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Luther und die Justiz

Hello, Freunde Luthers,

die Engländer haben John Locke, die Franzosen die Revolution, die Amerikaner die Unabhängigkeitserklärung – wir Deutschen haben Luther. Für den ehemaligen Verfassungsrichter Udo Di Fabio ist Luther mehr wert als Lockes Demokratie, die Französische Revolution und die amerikanische Freiheit zusammen.

„Kompass für die Welt“ überschreibt er seinen FAZ-Artikel zum Reformationsjubiläum in drei Jahren. Darunter macht er’s nicht: Deutschland soll Kompass für die Welt sein. Am lutherischen Wesen soll die Welt genesen. Es sind die Deutschen, die die Weltpolitik neu justieren müssen. Noch mehr: die Neuzeit soll von den Deutschen im Geiste Luthers neu fundiert werden:

„Der Westen hat allen Grund, das Reformationsjahr 1517 in Erinnerung zu rufen und die Neuzeit neu zu begründen.“ (Udo Di Fabio in FAZ.NET)

Gewaltige Ereignisse werfen ihre Kollateralschäden voraus. Di Fabio bewirbt sich schon jetzt um die ehrenvolle Aufgabe – drapiert in schwarz-rot-goldene Parolen: sag Ja zu Deutschland, wir sind wieder wer, ich bin stolz auf Deutschland –, die staatstragende Rede über das Urgestein aus Wittenberg zu halten. Als oberster Richter ist er zu diesem Amt prädestiniert.

Frau Justitia hat die Binde um die Augen, um sich nicht von Machtverhältnissen blenden zu lassen. Di Fabio hat die Binde um die Augen, um sich nicht von der Realität des entsprungenen Mönches irre machen zu lassen. Sein

Bewerbungsartikel um den Titel „Luthers herausragender Lobredner, in Sonderheit aus der Perspektive eines kühlen und neutralen juristischen Sachverstands“ wird bei Huber, Käßmann und Merkel mit Wohlwollen angekommen sein.

(Die altertümliche Wendung „in Sonderheit“ ist eine Lieblingsvokabel frommer Thron & Altar-Bewunderer und hat den deutschen „Sonderweg“ ecclesiogen vorbereitet.)

Di Fabio lädt Luther gleichsam vor Gericht. Doch der Freispruch mit Krönung zum Deutschen Helden steht bereits vor Eröffnung der Verhandlung fest. Eine glänzendere Rehabilitation eines Urvaters des Hitlerregimes ist nicht denkbar. Der Ton aller kommenden unzähligen Lutherfeiern von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt, ist damit in Granit gehauen.

Wie vor 100 und 200 Jahren soll Deutschlands Selbstbild mit lutherischem Glanz und Gloria gefeiert und illuminiert werden. Würde der Oberrichter all seine Prozesse wider alle Indizien und Beweise, ohne Zeugen und Gegenzeugen, ohne Anklage und Verteidigung, mit apriorischen Frei- und Schuldsprüchen führen, wäre er ein Fall für den Europäischen Gerichtshof.

Um das Fazit vorweg zu nehmen: mit dieser Verfälschung Luthers zum homo teutonicos, mit dieser Entlastung von allen pathologischen Entwicklungen, die in die deutsche Katastrophe führten, ist die Nachkriegs-Bewältigung der deutschen Vergangenheit endgültig ad absurdum geführt.

Die Deutschen sprechen sich frei von allen Sünden. Das NS-Reich war das unerklärbare Zufallsereignis kleiner undeutscher Zyniker-Eliten unter der dämonischen Führung eines ausländischen Satans. Das Böse, unerklärbar und geheimnisvoll, muss von außen in die moralisch-tüchtige, protestantisch-anständige deutsche Idylle eingedrungen sein und die arglosen Simplicii Simplicissimi am Nasenring ins Verderben geführt haben.

Mit Luthers Weißwaschung steht fest, dass deutsche Geschichte mit Deutschen nichts zu tun haben kann. Ohnehin wollen deutsche Historiker die deutsche Geschichte – besonders die Völkerverbrechen – ohne erhobenen Zeigefinger und moralischen Ballast, in neutraler Beobachtungssprache, in Zahlen und Tabellen notieren und niederschreiben.

Geschichte ist kein Übungsfeld für praktische Moral. Historie muss historisiert, von allen lähmenden und sachfremden Moralbewertungen frei gehalten werden. Auschwitz ist nichts für sentimentale Gutmenschen, die bleich werden, wenn sie mit den Untaten der Schergen im Detail konfrontiert werden. Es gilt die modifizierte Himmler-Rede: wer im Anblick des Grauens wissenschaftlich und objektiv geblieben ist, nur seinem werturteilsfreien Historikerberuf verpflichtet: der wird eine niemals geschriebene und niemals zu schreibende Ruhmestat der deutschen Historikerzunft geleistet haben.

Germanen, Lutheraner, aufrechte Deutsche: die Vergangenheit, die nie vergehen wollte: wir haben ihr Beine gemacht. Nun ist sie für immer vergangen. Lasst uns die blutigen Akten schließen. Gedenken wir nicht des Früheren und schauen wir optimistisch in die Zukunft, die für leistungsstarke Deutsche rosig sein wird.

Europa rückt nach rechts, wir rücken freudig mit. Heil uns, wir sind. Was wären die Europäer ohne uns und unsere ökonomische Kraft? Ja, die ganze Welt wartet insgeheim darauf, dass wir ihr die Richtung weisen und zeigen, wohin die Reise der Menschheit gehen soll.

Von Anfang unterteilt Di Fabio die Menschheit in Redliche und Unredliche. Die Redlichen bemühen sich, das Luther-Jubiläum als „epochales Geschehen mit weltpolitischen Folgen zu deuten“. Wenn da nur nicht die anderen wären:

„Gehör finden womöglich aber auch andere, die auf der immerwährenden Suche nach historischen Skandalisierungen sind. Sie reduzieren die Reformation auf die Person des Reformators und zitieren aus seinen Spätschriften verstörende antijüdische Traktate. Aus dem mit der Reformation aufbrechenden Konflikt bis hin zum grausigen Dreißigjährigen Krieg werden Belege gesammelt für den fanatischen Fundamentalismus Luthers.“

Hat ein Richter nicht zu beurteilen, ob belastende Indizien wahr sind – oder darf er sie ablehnen, weil sie unerwünschte Wirkungen auf die Menschen ausüben? Richter haben über alles zu richten, was ihnen aufgetragen wird. Sie sind in der Situation aller Politiker und Demokraten, die sich über das Wesentliche in der Gesellschaft eine Meinung bilden müssen. Auch wenn sie nicht vom Fach sind.

Von Demokraten darf man erwarten, dass sie lernen und sich in Gebiete einarbeiten, die ihnen ursprünglich fremd waren. Zum Lernen gehört die kaltblütige Wahrnehmung der Realität, gerade auch jener Fakten, die einem den Magen umdrehen können.

Di Fabio fühlt sich von Antisemitismus und christlichem Fanatismus verstört und ergo wischt er diese unangenehmen Tatsachen vom Tisch. Ohne Argumente. Allein durch Diffamierung derjenigen, die diese Dinge anders sehen. Querulanten und Skandalbrüder sind das, nicht weiter beachten! Es kommt noch schlimmer: „so präsentiert uns heute manch einer Luther als Vordenker des Holocaust und Ahnherrn eines religiös motivierten Terrorismus.“

Wie widerlegt Di Fabio diese Thesen? Von widerlegen kann keine Rede sein. Er höhnt. Kurz und knapp. Ganz nach Art neudeutscher Herrenmenschen:

„Solche Deutungsmuster sind gewiss historisch krude, aber sie atmen doch auch einen dekonstruierenden Zeitgeist. Wer hinter die starken Worte und Anklagen sieht, spürt Selbstzweifel und Angst einer westlichen Welt, die allmählich in die globale Defensive gerät. Es ist die Verwirrung einer Welt, die so lange an ihren Wurzeln gezerrt hat, dass sie nun Angst vor dem ersten Windstoß bekommt. Was ist denn aus dem glänzenden Sieger des Kalten Krieges geworden?“

Deutsche Angsthasen, reißt euch am Riemen und strömet herbei. Hier seht ihr Ihn, den glänzenden Sieger des Kalten Krieges, der eure Verzagtheit beheben und eure lächerlichen Ängste ins Gegenteil verkehren wird. Nein, es waren nicht die Amerikaner mit ihrer überlegenen Wirtschaftsmacht, es ist der deutsche Richter Udo Di Fabio, der euch an die Hand nehmen wird. Schon werft ihr all eure Selbstzweifel, Ängste und Verwirrungen von euch. In der Welt habt ihr Angst, doch siehe, Udo hat die Welt überwunden. Ja, auch ihr gehört zu den glänzenden Siegern. Ihr deutschen Kriegsverlierer habt euch rehabilitiert, eure Schande ausgewetzt durch einen furiosen Sieg über eure östlichen Besieger.

Diese Passage könnte fast wortwörtlich in einer der unzähligen theologischen Traktate der 30er-Jahre stehen, in denen Gottesmänner die deutsche Not wortmächtig beschworen haben – um in gläubiger Ergriffenheit auf den messianischen Führer einer bislang unbekannten Partei hinzuweisen, der alle Ängste, Nöte, Selbstzweifel und Verwirrungen der Deutschen mit charismatischer Vollmacht heilen wird.

Die deutsche Not: das war die pessimistische, nihilistische und untergangssüchtige Grundstimmung der Deutschen, der sie auf das Wunder vorbereitete: „dass ihr mich gefunden habt, und dass ich euch gefunden habe, das ist Deutschlands Glück“, wie der Führer auf dem Nürnberger Parteitag in johanneischen Worten tremolierte.

Aus der typischen Andacht eines Geistlichen aus dem Jahre 1932, des Theologen Joachim Hossenfelder, der die „Deutschen Christen als SA Christi“ betrachtete: Unter dem Leitgedanken „Der Heiland und der Führergedanke“ versuchte Hossenfelder, die Sendung des Führers durch die Gestalt Jesu zu deuten:

„Der gute Hirte weiß sich durch den Willen Gottes seiner Herde verpflichtet. Dem Mietling ist das unverständlich. Das deutsche Volk aber ersehnt einen Führer, der Hirte ist und nicht Mietling. Der Mietling wird stets einem Stand oder einer Partei vermietet sein. Der Hirte aber ist aufs innigste verbunden mit seinem Volke. Führer und Volk vertrauen einander, weil sie wissen, dass Gottes Ruf sie verbunden hat.“ (Zitiert bei Scholder „Die Kirchen und das Dritte Reich“)

Wie Hitler von Hossenfelder, so wird Luther von Di Fabio in eine Heilandsfigur verwandelt, die alle Nöte der Deutschen beheben wird. Dass der Richter es nicht nötig hat, sich mit dem Antisemitismus Luthers penibel zu beschäftigen, das ist kein Skandal mehr. Das ist eine Gefahr. Sollte Di Fabio die Mentalität der deutschen Eliten nur zum Bruchteil repräsentieren, können wir uns in Zukunft warm anziehen. Der Rechtsruck der Franzosen und Ungarn wird eine Petitesse sein, verglichen mit den auferstehenden Ungeistern der Deutschen.

Hier eine kleine Erinnerung an den belanglosen Antisemitismus Luthers, der rein zufällig von jedem Nationalsozialisten als geistlicher Gewährsmann seines eigenen Judenhasses verehrt wurde:

„Die Juden sind ein solch verzweifeltes, durchböstes, durchgiftetes Ding, dass sie 1400 Jahre unsere Plage, Pestilenz und alles Unglück gewesen sind und noch sind. Summa, wir haben rechte Teufel an ihnen …; Man sollte ihre Synagogen und Schulen mit Feuer anstecken, … unserem Herrn und der Christenheit zu Ehren, damit Gott sehe, dass wir Christen seien (…) ihre Häuser desgleichen zerbrechen und zerstören.“ („Von den Juden und ihren Lügen“)

Auch in einer Phoenix-Doku über die Hölle wurde Luther als Lichtgestalt dargestellt, der die verdinglichte Form der Hölle überwunden hätte. Am Kreuz hätte Jesus den Tod für immer besiegt. Dass am Ende aller Tage derselbe sanfte Heiland mit dem blutigen Schwert zwischen den Zähnen die Menschheit auf ewig aufspalten und die Verdammten durch den Zweiten Tod ins Feuermeer schicken würde – davon kein Wörtchen.

Wenn die „Bindekräfte der Parteien“ schwinden, bräuchten wir „Große Erzählungen“, um nicht vor lauter „indifferenter Offenheit die eigene Identität zu verlieren“. So Di Fabio. Dass die Gesellschaft immer mehr zerfällt, hinge mit der übermäßigen Toleranz einer glaubenslosen Nation zusammen. Hier hülfe nur die Erinnerung an eine große Vergangenheit der Deutschen.

Nicht der Erinnerung an die Französische Revolution, an die Schriften John Lockes oder Thomas Paines. Es muss eine deutsche Heldengeschichte sein. Deutschland ist der Kompass für den Westen, der Westen der Kompass für die ganze Welt. Frei nach Fichte: Deutschland muss der Heiland der Welt werden.

Warum war die Reformation ein so richtungsweisendes Ereignis? „Die Reformation war eine Revolution des Geistes. Sie ist eine der Geburtsstunden der Neuzeit – nach dem Renaissancehumanismus und vor dem Rationalismus und der Aufklärung.“

Zweifellos war Luthers Tat nicht ohne Wirkung, fragt sich nur welcher. Für Nietzsche war Luther eine verhängnisvolle Figur, die durch Reform des Papismus den Papismus erst wieder lebensfähig und das stolze und wilde Treiben der Borgias und Herrenmenschen im Vatikan unmöglich machte.

Die Beendigung der klerikalen Vermittlerkaste war für eine kurze Zeit ein Befreiungsschlag für viele kleine und einfache Leute, auch für die Bauern, die sich durch Luther zur Revolution gegen ihre Unterdrücker ermutigt fühlten. Doch das Zeitfenster schloss sich schneller, als es sich geöffnet hatte. Kaum zogen die Bauern zu Felde, war es der verehrte Meister aus Wittenberg, der gegen die rebellischen Bauern wütete:

„Steche, schlage, würge hier, wer da kann. Bleibst darüber tot, wohl dir, einen seligeren Tod kannst du nimmerdar erlangen. Denn du stirbst im Gehorsam gegenüber dem göttlichen Wort und Befehl. („Wider die stürmenden Bauern“)

Die erste Revolution auf deutschem Boden war auch schon die letzte. Alle lutherischen Freiheiten kippten um in neue und verinnerlichte Unfreiheiten. Die Hölle zog nach innen und peinigte die Seelen der Menschen ins Unerträgliche. Ab jetzt sah sich jeder Gläubige von Gott selbst beobachtet. Zuvor war Gott durch seine Stellvertreter verdeckt gewesen.

Die Omnipräsenz des Himmels, die geistliche Vorbereitung der heutigen NSA, hielt Einzug im christlichen Europa. Ohne priesterliche Vergebung der Sünden war jeder Einzelne ungeschützt den Ängsten vor dem höllischen Feuer ausgeliefert. Zwar waren die Papisten als Machtpersonen verschwunden, dafür kam der papierne Papst, die Bibel, und vor allem die Obrigkeit, der man in allen Dingen zu gehorchen hatte. Es gab keine Obrigkeit, die nicht von Gott wäre.

Warum dauerte es so lang in den Kreisen der späteren Widerständler, ihrem Führer eine Bombe vor die Füße zu werfen? Es war die lutherische Lehre von Römer 13, die die überzeugten Lutheraner daran hinderte. Paulus pries jede Regierung, sie sei noch so despotisch und verwerflich, als Gabe Gottes und verpflichtete die Gläubigen zu unbedingtem Gehorsam.

An die Stelle des Papstes trat bei den evangelischen Abweichlern nicht nur der hochgebildete Pastor, der die Bibel in überlegener Manier deuten konnte, sondern der Summepiscopus, der oberste Landesherr, der seit dem Augsburger Religionsfrieden (wessen das Land, dessen die Religion) selbstherrlich die Religion seiner Untertanen bestimmen konnte. Wechselte ein Fürst aus dynastischen Gründen seine Religion, mussten die Untertanen ohne Murren folgen – oder auswandern.

Der berüchtigte Untertanengeist der Deutschen, der noch heute nicht überwunden ist und einen geduckten Nationalcharakter schuf, ist das Ergebnis des Luthertums, das anfänglich grandios aufbrauste und im nächsten Moment sich ins Gegenteil verwandelte. In der Jugend forsch und aufmüpfig, ab Eintritt ins Berufsleben beweglich und geschmeidig – das ist die durchschnittliche deutsche Biografie. Das haben sie dem Papst in Rom und dem neuen Papst in Wittenberg zu verdanken.

Nun kommen die Generallügen der Kirchen, übernommen von fast allen Intellektuellen und Edelschreibern – weshalb bislang kein einziger Gegenartikel zu Di Fabio erschienen ist.

Obgleich Luther den Einzelnen zum absoluten Gehorsam gegen alle Obrigkeit verpflichtete, soll er die Menschenrechte und die Grundlagen der heutigen Verfassung erfunden haben.

„Wer sich heute nicht durch antireligiöse Affekte blind macht, vermag zu erkennen, wie viel das Verfassungsrecht der Neuzeit dem Zeitalter der Reformation verdankt. Das Beharren auf Glaubensgewissheit und Gewissensfreiheit ist ein zentraler Ausgangspunkt der großen Idee personaler Freiheit und Rechtsgleichheit. Die Vorstellungen angeborener Menschenrechte, der Würde, der freien Entfaltung der Persönlichkeit, der Gleichheit vor dem Gesetz: Das alles stammt natürlich aus tieferen Schichten, aus jenem großen Fundus der Geistesgeschichte, der von der antiken Philosophie über die Evangelien bis zu Thomas von Aquin und der Theologie des Spätmittelalters reicht. Aber 1517 forderte ein Einzelner den Papst und den Kaiser heraus mit seiner Behauptung des rechten Glaubens, und er stützte sich im Kern auf nichts anderes als die Heilige Schrift und sein Gewissen.“

Hier ist jedes Wörtlein falsch. Man kann nur staunen, zu welchem Grad verrotteter Wahrheitsfähigkeit die deutsche Intelligentsia sich hat verderben lassen.

Das Gewissen als Legitimation der Freiheit? Das Gewissen war in Gott gefangen, wie Di Fabio selber zitiert. Der Gläubige war zu absolutem Gehorsam gegen Gott verpflichtet. Kein Tüttelchen anders als der orthodoxe Jude und der korangläubige Muslim.

Heute agitieren sie gegen „fanatische Schariaanhänger“ und verteidigen den totalitären Glaubensgehorsam der Christen als Befreiung des Gewissens. Der größte Teil des heutigen Hasses gegen die Muslime beruht auf einem verdrängten Selbsthass der Christen.

Nur mit einem kleinen Schlenker erwähnt Di Fabio, dass Menschenrechte aus dem Fundus der antiken Philosophie stammten, die er, wie heute üblich, mit den Evangelien in einen Sack steckt. Dass die Frohe Botschaft die Umkehrung aller antiken Werte war, hätte er bei Nietzsche nachlesen können. Ob der fromme Richter den gottlosen Pfarrersohn je zur Kenntnis nahm?

Hier wird Dummheit zur bodenlosen Doktrin. Luther hasste die Vernunft als Stimme des Teufels. Bei Di Fabio wird Reformation zur Geburtsstätte der modernen Vernunft:

„Die Neuzeit sucht seitdem ihre Identität in der Würde und Vernunft eigenverantwortlicher Menschen, der Vielfalt der Überzeugungen und in der Standhaftigkeit gemeinsamer Wertebehauptungen. Der Westen hat allen Grund, das Jahr 1517 in Erinnerung zu rufen und die Neuzeit neu zu begründen.“

Nicht Lessing, Kant und Leibniz, nicht die französischen Aufklärer, werden als Paten der Toleranz und Glaubensfreiheit beschworen, sondern der zornige Berserker aus Wittenberg, der in seinen letzten Jahren jeden Ketzer und Widersacher in die Hölle verfluchte. Sein Kollege Calvin ließ einen Andersgläubigen, nicht anders als die katholische Inquisition, auf einem Scheiterhaufen verbrennen.

Udo Di Fabio ist Verfassungsjurist. Was bezweckt er mit seinen Ausführungen auf dem Niveau eines christlichen Dschihadisten? Ist er als Vertreter der Dritten Gewalt nicht zur Neutralität verpflichtet?

Was er unter Neutralität versteht, sagt er mit dem Satz: „Hier ist Neutralität des Staates geboten und nicht Parteinahme. Amts- und Mandatsträger dürfen sich nicht auf die Seite einer antireligiösen Stimmung schlagen, die bisweilen an die noch unreflektierten Aufklärer des 18. Jahrhunderts erinnert oder die in der Religion nur Opium für das Volk sehen will.“

Die Kirchen verstehen es vortrefflich, sich vom Staat mästen zu lassen – und sich dennoch als armes und schutzbedürftiges Häuflein zu gerieren, sodass der Staat sich in seinen Vätercheninstinkten angesprochen fühlt und die Kirche in allen Dingen bevorzugen muss – um sie unparteiisch zu behandeln.

Der wahre Grund der Sympathien für die Kirchen aber liegt tiefer. Ohne Religion, so viele einflussreiche Oberrichter der Nation von Böckenförde bis Di Fabio, muss die säkulare Demokratie zugrunde gehen. Religion ist Kitt der Gesellschaft. Zerfällt der Kitt, zerfällt die Gesellschaft. Die Schlussfolgerung liegt dann auf der Hand:

„Der Verfassungsstaat muss deshalb die Erosion großer Volkskirchen, aber auch der kleinen religiösen Gemeinschaften ebenso wie das Verblassen eines reflektierten laizistischen Humanismus mit einiger Sorge betrachten, auch wenn ihm Mittel fehlen, diesen Prozess aufzuhalten.“

Um Gottes willen, niemals sind Verfassungsrichter parteiisch. Sie unterstützen nur in besonderem Maß jene Institution, die als einzige den Staat zusammenhalten kann: die heils- und staatsnotwendige sancta ecclesia. Wenn der Staat am Krückstock geht, sollte niemand kommen und Karlsruhe den Vorwurf machen, die fürsorglichen Richter hätten uns nicht gewarnt. Die Dritte Gewalt wird zunehmend zur verlässlichsten Stütze der himmlischen Gewalt.

„Hier stehe ich und kann nicht anders“: Luthers kühner Widerstand gegen Kaiser und Adel wäre heute der Widerstand von – Snowden.

Dass Deutschland den amerikanischen Helden des Widerstands nicht aufnehmen will, beweist, wie viel das Land von Luther verstanden hat. Vor Obama und der NSA liegen die deutschen Protestanten auf dem Bauch. Soviel zur Revolution des Geistes bei Luther.

Mit unsrer Macht ist nichts getan,
wir sind gar bald verloren;

es streit’ für uns der rechte Mann,
den Gott hat selbst erkoren.

Es wird sich doch ein rechter Mann einstellen, der die Deutschen aus ihrer Not erretten kann. Das Lutherjahr kann kommen.