die Verdienste Pöhlmanns sind längst verschollen. Auch Marx war hochmütig dem Irrtum verfallen, dass die Alten in ökonomischen Fragen – verglichen mit seinen Genietaten – nichts zu melden hatten.

Pöhlmann und Rüstow: diese Namen kennt heute niemand mehr. Wir leben in fortgeschrittenen Zeiten.

Fortsetzung folgt.