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Moralisieren

Hello, Freunde des Moralisierens,

Ja, ja, ja!“ rief Meister Böck,

„Bosheit ist kein Lebenszweck!“

Drauf, so sprach Herr Lehrer Lämpel:

„Dies ist wieder ein Exempel!“

„Freilich!“ meint der Zuckerbäcker,

„Warum ist der Mensch so lecker!“

Selbst der gute Onkel Fritze

sprach: „Das kommt von dumme Witze!“

Doch der brave Bauersmann

dachte: „Wat geiht meck dat an?!“

Kurz im ganzen Ort herum

ging ein freudiges Gebrumm:

Gott sei Dank! Nun ist’s vorbei

mit der Übeltäterei!!“

Was hat Moralisieren mit dem deutschen Historikerstreit zu tun?

Der deutschen Übeltäterei wollten gelehrte deutsche Professoren auf den Grund gehen – um ihre Wiederholungsgefahr auszumerzen. Operation gelungen, Patient tot, was in diesem Fall bedeutet: das Übeltun ist quicklebendig. Nationalsozialisten marschieren wieder auf den Straßen, überfallen und verprügeln Flüchtlinge, zünden ihre Heime an. Nur eine Frage der Zeit, bis wir die ersten Toten zu beklagen

haben.

Und die Moral von der Geschicht? Trau keinen deutschen Historikern nicht. Wenn kalte Ungeheuer wie „Funktionalismus und Intentionalismus“ ins Feld geführt werden, darf man sich über den Ausgang des bizarren Streits nicht wundern.

Es ist ja nicht so, dass Deutsche keine eifrigen Vergangenheitsbewältiger wären. Okay, Bewältiger klingt wie Vergewaltiger. Sagen wir Aufarbeiter der Vergangenheit. Arbeiten klingt immer seriös, vor allem im Land des protestantischen Arbeitsethos. Was aber hat Arbeiten mit Erkennen zu tun? Die meiste Arbeit ist stumpfsinnige Maloche. Sollte es nicht um deutsche Selbsterkenntnis gehen?

Nur Erkennen der Wiederholungszwänge kann dieselben reduzieren. Nur wer seine Vergangenheit durchschaut hat, kann sich ihrer entledigen. Wäre Erkennen der Vergangenheit nicht die absolute Voraussetzung, um „Nie wieder Auschwitz“ zu realisieren? Deutsche arbeiten und wühlen gern, können sie Malochen mit Erkennen verbinden?

Kann irgendein Gymnasiast den Historikerstreit erklären? Wie sollen Heranwachsende verstehen, wenn ihre Lehrer nichts verstanden haben? Wie sollen Lehrer verstehen, wenn ihre Professoren nur Gelehrtenkauderwelsch absondern?

Mit Erkennen der Wahrheit durch Vernunft haben‘s die postmodernen Deutschen nicht so. Was also bleibt? Bilder des Originals! Der authentische Ort! Wie Hans-Ulrich Jörges nach Slowenien jetten muss, um das Flüchtlings-Unheil im Original zu erleben – den Nachrichten und TV-Bildern seiner medialen Kollegen scheint er nicht zu trauen –, so muss ein pflichtbewusster Deutscher viele KZs gesehen haben. Ohne authentische Anschauung würde er nicht glauben, was in vielen Büchern beschrieben wird.

Deutsche misstrauen den Buchstaben eines Textes. Noch mehr ihren Fähigkeiten, diese Buchstaben zu verstehen. Texte verstehen haben ihnen Theologen und Hermeneutiker verleidet, die der Heiligen Schrift den Buchstabenkult ausgetrieben haben. Der Buchstabe tötet, der Geist macht lebendig – oder aber das sinnlich-übergeistige Bild. Das Bild ist geistiger als der geistlose Buchstabe, dem niemand trauen kann, seitdem Geistbegabte die Bibel mit Phantasiedeutungen zum Supermarkt beliebiger Botschaften verfälschten.

Sollten Jugendliche ihren Religionslehrern je ein anrüchiges Bibelzitat unter die Nase gehalten haben, um sie auf die Palme zu bringen, so wurden sie von jenen zusammen gestaucht, sie hätten von Tuten und Blasen keine Ahnung. So haben sich die Deutschen von Buchstabentreue und genauer Textanalyse verabschiedet – und legen nur noch Wert auf Bildergucken. „Ich kann nur in Bildern denken“, deklamieren feinsinnige deutsche Ästheten, die unerschrockenes, folgerechtes Denken für eine Erfindung des Teufels halten.

Bilder sind fälschungssichere Offenbarungen, weshalb es in Redaktionen heftigere Debatten gibt, welche Bilder man veröffentlichen darf als Auseinandersetzungen über die Wirklichkeit, die von den Bildern abgebildet wird. Das Ab-bild ist wichtiger geworden als die Realität, die man nur in abstrakten Texten formulieren und niederlegen kann.

Wie konnte das sinnliche Abbild den Buchstaben überwinden? Durch halbherzige, widersprüchliche Aufklärung. Machet euch kein Bildnis noch Gleichnis: eigentlich stehen Christen unter Bilderverbot. Also fühlen sie sich enorm aufgeklärt, wenn sie Bilder zur obersten Wahrheitsinstanz erheben. Gleichzeitig stehen sie unter dem Diktat des Wortes: der Buchstabe tötet, der Geist macht lebendig. Der heidnische Buchstabe führt ins Unglück, der heilige Buchstabe unterwirft sich dem Geist, der ihn nach Belieben drehen und wenden kann.

Bereits Platon hielt den geschriebenen Text für minderwertig, wenn man ihn vergliche mit lebendiger Rede. „Tote“ Texte können sich vor Missdeutungen nicht schützen, der lebendige Dialog hingegen kann jedes Missverständnis vor Ort beheben. Die sekundäre Einschätzung des Geschriebenen hielt Platon nicht davon ab, sein gewaltiges Werk für alle Zeiten schriftlich niederzulegen.

Bei Platon waren es autonome Menschen, die die Wahrheit der Buchstaben erkannten. Bei Frommen ist es der Heilige Geist, der die Texte deuten und auslegen kann, wie es Ihm behagt.

Die Omnipotenz des unfehlbaren Geistes macht jeden Buchstaben zuschanden, wenn er es wagen sollte, der jeweils neuesten Zeitgeisttheologie zu widersprechen. So kam der Buchstabe bei den Deutschen unter die Räder. Nicht nur, was die Heilige Schrift betrifft. Die an ihrem Verstand Zweifelnden übertrugen ihre Lese-Unsicherheit auf alle Bücher, Artikel und Texte.

Die Deutschen degenerierten zu geistlosen Analphabeten, die sich bis heute kein antiklerikales Verstehen der Schrift erlauben. Selbst Kirchenferne lassen sich biblische Zitate von Klerikern absegnen, wenn der Anschein entstehen könnte, sie wollten das heilige Wort kritisieren.

(Götz Werner, selbstbewusster Unternehmer und Befürworter des BGE, ließ sich von einem katholischen Theologen die kirchentreue Deutung des Zitates erläutern: Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen. Gottlose Vernunft könnte auf die Idee kommen, hier einen tödlichen Hass auf griechische Muße zu erkennen.)

Das Wort, sie sollen lassen stahn: bei Luther galt der geschriebene Text als Waffe gegen die Papisten. Das Wort aber war nicht mehr der bloße Buchstabe, der mit Hilfe der Vernunft gelesen und gedeutet werden müsste. Für Luther war Vernunft eine Hure. Seine orthodoxen Schüler benutzen zwar die Worte der Schrift, um Glaubensgegner mit treffenden Zitaten zu erledigen. Dennoch war auch Geist von Oben nötig, um irrlichternde Buchstaben zur himmlischen Geltung zu bringen.

Vollends die Pietisten – die Vorläufer der Romantiker – legten mehr Wert auf Einflüsterungen des Heiligen Geistes denn auf wortgetreue Buchstabenerklärung. Für Schleiermacher war jeder Gläubige fähig, seine eigene Bibel zu schreiben. Der geschriebene Text wurde zur überflüssigen, ja schädlichen Buchstabenvergötzung.

Seitdem schweben deutsche Intellektuelle über den rohen Buchstaben wie Obamas Drohnen über potentiellen Opfern. Der Buchstabe ist zum Abschuss freigegeben. Das ist der Grund, warum im Feuilleton und in deutschen Talkshows keine Begriffe definiert und geklärt werden. Jeder hantiert mit autistischen Begriffen im Vollbesitz seiner grenzenlosen Deutungswillkür.

Nur Gottlose können von lügenhafter Entstellung der Texte sprechen. Theologen lügen nicht, sie deuten unliebsame Texte allegorisch oder metaphorisch.

In der Kunst der Romantiker ein paralleler Vorgang. In vorromantischen Epochen war Kunst die Nachahmung (Mimesis) der Realität. Ab Erfindung der Fichte‘schen Gottgleichheit – Fichte wurde, nach jugendlichen Aufklärungsjahren, zum Haupt-Philosophen der Romantik – wurde die Realität zur Erfindung des gottgleichen Genies und Künstlers.

Was also ist der buchstabengetreue Sinn des Moralisierens – im Zusammenhang mit der Aufarbeitung der Vergangenheit? Menschenfeindliche Vergangenheit soll sich nicht mehr wiederholen: ist das kein kategorisches, politisch-moralisches Motto? Ist es eins, muss es umso verwunderlicher sein, dass ein bedeutender Historiker und Kenner des Dritten Reichs wie Hans Mommsen sich vehement gegen das Moralisieren wendet.

„Er verstand, wie er 1986 in einem seiner Leserbriefe schrieb, „Geschichte nicht als Fatum, sondern als Handlungsorientierung“, aber er maßte sich kein moralisches Lehramt an. Dass jemand moralisiere, war eines der schlimmsten Prädikate, die er verteilte. So bemängelte er an dem Kinofilm „Sophie Scholl – Die letzten Tage“, dass die Unterschlagung der religiösen Beweggründe der Geschwister Scholl „eine bloße Moralisierung ihres Handelns“ zur Folge habe. Den Autoren des Auftragsforschungsberichts „Das Amt“ warf er den Rückfall in eine „ideologisch-moralisierende Betrachtung“ der Judenpolitik vor, weil sie mit pauschalen Wendungen den Eindruck erweckten, der Völkermord sei im Auswärtigen Amt geplant worden.“ (Patrick Bahners in FAZ.NET)

Doch langsam: ist moralisieren eine Verfallsform der moralischen Rede? Schauen wir nach, was moralisieren bedeuten soll.

„Gerade wer Ethik betreibt, also in irgendeiner Weise empirisch oder theoretisch, häufig normativ-theoretisch über praktisches Sollen arbeitet, sollte die Grenzen dieses praktischen Sollens kennen. Denn nur dann kann sie oder er sich innerhalb dieser Grenzen bewegen – und das betreiben, was empirisch oder theoretisch und eben auch normativ-theoretisch möglich ist. Mit dem Verb ‚moralisieren’ beziehen sich Sprecherinnen oder Sprecher auf genau diese Grenzen – zumeist mit dem Vorwurf, dass andere Akteurinnen und Akteure diese Grenzen überschritten haben und dass dieses Überschreiten in den jeweiligen Situationen in irgendeiner Weise schädlich ist.“ (Kritik der Moralisierung)

Nehmen wir die Moral der Demokratie, die von jedem Demokraten in allen Bereichen und Nuancen definiert werden muss. Wo wären die Grenzen dieser Moral? Gilt meine Moral nur für mich – oder muss ich das Einhalten meiner moralischen Regeln von jedem fordern, der mit Überzeugung Demokrat sein will?

Keine Demokratie ohne gemeinsame moralische Grundregeln. Wer Gesetze verletzt, ist unmoralisch. Private oder religiöse Moral, die den Gesetzen widerspricht, ist demokratiefeindlich. Tolerierbar sind nur private Regeln, die den allgemeinen Gesetzen nicht widersprechen. Multikulti in aller Vielfalt ist erlaubt, ja erwünscht – wenn die Gesetze des Multikulti nicht mit Gesetzen der Demokratie kollidieren. Die Grünen haben das jahrzehntelang nicht verstanden.

Private Regeln hingegen, die sich mit dem Grundgesetz vereinbaren lassen, sind nicht nur erlaubt, sondern erwünscht – um der Vielfalt und des kulturellen Reichtums einer toleranten Gesellschaft willen. Konservative Abendlandsverteidiger, die ihren christlichen Glauben als deutsche Identität ausgeben, verstehen dies bis heute nicht.

Welche Grenzen haben demokratische Moralregeln? Keine. Jedem, der sie verletzt, müssen sie vorgehalten werden. Jede öffentliche Grundsatzdebatte verhandelt die Grundwerte der Demokratie. Von jedem Citoyen muss das Einhalten demokratischer Moral kategorisch gefordert werden. Handle so, dass die Maximen deiner Moral stets identisch sind mit den Grundwerten der Demokratie.

Gesetze sind keine technischen Äußerlichkeiten. Wer sie vorsätzlich verletzt, ist unmoralisch. (Nur wer ein demokratisches Gesetz verletzt, weil er es für ungerecht hält, muss nicht unmoralisch in einem übergeordneten Sinne sein. Allerdings muss er dafür eintreten, dass das falsche Gesetz durch das Parlament verändert werde. Die rechtlichen Konsequenzen seines „gesetzeswidrigen“ Verhaltens muss er – wie einst Sokrates – auf sich nehmen, wenn auch unter Protest. Alles andere würde zur grenzenlosen Anarchie führen.)

Die Definition des Moralisierens als Überschreitung ominöser Grenzen ist hasenfüßig und demokratiefeindlich. In der Polis hat jeder seine Meinung streitig zu sagen. Auch seine moralische. Von jedem muss die Einhaltung der anerkannten Grundregeln gefordert werden. Sind Grundregeln unklar, widersprüchlich oder inhuman, müssen sie auf der Agora debattiert und verändert werden.

Laut Duden ist Moralisieren Moral predigen. Doch Predigen ist kein demokratischer Vorgang, sondern ein privates Ereignis hinter klerikalen Mauern. Predigen ist Verkünden göttlicher Gebote unter Androhen höllischer Strafen und Verheißen himmlischer Belohnungen.

Demokratisches Moralpredigen ist ein Widerspruch im Beiwort. Autonome Moral muss erkannt und mit dem eigenen Kopf durchdacht werden. Himmlisches Moralpredigen hingegen fordert unbedingten Gehorsam. Demokratisches Moralisieren kann keine Predigt sein.

Dass die Deutschen noch immer selbstbestimmte Moral der Vernunft mit fremdbestimmter Moral des Himmels verwechseln, zeigt, dass sie die Deutsche Bewegung noch immer in den Knochen haben. Die Stürmer und Dränger verwarfen beides in einem Akt: die Moral der Vernunft und die Gebote des Himmels. Ein verhängnisvoller Fehler, der zur politischen Verachtung der Vernunft führte und deutsche Genies und Führergestalten als unfehlbare Boten des Himmels anbetete.

Mommsen hat Recht: Geschichte ist kein Fatum. Keine übermenschlichen Kräfte zwingen uns, ihrem Willen zu folgen. Denn solche Kräfte gibt es nicht.

Warum aber polemisiert der Historiker gegen Moralisieren? Ist sein Protest gegen falsches Moralisieren nicht selbst ein Moralisieren? Will er durch seine Erkenntnisse die Deutschen nicht daran hindern, in die Gräuel der NS-Zeit zurückzufallen? Das Unterschlagen der religiösen Beweggründe der Geschwister Scholl im Film hielt er für Moralisieren? Jetzt wird’s absurd: Moralpredigen kann man doch nur im Bezirk der Religion.

Der FAZ-Artikel von Patrick Bahners ist voller Merkwürdigkeiten. Da der Artikel ein Nachruf auf den Verstorbenen sein soll, dürfen Widersprüche im Denken des Toten nicht erwähnt werden. Deutsche Nekrologe sind kultische Weißwaschungen. Wenn ein bedeutender Zeitgenosse das Zeitliche segnet, wird er postmortal von allen Sünden gereinigt.

Die Zwillinge Mommsen, aufgewachsen im Dritten Reich, interessierten sich für alles. Nur nicht für die Schriften der NS-Schergen. Folgerung:

„Schlussfolgerung des Historikers: „Allzu groß war die Begeisterung für die Sache nicht. Mit der eigenen Erinnerung, wohlgemerkt nicht an subjektive Zustände, sondern an nachprüfbare Tatsachen, illustrierte Mommsen hier die wesentliche Erkenntnis seiner Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus: Die Gefolgschaft, die Hitler im deutschen Volk fand, ist nicht mit Zustimmung zur Ideologie des Diktators zu erklären. Das heißt im Umkehrschluss: Die Reinigung des nationalen Gedankenhaushalts von nationalsozialistischen Ideen garantiert noch nicht, dass die Deutschen aus der Geschichte gelernt haben.“

Subjektive Erinnerungen werden erwähnt, die subjektiv nicht sein sollen. Mommsen wäscht seine Familie weiß, indem er erklärt, dass bei ihnen die Begeisterung nicht groß war. Das Private zu nutzen, um das Kollektive zu beschreiben, ist eine Anmaßung. Womit soll die Zustimmung der Deutschen zu Hitler denn anders erklärt werden als durch Zustimmung zu dessen Heilsideologie? War die ostentative Begeisterung der deutschen Massen – in unzähligen Dokumenten bezeugt – denn nur gespielt? Das ist nur noch fantastisch.

Hätten die Deutschen sich von ihren nationalsozialistischen Gedanken distanziert, hätten sie sehr wohl aus der Geschichte gelernt. Haben sie aber nicht. Sie wollen nicht wissen, welche Philosophien und religiöse Dogmen über Jahrhunderte zum Nationalsozialismus führten.

An den Ungeheuern Funktionalismus und Intentionalismus kommen wir nicht vorbei. Mommsen vertrat den Funktionalismus.

Intention ist Absicht, Vorhaben. „Die Intentionalisten nehmen an, dass in Hitlers frühem Denken, etwa bereits in Mein Kampf, seine Absichten und Ziele schon enthalten waren und diese sich in der Politik des Dritten Reiches realisierten. Sie sehen Hitler damit als entscheidende Führungsfigur.“ (Wiki)

Will irgendjemand leugnen, dass Hitler die entscheidende Führerfigur war? Doch fragen muss man, ob der Führer als Einzelmagier die Deutschen verführt hat – oder die Deutschen dieselben Gedanken hatten wie der Österreicher. Ja, ob sie nicht umgekehrt den Führer verführten, dass er ihren Messias spielen sollte.

Es kann nicht ernsthaft daran gezweifelt werden, dass die ideologischen Grundlagen des Völkerverbrechens schon in Mein Kampf enthalten waren. Wer das Buch für reine Propaganda hält, kann es nicht gelesen haben.

Der Intentionalismus ist nicht falsch, weil er verbrecherische Taten von Intentionen ableitet. Sondern weil er die Schuld eines ganzen Volkes nur einer winzigen Minderheit zuschreibt. Allgemein muss man sagen, dass die Ideologie der Nationalsozialisten seit Jahrhunderten in vielen komplementären Strömungen ausgebrütet wurde. Was nicht bedeutet, dass diese Gedanken bewusst gewesen sein müssen. Es handelte sich um einen wachsenden Prozess der Bewusstwerdung.

Im Kampf gegen die französische Aufklärung lehnten die Deutschen die Dominanz des Bewussten ab und propagierten die Überlegenheit des irrationalen Unbewussten. Das deutsche Unbewusste dämmerte über zwei Jahrhunderte seiner instrumentellen Bewusstwerdung entgegen.

„Als Wortführer der „Funktionalisten“ im Methodenstreit gegen die „Intentionalisten“ beherzigte Mommsen eine klassische quellenkritische Maxime: Von den Ergebnissen des Handelns darf man nicht einfach auf die Ziele der Handelnden zurückschließen.“ (FAZ.NET)

Doch, man muss zurückschließen. Nicht, dass die Folgen der Politik allein auf die Absichten der Protagonisten zurückzuführen wären. Hitler war nicht Gott. Und selbst dem pfuscht der Teufel ins Handwerk. Wenn die frühen Bekenntnisse des jungen Hitler aber übereinstimmen mit den Folgen seiner späten Politik, wäre es idiotisch, zwischen Intention und Folgen keinen direkten Zusammenhang zu sehen. Zufälle gibt es nicht in der Geschichte. Was wir nicht wissen, dürfen wir nicht als Zufälle ausgeben. Zufälle gäbe es nur, wenn Götter und Dämonen in die Geschichte eingriffen.

„Die Funktionalisten betonen dagegen, dass sich die Tätigkeit Hitlers im Dritten Reich auf sogenannte Weltanschauungsfragen beschränkt habe. Ansonsten hätte sich die Politik aus dem Gegen- und Miteinander rivalisierender Gruppen, aus Eigendynamik und selbst geschaffenen Sachzwängen ergeben. Hauptcharakteristikum des Nationalsozialismus sei hier die Improvisation von Entscheidungen, charakteristisch sei die kumulative Radikalisierung konkurrierender Gruppen.“ (Wiki)

Sind Weltanschauungsfragen bloße Worthülsen ohne praktische Bedeutung? Wohl kann der Mensch mit sich im Widerspruch sein. Doch dann gehören die Widersprüche zu seiner Weltanschauung. Auch hier gilt: ob Weltanschauung und Taten übereinstimmen, kann man nur erkennen, wenn man Intentionen mit den Folgen des Tuns vergleicht.

Dass es Rivalitäten, interne Kämpfe und sonstige Blockaden im Machtapparat Hitlers gab – geschenkt. Diese internen Friktionen können aber nicht gravierend gewesen sein. Sonst wäre es den Deutschen nie gelungen, Europa in Blitzkriegen zu überrennen und Millionen von Juden bestialisch zu ermorden. Nicht mal privilegierten Widerständlern gelang es, die Zerklüftungen des Machtapparats zu nutzen, um den Moloch zu beseitigen.

Sachzwänge soll es gegeben haben, obgleich Mommsen betonte, die Geschichte sei kein Fatum? Entscheidungen mögen wie Improvisationen wirken. Dennoch können sie die Früchte uralter Traditionen sein. Nicht nur der Mensch, auch der Verbrecher in seinem dunklen Drange ist sich seines Weges wohl bewusst.

„Er machte die Dinge komplizierter, indem er sie ans kühle Licht der Aufklärung holte.“ So Bahners.

Aufklären heißt weder simplifizieren noch verkomplizieren, sondern erkennen, wie etwas ist. Die Wahrheit hängt nicht von uns ab, sondern von der Realität. Wir haben zu erkennen, nicht am Erkannten herumzupfuschen.

Mommsen hat recht, wenn er die nationalsozialistischen Verbrechen dem ganzen deutschen Volk anlastet. Es waren keine Minderheiten, die mit teuflischem Ingenium ein ganzes Volk ins Verderben gelockt hätten. Doch Mommsen entlastet die führenden Eliten unzulässig, wenn er die Verbindung zwischen ihren Gedanken und Taten zerschneidet. Auf welchem Humus sollen die Taten denn gewachsen sein, wenn nicht auf bewussten und unbewussten Gedanken?

In disparaten Gesellschaften kann es riesige Unterschiede geben zwischen Absichten von Minderheiten und Taten des Kollektivs. Doch die Deutschen waren ein homogenes Kollektiv. Ein Volk, ein Land, ein Sohn der Vorsehung. Eine kürzere Linie zwischen messianischer Selbstverklärung und apokalyptischen Taten hat es in der Geschichte der Deutschen noch nicht gegeben.