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Friedliche Welt

Hello, Freunde der friedlichen Welt,

die in gefährliche Turbulenzen geraten ist. In München – darin waren alle Beobachter einig – wehte ein eisiger Wind. Meteorologisch kommt Väterchen Frost immer aus dem Osten und ist ein grimmiger Tyrann.

Die vom Westen in unermesslicher Güte aufgebaute Wohlstandsordnung wird von einem weltpolitischen Loser aus Moskau mit unberechenbarem Zündeln und Aufrüsten der prorussischen „Verbrecher“, wahlweise Freiheitskämpfer oder Terroristen, an der ukrainisch-russischen Grenze zerlegt.

Nach langen postmodernen Verwirrungen nähern wir uns wieder übersichtlichen moralischen Verhältnissen: die Guten, das sind wir. „Putin hat angefangen“. „Moskau hat die Friedensordnung der Nachkriegsjahre demontiert.“ „Der Westen muss endlich re-agieren“. „Putin will das westliche Bündnis zerlegen und Unfrieden zwischen Europa und den USA stiften.“

Aus taktischen Gründen hält Obama (ein ausgewiesener Freund des russischen Volkes) sich zurück und wartet das belanglose Gespräch mit einer Pseudopazifistin aus Berlin ab, bis er „rein defensive Waffen“ an die ukrainische Oligarchenregierung liefern wird, die bereits damit begonnen hat, den demokratischen Geist von Maidan zu – putinisieren.

Der Kiewer Journalist Ruslan Kotsaba, der die Aufrüstung der ukrainischen Armee kritisiert hatte, wurde festgenommen: „Am 19. Januar hatte der Fernsehjournalist in einem auf YouTube veröffentlichten Video erklärt, dass er sich nicht an diesem „brudermörderischen Krieg“ beteiligen und lieber in das Gefängnis gehen werde. Gleichzeitig rief Kotsaba seine Landsleute auf, ebenfalls den Kriegsdienst zu verweigern. Nun droht ihm eine mehrjährige Gefängnisstrafe wegen Staatsverrats. Menschenrechtler kritisieren unterdessen ein

am 5. Februar verabschiedetes Gesetz, das Kommandeuren bei Befehlsverweigerung den Einsatz von Schusswaffen gegen die eigenen Soldaten erlaubt.“ (Bernhard Clasen in der TAZ)

Sollte das rein eurasische Vierertreffen in Minsk zum Fehlschlag werden, will Obama sich persönlich mit Putin treffen, um in brüderlichem Geiste die Querelen zu glätten, damit nicht die ganze Weltordnung darunter leide und – horribile dictu – ein dritter Weltkrieg mit atomarer Gewalt die Menschheit an den Rand einer planetarischen Katastrophe bringe:

«Das Vertrauen zwischen der Nato und Russland ist nahezu zerstört», sagt der amerikanische Senator Nunn. «Mitten in Europa findet ein Krieg statt, internationale Verträge sind zusammengebrochen oder stark belastet, wir haben taktische Atomwaffen überall in Europa. Die Situation ist äußerst gefährlich.»“ (Markus Becker in SPIEGEL Online)

Pardon, Korrektur: aus „gutmenschlich-idealistisch-blauäugigem“ Wunschdenken missverstanden: auf keinen Fall wird sich Obama mit dem Möchtegern-Weltpolitiker aus Moskau treffen. Zwischen beiden soll die Chemie nicht stimmen. Olfaktorische Abneigung und chemische Allergie zwischen den mächtigsten Männern der Welt könnten die Auslöser für ein bis vor kurzem nicht möglich gehaltenes Weltdebakel werden.

Wie begann nochmal der Erste Weltkrieg – nach Historiker Clark? Wie Schlafwandler schlidderten die Europäer in das Inferno, das angeblich niemand wollte, die Deutschen aber seltsamerweise mit Hurra begrüßten.

Will die Menschheit einen Krieg? Niemals. Warum steht derselbe dann drohend vor der Tür und „Schlafwandler-Eliten“ dürfen sich als heldenhafte Verteidiger des globalen Glücks der Menschheit aufblasen, indem sie drohen, dieses Glück mit entsetzlichen Waffen zu atomisieren?

Meine Geschwister, wie können wir es zulassen, dass Heilsgeschichtler und hirnrissige Kenner des Willens Gottes uns die planetarische Heimat unter den Füßen wegziehen dürfen? Sind wir außer Rand und Band?

Vor kurzem noch prügelten die medialen Bürschchen auf Pegida ein, als ob diese Narren Deutschland einstürzen könnten. Was aber sind die – inzwischen fast schon verschwundenen – Wirrgeister gegen hasserfüllte Atomwaffenbesitzer und Raketenspezialisten, die sich nicht scheuen, mit stählerner Unfehlbarkeit das uralte Schwarz-Weiß-Spiel zu spielen und den ganzen Planeten zur Spielfläche zu erklären?

Hier gibt es kein tumultuarisches Aufbegehren der führenden Gazetten. Sonst immer leidenschaftlich überzeugt, dass es weder Gut noch Böse, weder Schwarz noch Weiß geben kann, stehen fast alle Kommentatoren wie eine Phalanx hinter dem Abendland – inklusive Neu-Kanaan – und verteidigen die blütenweiße Weste der Guten und Wahren aus dem erwählten Hause Profit & Macht.

Nur Andreas Zumach von der TAZ schert aus der Reihe und hält dem Westen den Spiegel vor. Nicht, dass Putin unschuldig wäre – der Dummkopf spielt exakt die Rolle des bösen Buben, die der Westen zur Legitimation seiner Aggressionen benötigt –, doch die Stärksten sind immer die Schuldigsten. Gefahrlos könnten sie souverän sein und dem attraktiven Vorbild ihrer demokratischen Reife vertrauen. Doch nach wie vor setzt der vorbildliche Westen auf die alles niedermachende Walze seines Geldes mit freundlicher Unterstützung nuklearer U-Boote und Kampfjets. Prophete links, Prophete rechts, das Weltkind Europa in der Mitte ratlos, stolpert von Torheit zu Torheit bis in brandgefährliche Selbstverblendung.

Wenn die Presse nur eine Lügenpresse wäre, man könnte sie leicht des Schwindelns überführen. Doch sie ist Parteigängerpresse mit selbst ausgestellter persilreiner Gesinnung. Gesinnungen lügen nicht, sie befinden sich im status confessionis, im gottesfürchtigen Bekennerwahn.

Als der russische Außenminister Lawrow seine unverschnörkelte Rede hielt, „wehte Kalter Krieg durch den Tagungssaal“. Als der eindimensionale amerikanische Haudegen McCain allen verruchten Widerstand gegen die westliche Heilsordnung mit Sanktionen und Ungemach bedrohte, was wehte da durch den Saal? Die neucalvinistische Nächstenliebe. Die FAZ sieht die Schuldigen nur im Kreml:

„Russische Abgesandte gaben für alles vor allem den Vereinigten Staaten die Schuld und stellten Russland als vollkommen unbeteiligt dar. Es hätte nicht viel gefehlt, Außenminister Lawrow hätte sich den Opferstatus zugebilligt und Moskau den großen Menschenrechtspreis zuerkannt, weil es mit der Annexion der Krim dem Selbstbestimmungsrecht Genüge getan habe und im Osten der Ukraine einen Völkermord zu verhindern helfe.“ (K.-D. Frankenberger in FAZ.NET)

Sollte man nicht annehmen, die sonst so pampig zur Schau gestellte westliche Allergie gegen Selbstgerechtigkeit müsste die Indifferenten zu verstärkter Selbstkritik animieren? Das Gegenteil ist der Fall. Es wird nur noch etikettiert: Kritik an Amerika ist Antiamerikanismus, Kritik an Europa lächerliches Putinverstehen, Kritik an der NATO verantwortungsloses Friedensgedöns.

Deutschland muss führen, locken antideutsche Schalmeien, die schon immer wussten, dass die Täter-Nation ihre Führungsambitionen nie aufgegeben hat. Und schon will die eiserne Lady von der Leyen „aus der Mitte führen“. In der Mitte dümpeln sie gern: die weder Maß noch Mitte kennen.

Nur die TAZ meldete, dass es in München eine gar nicht kleine Gegendemonstration – unter anderem mit Konstantin Wecker und Werner Schneyder – gegen die Kalten Konferenzkrieger gab.

Nur bei Zumach war zu lesen – in den Öffentlich-Rechtlichen mit keinem Jota zu hören – dass Waffenschmieden wie Krauss-Maffei Wegmann, MBDA oder Lockeed Martin zu den Sponsoren der Veranstaltung“ gehören. „Auf einer Podiumsveranstaltung konnten Vertreter der Rüstungsindustrie ihre Forderungen nach verstärkter Aufrüstung Deutschlands vorbringen.“ (Andreas Zumach in der TAZ)

Eine Veranstaltung, die dem Frieden dienen sollte, wird obszön von Waffenhändlern finanziert!

Einst gehörten die Waffenschmieden des Ruhrgebiets zu den Anheizern des Ersten Weltkriegs, später zu den Finanziers eines gewissen Führers. Heute sind ihre Nachkommen die tätigen Unterstützer des wieder erwachten Militarismus in Europa.

Noch macht die Kanzlerin in Friedensgesäusel, doch welche umstrittene Position hat sie – wider ihre transatlantischen Freunde – je unbeugsam festgehalten? Würde Europa endlich Renitenz gegen das Diktat des Pentagons zeigen, hätte es zum ersten Mal in seiner jungen Geschichte Autonomie bewiesen. Schwer ist es, erwachsen zu werden, oh Pastorentochter: zeig endlich den aufrechten Gang!

Tagungsleiter Ischinger rechtfertigte die überpräsente Waffenlobby mit der gegenläufigen Einladung von NGOs wie „Greenpeace, Transparency International, Human Rights Watch oder das Forum Ziviler Friedensdienst“.

Doch wie sah die Realität aus? „Greenpeace-Direktor Naidoo war der einzige NGO-Vertreter auf einem der zentralen Podien. In einer Nebenveranstaltung debattierte der Generalsekretär von Amnesty International, Salil Shetty, mit Entscheidungsträgern wie dem italienischen Außenminister. Die dramatische humanitäre Situation in vielen Ländern sei „eine Bedrohung für die globale Sicherheit und den globalen Frieden.“

In McCains Triumphrede gab es nicht die leiseste Andeutung einer Kritik an der westlichen Welt-Unordnung. Völlig unverständlich – per definitionem böse – muss demnach der immer stärker werdende Aufstand der nichtwestlichen Welt gegen die Satten und Selbstgewissen der Geschichtsgewinner sein. In Wirklichkeit ist die schöne Konsumwelt des Westens bis ins Mark desolat und verfault.

Zum bereits genannten Flüchtlingsproblem als Bedrohung der globalen Sicherheit gesellen sich die von allen westlichen Spitzenpolitikern sträflich vernachlässigten Kollateralschäden der anwachsenden Klimakatastrophe: “Der Direktor von Greenpeace International, Kumi Naidoo, erklärte, die Eindämmung des globalen Klimawandels sei „die vordringlichste Aufgabe zur Überwindung globaler Instabilitäten“.

Versteht sich, dass kein einziges Statement der NGO-Vertreter Naidoo oder Shetty in Phönix übertragen wurde. Lügenmedien? Betonierte christogene Gesinnungsmedien! Selbstkritik gehört nicht mehr zur Grundausstattung rasender Reporter.

Zu Recht überschreibt Zumach seinen zusammenfassenden Kommentar mit der Schlagzeile: „Der Zerfall der Unordnung“.

Sein Fazit ist erschreckend: „Die internationale Ordnung zerfällt und ihre institutionellen Garanten (Nato, EU, UNO, OSZE) reagieren zu zögerlich oder sind zu schwach. Trifft diese Leitthese der diesjährigen Münchner Sicherheitskonferenz zu? Und wenn ja, was sind die Ursachen für diese vermeintlich bedrohliche Entwicklung? Diese Fragen wurden bei der dreitägigen Veranstaltung nicht geklärt. Denn ein echter Dialog fand kaum statt. Zum die Konferenz beherrschenden Ukrainekonflikt redeten die führenden Vertreter Russlands und der USA in separaten Auftritten konfrontativ und kompromisslos aneinander vorbei.“

Alle großen Organisationen darben – und nicht erst seit gestern. Keine Merkel widersetzte sich bislang dem vorsätzlichen Ruin der UNO und anderer völkerverbindender Organisationen. Nun spielt sie in der letzten Sekunde hektisch die Friedenstaube.

Nirgendwo die Frage: sind wir tatsächlich so unschuldig, wie wir uns einbilden? Haben nur die anderen unrecht? In welchem Auge steckt der Balken, in welchem der Splitter? Es ist wie im frühen Mittelalter, als die europäische Christenheit zu den Kreuzzügen rüstete. Wechsle einige Namen aus und du kannst dich auf die damaligen Begründer des christlichen Dschihads berufen:

„Grundlage für die Kreuzzüge war aus christlicher Sicht der Gedanke des „gerechten Krieges“, wie er von Augustinus von Hippo vertreten worden war. Dies bedeutete später, dass der „gottgefällige Krieg“ nur von einer rechtmäßigen Autorität verkündet werden konnte (wie dem Papst oder heute dem unfehlbaren Weißen Haus). Es musste ein gerechter Kriegsgrund vorliegen (wie die ungerechte Behandlung von Gläubigen – oder heute von westlichen Korrespondenten und Satirikern), und der Krieg musste für gute Absichten (wie die göttliche Liebe – oder heute den Ausbau des gottgewollten Kapitalismus) geführt werden.“

Zumach: „Die Vertreter aus Washington ließen keinerlei Einsicht erkennen, dass die Politik von USA und Nato gegenüber Russland seit Ende des Kalten Krieges – angefangen mit der Ostausdehnung der westlichen Militärallianz – zum Ukrainekonflikt und zu Russlands kritikwürdigem Verhalten beigetragen haben. Auch in den Reden und Diskussionsbeiträgen von Bundeskanzlerin Merkel und Außenminister Steinmeier gab es keine Anzeichen für diese Einsicht oder gar für die Notwendigkeit, die Ukrainepolitik von Nato und EU zu korrigieren, um endlich eine Deeskalation des Konflikts und auch Korrekturen der russischen Seite zu bewirken.“

Zur galoppierenden Weltunordnung gehören die Punkte: a) der aller Gerechtigkeit Hohn sprechende Neoliberalismus, b) der naturvernichtende Kapitalismus, c) die Freihandelsabkommen zwischen den starken Staaten zu Ungunsten der schwachen, d) die ökologische Katastrophe.

„Für die große Mehrheit der Erdbevölkerung herrschte auch bislang keine verlässliche Ordnung und Sicherheit, sondern oftmals lebensbedrohliche Unordnung. … Nato, EU, Weltbank, Währungsfonds und andere institutionelle Garanten dieser globalen Unordnung sind in den meisten Ländern des Südens diskreditiert. Und die UNO, die einzige globale Ordnungsinstitution, hat sich wegen ihrer bisherigen Dominanz durch wirtschaftlich, politisch und militärisch gewichtige Staaten des Nordens als unfähig erwiesen, die globale Unordnung und Unsicherheiten zu überwinden.“ (Zumach)

Der Westen will nicht zur Kenntnis nehmen, dass seine zur Politik geronnene Religion zur Gefahr für die ganze Welt geworden ist. Nicht erst seit Aufkommen des englischen Frühkapitalismus. Unter Papst Nikolaus V. (1452) erhielten die Portugiesen „die Vollmacht, alle heidnischen Länder zu erobern und zu unterwerfen.“ Papst Alexander VI. (1493) teilte die neue „Welt in eine spanische und portugiesische Einflusssphäre“. Die Christen teilten die Welt unter sich auf.

Bis heute hat sich das nicht geändert. Früher wurden die neuen Völker mit Kanonen erobert und mit Glitter bestochen. Heute werden sie mit diskriminierenden Handelsabkommen geködert, die sie unterzeichnen müssen, wenn sie nicht völlig aus der Gnade des Westens fallen wollen.

Das Gefälle zwischen Reichen und Armen wird innerhalb der Nationen und zwischen ihnen immer größer. Macht durch unermesslichen Reichtum unterhöhlt alle demokratischen Ordnungen. Eine Gewaltenteilung zwischen Wirtschaft und Staat findet nicht mehr statt. Unersättliche Ökonomie will den Staat und die überflüssigen Massen zur quantité négligeable degradieren.

Die wirksamste Strategie der westlichen Superdominanz aber ist die listenreiche Anwendung einer ambivalenten religiösen Moral (Antinomie). Christliche Moral enthält positive und negative, humane und inhumane, gute und böse Elemente nebeneinander. Das Nebeneinander aber wird zur genial satanischen Verkoppelung, da das Gute der Legitimation des Bösen dienen muss. Plus mal minus = Minus. Das Böse, das in den Dienst des Guten gestellt wird, wird zum Kreativen, Fortschrittlichen und Welterobernden.

Reine Gutmenschen wären zufrieden mit ihrem Los und hätten keine Motivation, um mit „bösen“ Mitteln Rivalen auszustechen, den Wohlstand bis ins Selbst- und Naturschädigende hochzutreiben und die Welt mit technischer Überheblichkeit zu überwachen und zu kontrollieren.

Bei Goethe steht das Gute für Faust, das Böse für Mephisto, den Gott als Antreiber, Motivator und erbarmungslosen Triumphator dem ausgebrannten Faust zur Seite stellt:

„Du darfst auch da nur frei erscheinen;
Ich habe deinesgleichen nie gehaßt.
Von allen Geistern, die verneinen,
ist mir der Schalk am wenigsten zur Last.
Des Menschen Tätigkeit kann allzu leicht erschlaffen,
er liebt sich bald die unbedingte Ruh;
Drum geb ich gern ihm den Gesellen zu,
Der reizt und wirkt und muß als Teufel schaffen.“

Nichts Böses ist Christen verboten. Vom Guten gedeckt dürfen sie Mensch und Welt erobern und vernichten. Um sich die Erde untertan zu machen, ist der Teufel das wirksamste Werkzeug.

Gegen das infernalische Benutzen des Bösen zu eschatologischen Zwecken haben die Völker der Welt bislang kein Kraut gefunden. Im Gegenteil, die Stärksten unter ihnen übernahmen die instrumentelle Verwendung des Bösen, um im wirtschaftlichen, technischen und machtpolitischen Wettbewerb alle unliebsamen Rivalen zu disqualifizieren. Wer aus moralischer Lauterkeit abseits bleibt, zieht in allen Dingen den Kürzeren.

Den absoluten Höhepunkt der westlichen Dominanz zuungunsten aller Unkreativen, Zufriedenen und Selbstgenügsamen in aller Welt schildert – lobend und verherrlichend – der israelische Universalhistoriker Yuval Harari. Die Zukunft der Menschheit wird allein von den Genialen aus Silicon Valley bestimmt. Selbst der Tod – der „Feind aller Menschen“ – wird eines Tages von Algorithmen besiegt werden. Was schon Schirrmacher an Ray Kurzweil mit großen deutschen Augen anbetete, hält Harari bereits für bewiesen:

„Auch die Wissenschaft kann neue Religionen hervorbringen, dazu braucht es keinen Gott. Der interessanteste Ort dafür ist derzeit das Silicon Valley. Es ist wie das alte Rom zur Zeit der Frühchristen, neue Religionen werden geboren im Kopf von Menschen wie Ray Kurzweil (prägender Theoretiker zur Verschmelzung von Mensch und Maschine zu höheren Wesen, Anm d. Red.). Solche Menschen sind religiöse Propheten mit erstaunlichen Visionen. Diese sind sogar ambitionierter als die der klassischen Propheten. Das, was gerade entsteht, könnte man Techno-Religion nennen.“ (Interview in Süddeutsche.de)

Die Menschheit wird nicht gefragt, wie sie ihre Zukunft gestalten will. Silicon Valley, vermutlich in Kooperation mit der NSA, wird sich die Erde in gottgleicher Allmacht untertan machen. Die Transsubstantiation der traditionellen Religion in technische und wirtschaftliche Weltbeherrschung findet bei Kurzweil & Co ihre Vollendung. Die Reichen oder Erwählten werden unsterblich und ernten ewige Seligkeit, die Armen und Verworfenen werden zu sterblichen Sklaven derer im Licht.

Durch selbsterfüllende Prophezeiung sind biblische Verheißungen wahr geworden. Eine autonome Kontrolle der Geschichte ist ausgeschlossen. Die Entwicklung rollt über die meisten hinweg, ohne dass sie wüssten, was geschieht, ohne die geringste Chance, ihr Geschick selbst zu steuern. Die Verhältnisse werden immer ungleicher werden:

„Wir werden gewaltige Ungleichheiten erleben. Einige Länder werden die Richtung vorgeben, viele Länder in Afrika und dem Nahen Osten bleiben zurück. Aber auch innerhalb von Nationalstaaten sehen wir bereits, dass die Einkommensungleichheit wächst – jene Kluft, die im Laufe des 20. Jahrhunderts geschlossen schien, reißt jetzt wieder auf. Und ich glaube, dass wir erstmals in unserer Geschichte eine Unterteilung in biologische Kasten sehen könnten – weil Medizin es im 21. Jahrhundert ermöglicht, Menschen ein Upgrade zu verpassen, Fähigkeiten zu entwickeln, die weit jenseits der Norm liegen.“ (Harari)

Das Finale der Geschichte wird ein Rückfall in absolute Despotie aus dem Geist der Erlösung sein. Wir müssen von einem transzendenten Totalitarismus sprechen.

Platons faschistische Politeia und die christlichen Zielvorstellungen Himmel und Hölle – Utopie & Dystopie in einem – werden zu einer grauenhaften Einheit verschmolzen. Hararis Visionen bringen die inhärenten Entwicklungsmomente der westlichen Gottebenbildlichkeit auf den bislang präzisesten Nenner.

Trotz aller Bedürfnisse nach westlichem Wohlstand spüren viele nichtwestliche Staaten den selbstzerstörerischen Gigantismus der christlichen Moderne. Putin wollte für die friedliche Selbstauflösung des kollektiven Sozialismus durch gleichberechtigte Teilhabe am reichlich gedeckten Tisch des Westens belohnt und anerkannt werden.

Russland beanspruchte, den Kalten Krieg in vorbildlich humaner Abwicklung beendet zu haben. Der Westen jedoch verhöhnte den Nachfolger des charismatischen Gorbatschow. „Ihr Asiaten gehört nicht zur Europa, ihr habt nur Bankrott gemacht, sonst habt ihr nichts zu bieten.“

Die Folgen der schmählichen Degradierung Russlands durch eine gigantesque Selbstüberschätzung des Westens erleben wir momentan als Vorboten eines potentiellen Kriegs, der alle Völker in Mitleidenschaft ziehen könnte.

Wer sich dem auserwählten Westen nicht fügt, fährt zur Hölle.