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Natur brüllt! III

Tagesmail vom 04.08.2023

Natur brüllt! III,

„Die Menschen betreiben Raubbau an der Natur. Bis heute haben sie mehr verbraucht, als die Erde in einem Jahr produzieren oder absorbieren kann. Im Hoch-Konsum-Land Deutschland lag der Tag übrigens weit vor dem globalen Stichtag.“ (SPIEGEL.de)

Wir fressen die Erde bei lebendigem Leibe auf.

Widerstand? In Deutschland fast nicht. In der deutschen Wirtschaft überhaupt nicht. Die Industriellen tun, was sie dem Pöbel verbieten: sie predigen Moral.

Nicht Moral, die Welt zu humanisieren, sondern Moral, die Natur unbeirrt weiter auszubeuten, Wohlstand zu vergrößern, die Armen und Faulenzer zum Malochen zu nötigen und die Konkurrenz der wohlhabendsten Länder zu brechen.

Deutschland muss an der Spitze der Welt stehen. Alles, was nicht oben ist, kann man vergessen. Deutsche FußballerInnen haben versagt und das Land Fritz und Othmar Walters vor der Welt blamiert.

Arme haben kein Recht, die politischen Direktiven des Staates zu bestimmen. Wer ökonomisch nichts bringt, hat moralisch nichts zu sagen. Hören wir die amoralische Rede eines hochmoralischen Hayekianers:

„Wohlstand ohne Leistung ist Illusion. Ohne Wohlstand kein funktionierender Sozialstaat. Wohlstand gedeiht nur auf dem Humus der Marktwirtschaft, nicht der Planwirtschaft. Wir brauchen einen schlanken, dabei aber effizienten Staat. Wir brauchen ein Schul- und Bildungssystem mit Fokus auf Qualität und Anspruch. Vor allem aber brauchen wir eine schnelle Korrektur der ideologischen Klimapolitik. Sie schadet dem Land und bewirkt wenig bis nichts für den Klimaschutz. Das alles aber ist nur möglich, wenn eine offene Debatte geführt werden kann, wenn Deutschland wieder zu einem echten marketplace of ideas wird, auf dem hart in der Sache, aber fair im Umgang diskutiert wird, statt sich ständig im Moralisieren zu verlieren. Und das Land muss eine Tugend wiederentdecken, die irgendwo zwischen der Agenda 2010 und heute verloren gegangen ist: Ambition.“ (WELT.de)

Ambition heißt Ehrgeiz. Ehrgeiz wofür? Das deutsche Schreiben und Debattieren ist so substanzlos geworden, dass die nächstliegendsten Fragen nicht auftauchen.

Deutsche Sprache, nach zweitausendjähriger Schredderung durch den Heiligen Geist, hängt schwer in der Luft und sorgt für Erstickungsängste der Bevölkerung.

Mal langsam: sind wir denn keine christliche Gesellschaft?

Einst gab es kommunistische Länder, die dem Westen den Vorwurf machten:

„Ihr seid ja keine Christen“, sprachen die Kommunisten. „Ihr nennt Euch ja nur Christen. Die wirklichen Christen sind wir, die wir uns nicht Christen, sondern Kommunisten nennen. Denn ihr betet den Mammon an, während wir für die Unterdrückten kämpfen, für die Mühseligen und Beladenen.“

Ist diese Frage so schwer zu beantworten, dass sie bis heute nicht beantwortet werden kann? In der Tat. Die Begriffsdesigner des Heiligen haben so viele unterschiedliche Antworten bereitgestellt, dass es bis heute keine verbindliche gibt. Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen.

Nehmen wir 2. Kor. 8, Vers 9:

„Denn ihr kennt die Gnade unseres Herrn Jesus Christus: Obwohl er reich ist, wurde er doch arm um euretwillen, auf dass ihr durch seine Armut reich würdet.“

Eine Bestätigung für christliche Armutsideologie – oder fürs Gegenteil? Wie immer gibt es zwei Antworten. Diese Beliebigkeit und Relativität des Glaubens ist das Erfolgsgeheimnis des Gekreuzigten, der alles segnet und verdammt, wie es ihm in den Sinn kommt. Ein Gott unterwirft sich keiner Logik irdischer Wesen.

Popper: „Ist das Christentum ein einheitlicher Begriff? Gibt es nicht viele unvereinbare Interpretationen dieses Begriffs?“

Reitzle ist Hayekianer, der ein Freund des Karl Popper sein wollte – weshalb Gerd Habermann sich in seinem Buch „Der Wohlfahrtsstaat“ glaubt, auf Popper berufen zu dürfen:

In einer offenen Gesellschaft – dem Gegenteil eines moralischen Wohlfahrtsstaates – „gibt es keinen verbindlichen Wertkodex, die Individuen folgen ihren eigenen Präferenzen, handeln auf eigne Faust, sodass eine spontane Ordnung entstehen kann, deren weitere Merkmale (in der Wirtschaft) durch Wettbewerb, Tausch und Marktpreis entstehen.“

Eine spontane Ordnung ist keine geplante der menschlichen Vernunft, die in solchen Fragen überfordert wäre, sondern eine, die spontan entsteht, wenn man sich an bestimmte Spielregeln hält. Alles andere ist Zeit und Zufall – für den Menschen, nicht für Gott, den Bestimmer aller Dinge im Diesseits und Jenseits.

Das menschliche Leben ist ein Glücksspiel. Der Spieler hält sich an Regeln, deren Logik er nicht versteht. Er muss abwarten, was das Glücksrad aus seinen primären Handlungsangeboten macht. Die Entscheidungen von Glück und Zufall muss er als finale Entscheidungen eines Gottes akzeptieren. Nicht die verkümmerte Vernunft des Menschen entscheidet, sondern die unbekannte, aber alles überragende Vernunft Gottes. Das nennt Hayek die spontane Ordnung einer göttlichen Gemeinschaft.

Das Leben: ein Zufallsspiel unter göttlicher Führung, deren Geheimnisse der Mensch nicht durchschaut? Und dieses Glücksspiel unter der unbekannten Ägide eines Gottes, an den man glauben muss, soll die Erde planmäßig ausbeuten und der Kontrolle der Menschen übergeben?

Der Mensch, so Hayek, solle seine Vernunftfähigkeiten nicht überschätzen. Diese seien nicht fähig, sein Schicksal auf Erden zu regulieren. Was also ist das Leben für Hayek? Eine Mischung aus leidenschaftlichem Spieltrieb und blindem Vertrauen in Gottes unbekannte Fügung.

Das ist ein Rückfall hinter die Aufklärung, die den Theologen das Recht bestritten hatte, das Leben der Menschen aus übermenschlicher Willkür zu bestimmen.

Ist der Glaube an eine beschädigte Teilvernunft tatsächlich der Glaube Poppers?

Gewiss, der Mensch begeht viele Fehler, davon ist Popper überzeugt. Doch diese Fehler peu a peu aufzuspüren und zu korrigieren, das ist die Sache des Menschen. Ist der Mensch in der Lage, sein Ziel, ein fehlerkorrigiertes Dasein auf Erden, zu erreichen?

Werden Popper und Hayek nicht immer mit dem Satz Hölderlins zitiert: „Immer hat das den Staat zur Hölle gemacht, dass ihn der Mensch zu seinem Himmel machen wollte?“ Das diente ihnen als illustres Beispiel dafür, dass jedes platonische Bemühen, den Staat zur Utopie zu machen, mit der Hölle endet.

Nur: Platon ist überall in der antiken Zeit mit seiner Diktatur der Weisen gescheitert. Hölderlins Abwehr ist vermutlich eine Abwehr der Französischen Revolution, die in der Robespierre’schen Guillotine-Diktatur endete.

Gab es nie glückliche Gemeinschaften auf Erden – ohne das scharfe Schwert des Henkers? Natürlich gab es das. Gerade in der Zeit der beginnenden Aufklärung entdeckten reisefreudige Europäer viele „wilde“ Stämme, die im Einklang mit sich und der Natur lebten.

Das spöttische Schlagwort vom „glücklichen Wilden“ wanderte in den Wortschatz der Intellektuellen. Doch die Deutschen wollten von so viel Abenteuer nichts wissen. Ihre Utopie – enttäuscht von der Politik – wanderte ins Reich der Ästhetik. Bis heute leben die Gebildeten von der Postmoderne der Kunst. Gerade zerbröckelt die Bedeutung der Kunst. Wie wird’s weitergehen?

Doch Popper war keineswegs ein Verleugner eines humanen Zusammenlebens.

„Eine Gestaltung unserer sozialen Umwelt mit dem Ziel des Friedens und der Gewaltlosigkeit ist nicht nur ein Traum. Sie ist eine mögliche und, vom biologischen Standpunkt aus, offenbar eine notwendige Zielsetzung für die Menschheit.“ (Alle Menschen sind Philosophen)

Die Kooperation Hayeks mit Diktaturen wie die chilenische oder spanische wäre für den Humanisten Popper undenkbar gewesen. Seine ökonomischen Zielvorstellungen wollten die Armut in einem Staat beseitigen. Nicht mit Gewalt, sondern mit Argumenten.

Er plädierte sogar für eine Reform des Strafrechts.

„Erst hofften wir wohl, dass die Milderung der Strafen zu einer Milderung der Verbrechen führen werde. Als aber die Dinge nicht so kamen, haben wir dennoch die Wahl getroffen, dass wir selbst, auch in unserem Zusammenleben mit anderen, lieber leiden wollen – unter Verbrechen, Korruption, Mord, Spionage, Terrorismus – als den sehr fraglichen Versuch zu machen, diese Dinge durch Gewalt auszurotten und dabei Gefahr zu laufen, auch Unschuldige zu Opfern zu machen.“ (Auf der Suche nach einer besseren Welt)

Was für warmherzige und kluge politische Reformen im Justizbereich, die bei uns noch heute völlig unmöglich wären.

Im Gegenteil: kaum geschieht bei uns ein Verbrechen, hört man sofort Stimmen nach staatlicher Rache und Vergeltung. Humanere Formen der Verbesserung unseres Staates scheint man hierzulande nicht zu kennen. Die schwierige Eingliederung der Flüchtlinge ist hierzulande vor allem eine bürokratische Frage. Dass es um reale Menschen geht, die hier ihre Zukunft suchen, scheint man nur schwer zu erfassen.

Popper begründet seine politische Moral mit der sokratischen Einsicht, die heute nirgendwo zitiert wird (man wird doch nicht der heiligen Agape Konkurrenz machen): „Es ist besser, Unrecht zu erleiden, als Unrecht zu tun.“

Von einer sokratischen Zivilisation sind wir weltenweit entfernt. Wer kann auf die Idee kommen, sie für christlich auszugeben? Poppers Antwort ist unmissverständlich:

„Unsere Gesellschaft ist keine christliche – eben so wenig wie sie eine rationalistische ist. Und das ist verständlich. Die christliche Religion verlangt von uns eine Reinheit des Handelns und Denkens, die nur von Heiligen ganz erreicht werden kann. Die zahllosen Versuche, eine Gesellschaftsordnung aufzubauen, die ganz vom Geiste des Christentums beseelt ist, haben deshalb immer fehlgeschlagen. Sie haben immer und mit Notwenigkeit zur Intoleranz geführt, zum Fanatismus.“

Popper ist, wie seine Vorbilder Kant und Sokrates, beseelt von der Suche nach der Wahrheit. Ja, Geschwister, ihr habt richtig gelesen: von der Suche nach der Wahrheit.

„Erkenntnis ist Wahrheitssuche – die Suche nach objektiv wahren, erklärenden Theorien.“

Wahrheit aber ist nie Gewissheit, sondern immer nur Vermutungswissen. Mehr ist auf Erden nicht zu haben. Irren gehört zur Suche nach Gewissheit.

„Dass Irren menschlich ist, bedeutet, dass wir immer wieder gegen den Irrtum kämpfen müssen, aber auch bei größter Sorgfalt nie ganz sicher sein können, dass wir nicht doch einen Fehler gemacht haben.“

Was aber nicht bedeuten darf, dass wir keine Festigkeit im Verteidigen unserer Wahrheit entwickeln dürften. Mit kopfnickender Demut hat das Ganze nichts zu tun. Freilich: wann dürfen wir unserer Sache sicher sein, wann sollten wir unsere Zweifel niemals aufgeben?

Es gibt viele Fragen, die wir nie mit Ja oder Nein beantworten sollten. Gerade heute aber stehen wir Fragen gegenüber, die strikt mit Entweder Oder beantwortet werden müssten.

Ist unsere kollektive Existenz gefährdet? Geht es ums weitere Überleben oder Sterben? Geht es um Alles oder Nichts? In all diesen Fragen kann es kein kokettes Vertun gehen. Hier müssen wir Farbe bekennen.

Gewiss, wir leben in einer verbrecherischen Zeit, vielleicht sogar in der schlechtesten aller Zeiten.

„Wir sind, sagt der von mir hochverehrte Bertrand Russell, intelligent – vielleicht zu intelligent. Aber vom Standpunkt der Ethik betrachtet, sind wir nicht gut genug. Unser Unglück ist, dass sich unsere Intelligenz schneller entwickelt hat als unsere moralischen Gaben. So kam es, dass wir gescheit genug waren, Atombomben und Wasserstoffbomben zu konstruieren, aber wir waren moralisch zu unreif, um einen Weltstaat zu bauen, der uns allein vor einem alles vernichtenden Krieg bewahren kann.“

In Deutschland regiert allein die technische und maschinelle KI. Damit wollen wir brillieren. Alles andere kennen die Experten nicht mehr. Sascha Lobo verherrlicht die technische Brillanz der neuen Maschinen, gegen die kein Mensch – und sei er noch so brillant – ankäme.

„Immer deutlicher wird, dass der Mensch sich und seine Fähigkeiten dramatisch überschätzt, und deshalb auch seine Einzigartigkeit und technologische Unerreichbarkeit.“ (SPIEGEL.de)

Kann es sein, dass Lobo die Einzigartigkeit des verantwortlichen Menschen nicht sieht? Keine Genialität des Rechnens, Konstruierens oder technischen Könnens kann die Moral des Menschen ersetzen oder übertrumpfen.

Was brauchen wir? Die unermüdliche Suche nach der Wahrheit.

Was haben wir nötig? Die unersetzbare Verantwortung für jedes Lebewesen.

Was müssen wir unbedingt ablegen? Den tändelnden Relativismus, die Einstellung: kann sein, muss aber nicht sein. Es gibt so viele Wahrheiten, so viele Moralen, warum also nur eine?

In vielen Dingen der Welt – die nichts sind als ästhetische Geschmackssachen – dürfen wir schwanken und tändeln. Nur in Fragen des gemeinsamen Überlebens müssen wir steinhart bleiben.

Nicht, ob ein Mensch das ChatGPT übertrifft, sondern allein, ob er sich seine Verantwortung von jemandem abnehmen lässt oder mit Leib und Seele für das Fortleben der Menschheit eintritt: das ist die Frage, die jeder Mensch für sich beantworten muss.

Fortsetzung folgt.