Kategorien
Tagesmail

Krude Massen

Hello, Freunde der kruden Massen,

keine Attacke gegen Rechts ohne häufige Verwendung der Begriffe krude, dumpf, dumpfpatriotisches Selbstgenügen, spießbürgerliches Behagen. Das Gegenteil wäre wohl: hellpatriotischer Selbsthass, elitär-arrogante Missbilligung, großbürgerliches Unbehagen, zwanghafte Unzufriedenheit und perfektionistische Selbstoptimierung.

Wer greift an, wer wird angegriffen? Die Mitte greift die linken und rechten Ränder der Gesellschaft an. Links-extrem und rechts-extrem galten bislang als austauschbar. (Eine Zeit lang galten die Benennungen links und rechts als überflüssig und veraltet. Da es in der modernen Welt sachlich zugeht, könne es nur falsch oder richtig geben – obgleich der Begriff Wahrheit vehement abgelehnt wurde.)

Wer ist Mitte? Die mittleren und oberen Mittelschichten, die sich mit den Oberschichten identisch fühlen. Die wahre Macht liegt ganz oben bei den Eliten. Die leitenden Mittelschichten sind die eigentlich kreativen, sorgen für Wissenschaft, technischen Fortschritt und ideologische Absicherung der Macht. Zum Dank erhalten sie von den Eliten einen größeren Teil vom Gesamtkuchen als die abgehängten Unterschichten. An der eigentlichen Macht werden sie nicht beteiligt.

Zu den intellektuellen Beschützern der Eliten gehören die Medien. Man könnte sie die Prätorianergarden der Macht nennen. Wer heute die Eliten angreift, wird als Verschwörungstheoretiker angegriffen, der es sich mit stereotypen Schuldzuweisungen zu leicht mache. Den unteren Schichten soll die Berechtigung

genommen werden, die wahren Mächte der Gegenwart zu orten und zu benennen.

Zwischen rationaler Analyse und schuldverdrängender Sündenbocksuche muss tatsächlich unterschieden werden. Für das Gesamtdebakel einer Volksherrschaft ist das Volk zuständig, das Volk und nur das Volk. Das muss die oberste Devise aller Verantwortlichkeit bleiben. Das Volk darf keine Missstände zulassen, unter denen es selbst zu leiden hat. Wer Macht besitzt, trägt die Verantwortung. Hat das Volk seine Macht unzulässigerweise anderen überlassen, die mit der geraubten Macht den eigentlichen Souverän unterdrücken, muss es sich fragen lassen, warum es diesen Riesenfehler begangen oder zugelassen hat.

Dies muss der hörbare und unhörbare cantus firmus aller rationalen Schuldzuweisungen bleiben. Ist der eherne Grundsatz aber in Stein gemeißelt, kann es nur konsequent sein, die Eliten als Hauptspieler der gegenwärtigen Misere dingfest zu machen und zu attackieren. Wurde der Fehler begangen, eine bestimmte Klasse zur übermächtigen Elite aufsteigen zu lassen, muss dieser rigoros korrigiert werden. Stärkung der Schwachen, Schwächung der Starken tragen dazu bei, dass das Volk der Gleichen seine demokratische Macht zurückerobert.

Der Vorwurf des sich Zuleichtmachens soll das Volk an seinen geistigen Fähigkeiten zweifeln lassen. Was es nicht versteht, kann es nicht in eigener Regie übernehmen. Die Masse des Volkes muss dumpf sein, damit es sich durch die überlegenen intellektuellen Fähigkeiten der Bourgeoisie davon abhalten lässt, seine Macht und Rechte zu verteidigen oder zurückzuerobern.

Krude heißt roh, ungeschliffen, unbewusst. Seit Erfindung der männlichen Hochkultur rissen starke und wache Männer die Macht an sich, um die weibische, kindische und triebhafte Masse unter Kontrolle zu kriegen. Der Besitz der Macht wurde durch männliche Religion geheiligt und abgesichert. Sich der Obrigkeit, die immer von Gott war, zu unterwerfen, wurde zum heiligen Gebot. Wer gegen Gebote der Götter verstieß, riskierte sein Heil im Diesseits und Jenseits.

Bildung wurde zum Machtwissen und zur Herrschaftsmethode. Was Schulen und Universitäten heute an Bildung zu bieten haben, sind apolitische Instrumente der privaten Karriere, aber keine Vermittlung demokratischer Zivilcourage und Machterhaltung.

Wolfgang Benz, Historiker, hat in der TAZ einen Angriff gegen die krude und dumpfe Rechte durchgeführt, der an Krudität und Dumpfheit selbst nicht mehr zu überbieten ist.

„Wutbürger demonstrieren montäglich gegen die Idee der Toleranz, offenbaren ein krudes Weltbild aus Fremdenhass und Zorn gegen die Obrigkeit, zeigen sich als frustrierte Underdogs, die sich von Partizipation ausgeschlossen fühlen, weil sie das System der repräsentativen Demokratie nicht verstehen wollen und die Möglichkeiten politischer Teilhabe, die geboten sind, verschmähen und verachten. Die Abwesenheit jeder konstruktiven Idee ist ersetzt durch stumpfes Bramarbasieren und Wutgeheul.“ (Wolfgang Benz in TAZ.de)

Zorn gegen die Obrigkeit ist allemal sinnvoll, wenn sie ungerecht und undemokratisch handelt. Es ist lutherisch-paulinisch, jedweden Widerstand gegen die Obrigkeit als falsch zu bezeichnen, es ist demagogisch und verwerflich, Opposition gegen Machtanmaßungen in einem Atemzug mit Fremdenhass zu nennen.

Pegida ist tatsächlich eine Gefahr für die Demokratie. Doch ihre Bekämpfung setzt eine rationale Diagnose voraus, um eine rationale politische Therapie abzuleiten. Das ist bei Benz nicht der Fall. Er erklärt und versteht nichts. Analytische Kategorien stehen ihm nicht zur Verfügung. Mit allen Dumpfheiten einer überlegen sein wollenden Bürgerschicht, die ihre Intelligenz längst an der Garderobe abgegeben hat, versucht er, ein Krankheitssymptom der Gesellschaft durch krude Ächtung zu bekämpfen. Analysieren heißt Verstehen durch Erklären. Schon hier beginnt die bourgeoise Dumpfheit. Versuche, Pegida zu verstehen, werden von Benz abgebürstet:

„Man war vor allem um Streicheleinheiten und Mitleid für die erzürnten Bürger bemüht. Die Haltung, man müsse die Leute dort abholen, wo sie stünden, führte dazu, dass die Abholer bei den Protestierenden stehen blieben, trösteten, Verständnis zeigten und blind sein wollten gegenüber dem rechten Potenzial, das freudig von Demagogen und Extremisten ausgenutzt wurde.“

Verstehen heißt nicht verzeihen. Putinversteher sind eo ipso keine Putinverteidiger. Pegida-Versteher sind eo ipso keine Pegida-Verteidiger. Mag sein, dass das Reden mit den Pegadisten nicht klar und eindeutig genug war, um den Rechten das Undemokratische ihres Verhaltens vorzuhalten.

Verständnis zeigen heißt im Deutschen idiotischerweise: das Verhalten des anderen blind abzusegnen. In diesem Sinn hat Verständnis zeigen mit Verstehen, Erklären und Streiten nichts zu tun. Ich verstehe, um zu streiten, ich streite, um zu verstehen.

Für Benz ist es weit unter seiner professoralen Würde, sich in den Clinch der Straße zu begeben, um sich in den Nahkampf mit den Massen einzulassen.

First of all: indem die Pegadisten demonstrieren und ihren Protest anmelden, sind sie urdemokratisch. Das muss gewürdigt werden. Nur wenn sie ihren Protest mit Gewaltparolen garnieren oder als Vorstufe demokratiefeindlicher Umtriebe organisieren, sind sie schärfstens zu kritisieren, ja, zu verwarnen.

Ossis sind „Opfer“ zweier Diktaturen und leiden darunter, von Wessis als demokratische Leichtgewichte betrachtet zu werden. Unabhängig davon, ob man ihre Parolen für richtig hält oder nicht, sollte man sehen, dass die Ossis den arroganten Wessis zeigen wollen, dass auch sie Demokratie gelernt haben. Ihre Parole: „Wir sind das Volk“ ist keine bloße Anmaßung. Tatsächlich haben die Ossis zustande gebracht, wozu die Wessis bis heute unfähig waren: ein Gewaltregime mit friedlichen Mitteln davonzujagen. (Wenn auch gegen einen humanen „Feind“ namens Gorbatschow.)

Die Wessis hatten das geschenkte Privileg, in der 68er Revolte die Aufbruchsbewegung der amerikanischen Hippiebewegung zur Loslösung von ihren NS-Eltern zu nutzen.

Dass eine Minderheit sich für das Volk ausgibt, ist eine Anmaßung, aber keine Verwerflichkeit. Auch Herr Benz hält sich für die Inkorporation des Objektiven Geistes und nicht für das, was er ist: ein selbsternannter Verteidiger der bestehenden Machtverhältnisse, die er in toto verteidigt, ohne ihre Mängel und Ungerechtigkeiten wahrzunehmen. Seine Verteidigung des „Systems“ ist blinder und stumpfer als der Angriff der Pegadisten, die immerhin schwerwiegende Mängel der Regierung benennen können.

Merkels Flüchtlingspolitik entbehrt fast aller demokratischen Legitimationen. Weder befragt sie das Parlament, noch das Volk, geschweige die europäischen Nachbarn. Ihre Macht ist bereits so autokratisch  laut Forbes ist sie inzwischen mächtiger als Obama , dass sie es sich leisten kann, die deutsche Öffentlichkeit dreist zu erpressen: wenn dies und das nicht geschieht, ist dies nicht mehr mein Land.

Hat Benz nur eine winzige Prise Kritik an Merkel geübt? Im Gegenteil. Alles, was von Oben kommt, scheint ihm recht und billig. Alles, was von Unten kommt, ist per se – sündig. Benz agiert wie ein Theologe. Gott hat immer Recht, seine gottlosen Geschöpfe sind allesamt Satansbraten. Ob Benz gläubig ist oder nicht: er agiert in ungebrochenem lutherischen Obrigkeitston. Ruhe ist die erste Bürgerpflicht.

Was tun die Deutschen? Anstatt eine nachhaltig vernünftige Politik zu gestalten, um möglichst vielen Hilfsbedürftigen aus der Fremde ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen, gestatten sie sich das unterhaltsame Spiel, in eskalierendem Hass aufeinander einzuschlagen. Wer den Pegadisten – zu Recht – gefährlichen Hass vorzuwirft, sollte sie nicht mit demselben Hass überziehen.

Wenn Pegida-Bachmann den Justizminister Maas mit Goebbels vergleicht, ist das noch kein Verbrechen. Vergleichen heißt nicht Gleichsetzen. Deutsche Professoren sind zu ungebildet, um solche Kleinigkeiten zu kennen. Vergleiche mit NS-Vorgängen sind nicht nur erlaubt, sie sind geboten. Wenn wir überprüfen wollen, in welchem Maß das Gesetz des historischen Wiederholungszwangs uns schon hinterrücks überwältigt hat, müssen wir Vergleiche anstellen.

Benz gilt als renommierter Antisemitismus-Forscher. Das Gesetz, alles wiederholt sich, was durch Selbsterkenntnis nicht bewusst gemacht und bearbeitet wurde, scheint er nicht zu kennen.

Nebenbei zeigt das die Stümperhaftigkeit der deutschen Antisemitismus-Forschung. Die wahren Gründe des Antisemitismus werden nicht mal zur Kenntnis genommen. Als da sind:

a) die Leugnung des historischen Wiederholungszwangs. Welche Gefahren der Wiederholung sollen bestehen, wenn es keine Wiederholungszwänge gibt?

b) die postmoderne Leugnung der Wahrheit. Mit welchen Methoden sollen Holocaust-Leugner widerlegt werden, wenn jeder Mensch seine eigene unfehlbare Perspektive hat, allgemeine Wahrheit aber eine Chimäre sein soll?

c) die Verdrängung der Vergangenheit durch die göttliche Formel, sich täglich neu zu erfinden. Dann hätten wir uns schon viele Male aus dem Nichts neu erfunden. Der „alte Adam“ der Nazi-Ideologie hätte sich längst in Nichts aufgelöst.

d) die absolute Dominanz der Zukunft. Wir schauen nur noch nach vorne. Der Blick zurück behindert nur unseren Fortschrittswillen.

e) die völlig unkritische Dominanz einer christlichen Religion, die den Antisemitismus als Kernstück ihrer Ideologie enthält.

Antisemitismus erkennt man nicht an dümmlichen Wiederholungen von NS-Parolen. Nicht, wer zuerst Antisemitismus schreit, ist auch schon antisemitismus-frei. Wie apokryph antisemitisch ist Benz selbst, wenn er die deutsche Obrigkeit verteidigt, wie einst deutsche Massen ihre Führergestalten verteidigten?

Wenn SPD-Fahimi den Pegidasprecher Lutz Bachmann als „wahnsinnigen Faschisten“ beschimpft, welche Steigerung bliebe dann noch für den Führer, wenn er aus dem Grabe auferstünde?

Glaubt in Berlins abgeriegelten Machtrevieren irgendjemand im Ernst, eskalierende Hassorgien könnten nebenbei das Flüchtlingsproblem lösen? Pegida ist für die Herrschenden ein willkommenes Abfuhrobjekt, um von eigenen politischen Mängeln abzulenken.

Dass vieles in Berlin im Argen liegt, zeigt nicht nur Merkels debattenlose Charisma-Herrschaft, auch ihr stellvertretender Wonneproppen SPD-Gabriel hat selten Lust, sich mit Kritik öffentlich auseinanderzusetzen. Den TTIP-Gegnern von Campact verweigert er das öffentliche Streitgespräch. (TAZ.de)

Den Kruden und Dumpfen wirft Benz vor, nicht auf rationale Argumente zu hören. Das könnte auf manche Pegadisten zutreffen, bestimmt nicht auf alle. Pauschales Diskriminieren ist hier so hilfreich wie das Benutzen eines Holzhammers zum filigranen Häkeln.

Umgekehrt müsste man fragen: in welchem Maß ist das herrschende kapitalistische System rationalen Argumenten zugänglich? Schon vor Dezennien war das drohende Flüchtlingsproblem voraussehbar. Welcher Politiker hat die Zeichen der Zeit rechtzeitig erkannt und angemessen reagiert? Kein einziger unter den westlichen Vernunftbesitzern. Ist kapitalistische Naturverwüstung rational? Sind wachsende Unterschiede zwischen immer Ärmeren und unendlich Reichen rational?

Die schlaue BILD zitiert einen Artikel der New York Times, der die Ursachen des heutigen Flüchtlingsproblems weit in der Vergangenheit sieht:

„Die „New York Times“ gibt den Europäern eine Mitschuld an der Welle und sieht die Gründe weit VOR dem Irak-Krieg aus dem Jahre 2003. Die Autoren stellen es so dar: Ottomanische Dynastien sowie europäische Kolonialisten hatten neue Grenzen in der Region und in Afrika gezogen. Jetzt zerbrechen diese Grenzen, weil die Autokratien der Arabischen Staaten implodieren und gleichzeitig militante Gruppierungen wie ISIS und Boko Haram das Machtvakuum füllen – und dabei Minderheiten barbarisch quälen. Zu all dem komme ein weiterer Faktor, der die Völkerwanderung noch gewaltiger machen könnte: die Klimaveränderung. Naturkatastrophen oder Dürren könnten weite Landstriche in Afrika und im Nahen Osten unbewohnbar machen. Ein einziger Taifun könne beispielsweise „jederzeit“ Millionen Menschen in Bangladesch obdachlos machen.“ (BILD.de)

So kann BILD behaupten, auf das Problem hingewiesen zu haben, ohne die Thesen der New York Times ausdrücklich zu unterstützen.

Was Benz mit keinem Jota zur Kenntnis nimmt, ist die Verachtung der Vernunft – in der Mitte der Gesellschaft. Etwa in der hochgerühmten Literatur oder im feinsinnigen Feuilleton, das die literarischen Vernunftverächter in den Himmel hebt.

Reinald Goetz ist der komplette Wiedergänger eines deutschen Kraftkerls, eines Stürmer und Drängers, der Vernunft verachtet und seine Kunst für unpolitisch hält. FAZ-Kaube rühmt ihn ob seiner dialektischen Fähigkeit, Unvereinbares wie Wahrheit und Unwahrheit lässig miteinander zu vereinbaren.

Da muss keine Politik abseits stehen. Auch Merkels Politik ist die dialektische Synthese aus Wahrheit und Lüge. Götz – nomen est omen, Goethes Götz von Berlichingen war ein Stück seiner Sturm & Drang-Zeit – schnitt sich beim Bachmann-Wettbewerb mit der Rasierklinge die Stirn auf, um mit Blut seine blutleere Prosa in Wallung zu bringen. Ein Stück wie aus dem Lehrbuch über Sturm und Drang. Götz hat keine Hemmungen, die geistig tief stehende Politik verächtlich zu machen:

„Wenn man sich anschaut, wie Autoren, die politische Bücher geschrieben haben, jetzt zu den großen Themen und Weltkrisen öffentlich die parapolitischen Trivialitäten, die zurzeit in jedem entstehen, allen Ernstes als eigene Sätze, die etwas Selbstgedachtes vertreten sollen, in Interviews daherreden und sich dabei sichtlich wohlfühlen, muss man sagen: Auftrag der Sprache, der Schrift, der Literatur verfehlt, Sprechakt eitel, unpolitische Aktion.“ (WELT.de)

Vernunft ist immer trivial, denn sie ist moralisch. Moral sagt immer dasselbe. Alles muss mit eigenem Kopf gedacht, das Selbstgedachte aber auf keinen Fall genialisch-einmalig sein. Nur das deutsche Genie steht unter zwanghafter Profilneurose und muss sich ständig einmalig Neues einfallen lassen. Freunde der Wahrheit wollen nur Wahrheit, gleichgültig, ob alt oder neu, einmalig oder von anderen gelernt.

Der unpolitische Literat verteilt in blasiertem Stil politische Noten – und das deutsche Feuilleton jubelt. „Seiner Meinung nach könnten Schriftsteller gar nicht politisch sein – dafür seien sie mit ihrer Arbeit nicht schnell genug. „Literatur stellt sich der Welt, aber langsam. Unendlich langsam.“ Politik sei die Sache des Journalismus.“ (SPIEGEL.de)

Sturm und Drang war die Absage an jedwede Moral und Vernunft. Die feinsinnige deutsche Mitte von heute wiederholt diese Vernunftfeindschaft mit Inbrunst. Dann darf man sich wundern, wenn die deutsche Politik gleichermaßen kann, was deutsche Originalgenies können: die Vernunft verachten im Namen eines Lebens, das sich amoralisch und anarchisch gebärden muss, um sich lebendig zu fühlen.

Wir sind schon wieder soweit: die deutschen Eliten verachten die Vernunft und bejubeln den Exzess, die Ausnahme und das Unberechenbare. Das war der irrationale Schoß, aus dem das Ungeheuer kroch:

„Was der Aufklärung als Inbegriff der Freiheit gilt, die freiwillige Unterordnung des Individuums unter das Vernunftgesetz. Das erscheint dem Sturm und Drang als eine höhere Form der Knechtschaft. Beide Bewegungen streben nach Freiheit, aber jede verbindet mit Freiheit einen andern Sinn. Ist die Aufklärung die Empörung gegen die historische Autorität im Namen der Vernunft, so ist der Sturm und Drang auch die Empörung gegen die Vernunft im Namen des Lebens. Freiheit ist nicht Herrschaft der Vernunft, sondern Herrschaft des Lebens, nicht Selbstbeherrschung, sondern Selbstverwirklichung. Ekstatisches Leben ist hier der Güter höchstes, das größte Übel ist nicht moralische Schuld, sondern die Unterdrückung des Lebens durch Moral, der einmaligen Individualität durch die Uniformierung des Vernunftgesetzes.“ (H. A. Korff, „Geist der Goethezeit“)

Leben ohne Vernunft nennt man heute: seine Grenzen überwinden, an seine Grenzen gehen. Leben wird zum Risiko-Spiel mit dem Tod. Es gibt nur eine Möglichkeit, der Selbst-Zufriedenheit aus dem Wege zu gehen und das ist der Kitzel, dem Tod ins Auge zu schauen.

Spießbürgerlich ist alles, was sein Leben in Zufriedenheit verbringt. Zufriedenheit muss schrecklich sein, denn sie hat mit Frieden zu tun. „Spießbürger“ war die verächtliche Bezeichnung des Adels für die Armen der Stadt, die das Vergnügen hatten, mit ihren Spießen die Stadt zu verteidigen, während die Vornehmen sich dem Suff ergaben.

Heute sind Spießer jene, die sich der wahnwitzigen Selbstausbeutung des Neoliberalismus widersetzen. Benz beschimpft die Rechten als behagliche Selbstzufriedene, gleichzeitig aber als von irrationalen Ängsten geplagte, hasserfüllte Unzufriedene. Das ist selbstgefällige Professoren-Psychologie zum Nulltarif.

Massen repräsentieren das Unbewusste einer Gesellschaft. Gustave le Bon spricht von der „unbewussten Wirksamkeit der Massenseele.“

Das Es repräsentiert – nach Freud – im abendländischen Mann das irrationale Weibliche, das Kind, das innere Afrika. Bei Freud ist das Es vernunftlos und triebhaft.

Ursprünglich war Freud Anhänger der Aufklärung: wo Es war, soll Ich werden. Wenn Ich die Vernunft darstellt: woher soll diese gekommen sein, wenn das Kind nur triebhaft und unvernünftig war?

Später revidierte Freud seine Position und wurde zum Vernunftverächter: wo Es war, wird immer Es bleiben. Die Stürmer und Dränger hätten formuliert: wo Ich war, soll Es werden. Das Es ist die einzige Instanz, die uns wahres, überschäumendes Leben vermitteln kann.

„Der Mensch in seinem dunklen Drang ist sich des rechten Weges wohl bewusst“. Goethe hielt sich bedeckt: war der rechte Weg der moralische und vernünftige – oder der einmalig-geniale, der alle Hindernisse zu seinem asozialen Glück über den Haufen wirft? Wie Faust, der zum Morden fähig war, um als Menschheitsbeglücker verehrt zu werden.

Wie Kinder die Unwahrheiten der Eltern instinktiv spüren und als Schwächen empfinden, so verhalten sich die Massen zu den Eliten. Noch sind sie unfähig, ihre kritischen Empfindungen angemessen zu formulieren. Ihre Reaktion ist eine Mischung aus aggressiver Widerspiegelung der elterlichen Dummheiten und dem sehnlichsten Wunsch, die Autoritäten mögen doch Vernunft annehmen.

Kinder und Unterschichten wollen Eltern und Autoritäten retten und erlösen. Nicht anders die Rechten. In ihren anfänglichen Protesten sind sie noch voller Hoffnung. Mögen doch die Autoritäten den rationalen Kern ihres Protests durch alle destruktiven Maskeraden hindurch erkennen. Erst wenn sie bemerken, dass jene blindlings zurückschlagen, ohne das Geringste zu verstehen, beginnen sie unversöhnlich und gefährlich zu werden.

Kein rechter Extremismus fällt vom Himmel. Wie lange muss es unter und über der Decke gebrodelt haben, bis die jähzornig Gewordenen es wagten, einen Galgen zu zeigen? Exzesse sind Warnzeichen: tut endlich was, wir haben uns nicht mehr lange unter Kontrolle.

Wie viele Defekte muss eine Gesellschaft aufweisen, bis so etwas wie Pegida entstehen kann? Wie lange schon muss irrationales Brüten gezüchtet worden sein, dass solche Hassgefühle es wagen, sich ungeschminkt auf der Straße zu zeigen?

Benz spricht von existentiellen Ängsten, doch im Ton der Verachtung. Für ihn sind die Rechten überflüssige Loser, unfähig, den Erfordernissen der Moderne zu genügen. Alle Menschen haben doch Ängste, also kein Grund, bösartig zu werden.

Die Bösartigkeit der Eliten zeigt ganz andere und verheerende Formen. Sie beuten die Welt aus, schaffen unüberwindbare Gräben zwischen Armen und Reichen und vernichten das menschenfreundliche Klima. All dies mit der instrumentellen Ratio von Technokraten und Wissenschaftlern und der Gier von Unersättlichen.

Vernunftlose Planierraupen der Mächtigen vernichten die Welt. Vernunftlose Parolen der Rechten vergiften nur die Binnenatmosphäre der BRD. Erst allmählich beginnen sie gefährlich zu werden. Im Vergleich zu den Folgen der menschenverachtenden Politik der Weltmächtigen bleiben sie ein presque rien.

Massen seien durch logische Beweise nicht zu beeinflussen, schrieb le Bon. Sind denn Machthaber durch Logik zu beeinflussen? Ist die Befindlichkeit der Welt, geprägt von Eliten seit unendlichen Zeiten, in einem vorbildlich humanen Zustand? Seit unendlichen Jahren werden die Massen zur Unvernunft gedrillt, damit die Eliten einen unvernünftigen Blitzableiter besitzen.

Die Reaktion der Massen auf die Politik der Eliten ist eine Mischung aus berechtigter Kritik und ungezügeltem Hass gegen alle.

Die Politik der Eliten ist eine Mischung aus überlegener Cleverness, irrationaler Gier und suizidaler Ausweglosigkeit.

Demokratien sind Klassengesellschaften. Solange die Klassen sich nicht feindlich gegenüber stehen und sich den Schädel einschlagen, bleiben die Folgen der Spaltung überschaubar. Solange aber die Klassen so weit auseinanderdriften, dass Oberschichten für amoralische Schlitzohrigkeit, Unterschichten für bewusstseinslos-wütende Moral stehen, solange bleiben Demokratien dem Gesetz der Selbstzerstörung unterworfen.