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Natur brüllt! II

Tagesmail vom 31.07.2023

Natur brüllt! II,

Deutschland, Notenland, ist abgebrannt.

Keine Note Eins mehr für die Geistvollen, aber Tatenarmen.

Sie tun nichts gegen ihr Elend, sind wütend auf alle, die dagegen etwas tun, fahren in Urlaub, als sei nichts gewesen, ängstigen sich vor der Zukunft, ohne sich aufzulehnen, schwärmen von Landschaften der Fremde, als hätten sie sie erschaffen.

„Es funkeln auf mich alle Sterne
Mit glühendem Liebesblick,
Es redet trunken die Ferne
Wie von künftigem, großem Glück!“ (Eichendorff)

Wo sie arbeiten, da möchten sie nicht sein, wo sie sein möchten, da wollen sie nicht arbeiten. Arbeit und Leben sind für sie auf immer unvereinbar.

„Spottet ja nicht des Kinds, wenn es mit Peitsch‘ und Sporn
Auf dem Rosse von Holz mutig und groß sich dünkt,
Denn, ihr Deutschen, auch ihr seid
Tatenarm und gedankenvoll.
Oder kommt, wie der Strahl aus dem Gewölke kommt,
Aus Gedanken die Tat? Leben die Bücher bald?
O ihr Lieben, so nehmt mich,
Daß ich büße die Lästerung.“ (Hölderlin, An die Deutschen)

Arbeiten müssen, um nicht zu verhungern, ist für sie Sündenstrafe. Arbeiten als Lust am Leben wäre für sie ein Paradies – nach dem sie lebenslang suchten, obgleich es ihnen verboten ist. Nur Auserwählte werden Zutritt haben:

„Und warum sorgt ihr euch um die Kleidung? Schaut die Lilien auf dem Feld an, wie sie wachsen: Sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht. Ich sage euch, dass auch Salomo in aller seiner Herrlichkeit nicht gekleidet gewesen ist wie eine von ihnen. Wenn nun Gott das Gras auf dem Feld so kleidet, das doch heute steht und morgen in den Ofen geworfen wird: Sollte er das nicht viel mehr für euch tun, ihr Kleingläubigen? Darum sollt ihr nicht sorgen und sagen: Was werden wir essen? Was werden wir trinken? Womit werden wir uns kleiden? Nach dem allen trachten die Heiden. Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen.“

Paul Lafargue. Schwiegersohn von Karl Marx, fügt den frommen Versen hinzu:

„Jehova, der bärtige und sauertöpfische Gott, gibt seinen Verehrern das erhabenste Beispiel idealer Faulheit: nach sechs Tagen Arbeit ruht er auf alle Ewigkeit aus“ (Das Recht auf Faulheit)

Genies der Technik sind getrieben von der Suche nach dem Paradies, der arbeitslosen Utopie. So rechtfertigen sie ihre Leidenschaft nach der vollkommenen Erde.

Wartet, wartet noch ein Weilchen, ihr Arbeiter, bald werdet ihr von jeder Mühe befreit sein. Unsere Technik ist in der Lage, euch eine vollkommene Erde zu präsentieren – wo alle Sorgen und Mühen vorbei sein werden. Auf unser Wort.

Für Francis Bacon lag das „Ziel der Wissenschaft nicht in der Mehrung der Wahrheit und in der Fülle des Geistes, sondern in der Vermehrung ihrer Ergebnisse. Also gab er – mit scharfer Wendung gegen die Alten – den mechanischen Künsten den Vorrang vor aller Philosophie. Denn diese kenne keinen Fortschritt. In den drei Erfindungen Kompass, Schießpulver und Buchdruck erblickte er nicht nur ein „Fortschreiten“, sondern die Einleitung eines Weltprozesses von unabsehbarer Wirkung. Denn diese drei verwandelten das Gesicht und den Zustand der Welt … und hatten unendliche Veränderungen zur Folge, sodass offenbar kein Reich, keine Sekte, kein Stern mehr Macht und Einfluss auf das Leben ausübte, als diese Erfindungen. Solche Fortschritte waren für Bacon geradezu Nachahmungen der göttlichen Werke, sodass er ihnen Schöpfungscharakter beimaß. Die technische Überlegenheit der Europäer über die Wilden Neu-Indiens begründete ihm schon das spätere Hobbes-Wort vom homo hominis Deus (der Mensch ist dem Menschen ein Gott): die Gottgleichheit des homo faber.“ (in F. Wagner, Die Wissenschaft und die Gefährdete Welt)

Während Luther den Deutschen mit der Bibel in der Hand das absolute Böse einbläute, versprach Wissenschaftler Bacon seinen Landleuten den Himmel auf Erden – mit Technik und Wissenschaft. Die Entwicklung beider Nationen – wen wundert’s – ging in den nächsten Jahrhunderten scharf auseinander.

Erst die Generation der deutschen Dichter und Denker verfluchte das Böse und verhieß den Deutschen das Himmelreich auf Erden. Nicht durch Technik, sondern mit Hilfe ihres Denkens.

Erst Marx verwandelte Geist in Materie, Denken in Wissenschaft und verhieß den Ärmsten das Himmelreich auf Erden. Selber aktiv werden konnten sie nicht. Nur mit gereckter Faust konnten sie das Ergebnis der Geschichte abwarten. Eine schwierige Mischung aus fieberhaftem Warten und tatenlosem Agitieren.

Bis heute hat sich bei ihnen an diesem Zustand nichts geändert. Zwar suchen sie dieses oder jenes Ziel, doch genau besehen sind diese Ziele nur Beschäftigungstherapien beim Warten auf das Unmögliche und dennoch Realistische.

Wartet, wartet, bis der Herr kommt, heißt es bei den Christen: wartet, wartet, bis die Geschichte zuschlägt, den genauen Termin kennt niemand.

Die moderne Philosophie besonders der Deutschen, sind säkulare Umwandlungen der christlichen Religion. Ihr passives Warten haben sie transformiert in selbsterfüllende Prophezeiungen.

Wie sie gelernt haben, Gott zu werden oder Gott zu sein, so haben sie gelernt, ihrem altmodischen Gott entgegen zu kommen und die Entwicklung der Geschichte mit eigenen Taten zu erfüllen.

Wartet auf die Verheißung des Vaters. Heißt auf technisch: wartet auf die Testergebnisse von Silicon Valley.

Wir warten der Gerechtigkeit, auf die man hoffen muss, heißt: wir müssen abwarten, was ChatGPT bringt.

Wir erwarten aber nach seiner Verheißung neue Himmel und eine neue Erde, in denen Gerechtigkeit wohnt, heißt: wir müssen warten, bis unsere Genies die Glücksformel entdecken und der Erde das Gottseibeiuns bringen werden.

Alles andere ist unvermeidliche Wartezeit, die wir sinnvoll füllen müssten.

Woher kommt die Lähmung des christlichen Westens? Er wartet, er muss warten. Äußerlich tun wir, als täten wir etwas, innerlich sind wir voller Ungeduld und müssen die Wirkungen der Heilsgeschichte abwarten.

Wir können nichts tun, als uns in Beschäftigungstherapie zu stürzen und in eschatologischer Scheinbeschäftigung auf das Wunder zu warten, auf das Wunder des versprochenen Kommens.

Das gilt selbst für die Besten der Besten, die Vollender der Heilsgeschichte per Technik:

„Unsere dominante Position auf dem Planeten haben wir Menschen nicht unserer physischen Stärke zu verdanken, sondern unseren Gehirnen. Wenn wir jetzt Maschinen schaffen, die schlauer sind als wir, könnte das bedeuten, dass der Lauf der Dinge auf unserem Planeten künftig von diesen Maschinen bestimmt wird. Vielleicht gibt es für die Menschheit im wahren Leben kein Happy End und keinen Helden, der uns rettet. Eine superintelligente KI könnte alle möglichen Wege finden, uns den Garaus zu machen. Vielleicht mit mikroskopisch kleinen Robotern, einem gefährlichen Virus oder auf einem anderen Weg, den wir nicht einmal erdenken können. Wir würden es womöglich nicht einmal merken, bevor es zu spät ist.“ (SPIEGEL.de)

Wird Technik zur Erlöserin der Menschheit – oder zur satanischen Vernichterin? Stets verspricht sie das Beste und hinterlässt einen globalen Schrecken.

Ist es möglich, dass die Wissenschaft ihren finalen Glauben zu verlieren beginnt? Dauert ihr alles zu lange? Wollte Musk auf dem Mars nicht längst seine ersten Tomaten pflücken?

Noch immer nicht hat die Wissenschaft den Pfad nach Utopia gefunden. Ist das die unabwendbare Stückwerkstechnologie – oder versagen die technischen Heilszeit-Motivationen?

Was aber geschieht, wenn die erfolgsverwöhnte Wissenschaft versagt und die Menschheit sich ein neues Paradigma suchen muss? Und was tut sie, wenn sie auf das Unerwartete warten muss? Übereinander herfallen und sich mit Drohnen ins Jenseits schaffen? Hat Natur noch Geduld mit uns – oder wird sie eines Tages mit uns Schluss machen?

Dass Fortschritt ständig beschleunigen muss, ist das letzte Mittel des Westens, seine zunehmende Ermüdung durch Hektik zu überdecken. Eines Tages fallen sie vom Hocker, die Beschleunigungsliebhaber, ausgelaugt und tödlich ermüdet.

Sie wissen nicht, wohin, sie verbieten sich jedes rationale Ziel. Dann wundern sie sich, wie sie immer mehr ins Keuchen kommen. Vorsichtshalber haben sie sich jeden Endzweck verboten. Einen hirnverbrannteren Spruch kann man sich nicht ausdenken: das Ziel ist nichts, Unterwegs-sein ist alles.

Hinter diesem Wahn steckt der Zweck: der Pilger auf Erden muss solange wandern, bis ein höheres Geschichtsziel erreicht ist. Der Mensch darf nicht zum Regisseur seines irdischen Tuns werden. Homo pilgrim ist die Verkörperung seiner irdischen Bedeutungslosigkeit.

Ein wesentlicher Grund dieses Irrens in Ziellosigkeit ist ein Umstand, der vor allem in Deutschland kaum zur Kenntnis genommen wird. Aus weiter Entfernung hat Rüstow in seiner türkischen Emigration seine Finger in die Wunde gelegt, obgleich er nicht der einzige war, der das Verdienst der antiken Denker gesehen hat.

Diese, heute zumeist verächtlich Sophisten Genannten, hätten das Verdienst, „die Philosophie von dem Himmel auf die Erde geführt zu haben. Und ist es nicht so, dass der kosmologischen Weltbetrachtung im Vergleich mit ihrem Gegensatz, der psychologischen, etwas Pueriles anhaftet, wobei ich mich der blanken und kugelrunden Kinderaugen Albert Einsteins erinnere. Ich kann mir nicht helfen, die humane Erkenntnis, die Vertiefung ins Menschenleben, hat reiferen, erwachseneren Charakter als die Milchstraßenspekulation – in tiefstem Respekte möchte ichs wahrhaben. Die Sophisten repräsentieren die griechische Aufklärung im engeren Sinne, sie sind sie Inauguratoren der meisten abendländischen Geisteswissenschaften, sie haben die Entwicklung des Unterrichtswesens bis heute maßgebend beeinflusst, sie haben die rationale Kritik auf alle Gebiete des Denkens und Lebens übertragen und die Logik als Wissenschaft vorgebildet.“ (Rüstow, Ortsbestimmung Bd II)

Man hat sich immer gewundert, dass die Griechen, nach fundamentaler Begründung alles wissenschaftlichen Denkens, sich nicht weiter auf den endlosen Weg der modernen Wissenschaft gemacht haben.

Da gibt es nur eine Erklärung: sie müssen bemerkt haben, dass eine Erkenntnis des Endlosen dem Erkennenden nichts bringt. Zudem waren sie nicht – wie die späteren Abendländer – von einem Machtrausch über die Natur besessen.

Natur war den Griechen nicht untertan, sie waren Kinder einer gütigen Mutter. Was soll es dem Menschen nützen, wenn sein Erkennen nicht seinem eigenen Leben dient?

Erkennen der Natur hat ein erkennbares Endziel: was kann ich für mich ableiten, wenn ich weiß, dass Natur und Mensch zusammengehören?

Eben diese Einheit geht im Jenseitsglauben verloren, der keinen Wert legt auf Erkennen, sondern nur auf Glauben. Glaubensformen aber können nicht rational miteinander verglichen werden. Sie schaffen, anstatt Toleranz, die schlimmste Intoleranz unter verschiedenen Gläubigen. Wenn die Geschichte des Abendlands irgendetwas bewiesen hat, dann die Unfehlbarkeit der Kirchen.

Lessings Werk Nathan der Weise ist ein Produkt der Aufklärung, das justament einen Juden zum Vorbild der Menschen ernannt hat. Warum wird dieses Stück kaum noch erwähnt?

Die aufkommenden Naturwissenschaften, nachdem sie sich endlich durchgesetzt hatten, übernahmen sofort die dominierende Rolle des Glaubens, den sie besiegt hatten: sie bestimmten, was Erkennen ist.

„Damit unterdrückten sie alles, was nicht in ihr mechanisches Weltbild passte und begingen mit umgekehrten Vorzeichen den Fehler der Kirchenväter, die jedes Interesse an der natürlichen Welt unterdrückt hatten, um sich auf das Schicksal der menschlichen Seele in der Ewigkeit zu konzentrieren. Indem Galilei in aller Unschuld das historische Erstgeburtsrecht des Menschen aufgegeben hat: die der Erinnerung werte Erfahrung. Indem er die Subjektivität verwarf, exkommunizierte er das zentrale Subjekt der Geschichte, den mehrdimensionalen Menschen.“ (Mumford)

Wie Theologie den Menschen der Natur entriss, so entrissen die neuen Wissenschaftler den Menschen seiner mehrdimensionalen Qualitäten. Er denkt nicht nur, er fühlt, sieht, hört und ist mit allen Sinnen der Welt verbunden und das heißt: der Natur.

Natürlich hat er etwas Mechanisches an sich, weil auch die Natur aus mechanischen Gesetzen besteht. Doch er ist mehr als nur eine mechanische Maschine. Wie immer man es definiert: er besitzt Geist, der nicht mit simplen Formeln berechnet werden kann.

Das Sein bestimmt das Bewusstsein? Wie das Bewusstsein das Sein bestimmt. Das ist die Freiheit des denkenden Menschen, in der Welt sein Geschick selbst zu bestimmen. Ob ihm das gelingt, ist eine andere Frage. Das sehen wir gerade jetzt, wo der Geist beim Lösen seiner gattungsmäßigen Probleme möglicherweise versagt.

Dann aber müsste es heißen, nicht das Sein hat den Menschen dem Verderben ausgeliefert, sondern er allein. Sein Geist wäre fähig gewesen, seine Probleme in der Welt zu durchschauen und aufzulösen. Man schaue nur auf jene Völker, die in ihrer „Primitivität“ keine hochstehende Kultur zustande gebracht haben.

Dabei ist es umgekehrt. Erst wenn die Hochstehenden die erstaunlichen Fähigkeiten der Primitiven durchschaut haben, werden sie in der Lage sein, nach endlos vielen Lernakten ihre völlig veränderte Existenz auf Erden fortzusetzen.

Die Deutschen fühlen sich nur, wenn sie von Autoritäten getestet und bewertet werden. Das führt zu absurden Folgerungen: in München ist man auf die „Idee gekommen, Schülerinnen und Schülern am ersten Ferientag freien Eintritt zu gewähren. Allerdings sollen nur solche Kinder in den Genuss dieses Privilegs kommen, die mindestens eine Eins auf dem Zeugnis vorweisen können.“ (SPIEGEL.de)

Dabei ist es umgekehrt, in keinem Fach ist das Land noch vorbildlich. In allen Fächern ist es abgestiegen. Das Schlimmste: es ist unfähig, sich selbst zu bewerten. Ständig hält es Ausschau nach fremden Bewertungen. Es hat noch kein Ich entwickelt, das sich selbstkritisch bewerten könnte.

Deutschland ist zur unmündigen Kopie des Westens degeneriert. Weder haben sie ihre schlimme Vergangenheit durchgearbeitet, noch ihre gute verstanden. Ihre Jugend ist dabei, die Erwachsenen in den Schatten zu stellen.

Fortsetzung folgt.