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Generalüberprüfung

Hello, Freunde der historischen Inventur,

die historischen Gründungsakte und Notrationen gehen zur Neige.

Das stolze Frankreich demontiert sich, weil seine nationale Physiognomie, die Revolutionsparole Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, durch den Siegeszug des amerikanischen Kapitalismus zersetzt wird.

Amerika hasst Gleichheit und Brüderlichkeit, unter Freiheit versteht es die Ellbogenfreiheit der Starken. Gleichheit ist für Gottes eigenes Land die Missachtung seines Erwähltenstatus, Brüderlichkeit die willkürliche Charity ihrer schwerreichen Lieblinge Gottes.

Das stolze Britannien demontiert sich, weil Cameron den demokratischen Willen von Millionen Europäern für nichtig erklärt und auf britischen Exzeptionalismus pocht.

Rule, Britannia! Britannia rule the waves!

Britons never will be slaves.

Herrsche, Britannia! Britannia beherrsche die Wellen!

Briten werden niemals Sklaven sein.

Die Nationen, die nicht so gesegnet sind wie du,

werden mit der Zeit Tyrannen anheimfallen,

während du sollst blühen groß und frei,

ihr aller Furcht und Neid.


England, älteste Demokratie Europas, Mutterland von Locke, Adam Smith, John Stewart Mill und Bertrand Russell, scheint sich immer mehr gegen

seine selbstbestimmte Tradition zu wenden. Das Land ist mit Kameras übersät, ihr Geheimdienst hat alles im Griff, die Londoner Finanzwelt bestimmt die Grundlagen der Politik, die freie Presse ist in Gefahr, Alan Rusbridger, Chefredakteur des Guardian, wird von Schlapphüten gezwungen, Indizien seines Wahrheitswillens mit dem Hammer zu zerstören.

Die Briten erwecken den Eindruck, Sklaven Europas zu werden, wenn sie sich der Demokratisierung Europas beugen. Niemand hat die Insel zur Teilnahme an der EU gezwungen. Die Nachfolger des britischen Weltreiches müssen sich entscheiden: entweder am europäischen Einigungsprozess gleichberechtigt teilzunehmen – oder zum Rückflug in nationale Idiosynkrasie anzusetzen.

Das Festland hat den humanen Freiheitstraditionen der Briten außerordentlich viel zu verdanken. Gerade deshalb müssen die klüger gewordenen Lehrlinge dem Meister zu verstehen geben, dass er seine eigenen Lektionen zu vergessen scheint.

Ohne Französische Revolution, ohne britische Kompetenz für demokratische Haltung kein modernes Europa. Doch beide Gründungstraditionen sind dabei, ihre paradigmatische Strahlkraft zu verlieren und verwandeln sich in dahinschmelzende Notrationen mit absehbarem Verfallsdatum. Historische Parolen müssen entweder mit pulsierendem Leben gefüllt – oder unter Klagegesängen begraben werden.

Frankreich will Gleichheit und Brüderlichkeit mit ungleichem und unbrüderlichem Glücksstreben verbinden – das niemals Glück sein kann. Das wäre die Synthese von Feuer und Wasser. An der fremdschädigenden Rivalität kapitalistischer Staaten kann man nicht teilnehmen, wenn unbegrenzte Konkurrenz Gleichheit in den Wind schlägt und Brüderlichkeit verhöhnt.

„Das Verlangen nach Privilegien und die Vorliebe für Gleichheit“ seien seit jeher die zwei „beherrschenden und widersprüchlichen Leidenschaften der Franzosen“, spottete de Gaulle über seine Landsleute.“ Im selben Sinn schrieb Roger de Weck in der ZEIT:

„Der Umgang der Franzosen mit der Liberté, der Egalité und der Fraternite löst da Kopfschütteln aus. Freiheit? In keinem westlichen Land ist der Staat so allmächtig und autoritär wie in Frankreich. Gleichheit? Frankreich ist und bleibt ein Land der Eliten und der Privilegien. Brüderlichkeit? Schon Julius Caesar befand, die Gallier bildeten ein besonders streitlustiges Volk und gingen ganz und gar unbrüderlich miteinander um; dieses Urteil trifft bis heute zu.“

Die Zeit der omnipräsenten Widersprüche und der alltäglichen Schizophrenie geht zu Ende. Niemand kann perfekt sein. Doch es muss klar sein, welche Lektion die Nation lernen will. Die Politik der Nation hat sich an jenen Kriterien zu orientieren, die sie auf ihre Fahnen geschrieben hat oder sie soll die Fahnen einrollen.

Warum steht Deutschland so gut da in der Konkurrenz der Länder? Es hat keine Gründungsakte zu verteidigen, denn es hat keine.

Unbelastet von fraternité kann sie die sozialen Demütigungen ihrer Unterschicht mit der Faulheit der Abgehängten rechtfertigen. Schon Bismarcks viel gerühmte Sozialgesetze – die von Bismarck nicht aus Sympathie für den Plebs oder aus Gerechtigkeitsgründen eingeführt wurden, sondern um die Arbeitermassen dem gottlosen Marxismus zu entreißen – wurden damals als Bettelpfennige geschmäht. Ein Begriff, den Schröder für seine Hartz4-Gesetze hätte übernehmen können.

Unbelastet von égalité kann Deutschland die Kluft zwischen Reich und Arm in den Himmel wachsen lassen. Unbelastet von liberté kann sie die NSA im eigenen Land wüten lassen, ohne sie mit einer Klage zu überziehen. Deutschland, oh Vaterland, du hast es gut unter den Völkern. Du fühlst dich nur für das BSP zuständig und sonst für nichts auf dieser Welt, was du im Bundestag politisch predigst und deklamierst.

Was interessieren dich die Nöte deiner besten französischen Freunde? Wie klamm-unheimlich du dich deiner wirtschaftlichen Überlegenheit freust. Mit welchen Tricks du die Arbeitsbedingungen deregulierst, um den Franzosen die gesalzene Butter vom Baguette zu nehmen. Du weißt, die Franzosen brauchen dich, sie benötigen deine wirtschaftliche Macht, um nach Möglichkeit an ihr zu partizipieren, damit ihnen der Glaube an ihre französische Grandeur nicht ganz abhanden kommt.

Noch kein Mann hat es geschafft, von Merkel geküsst zu werden, ohne dass er über Nacht nicht erbleicht wäre. Auch kein französischer Staatspräsident. Laut Forbes ist Merkel die mächtigste Küsserin der Welt. Als Pastorentochter kennt sie die Technik des hinterlistigen Judaskusses.

Deutschland hat die Bedingungen des völkerverderbenden Neoliberalismus fast uneingeschränkt akzeptiert, Frankreich will beim kapitalistischen Ringelreigen mitmachen – und gleichzeitig die Prinzipien der Humanität hochhalten. Halten zu Gnaden, französische Geschwister: diese dialektischen Kunststücke sind mit eurer clarté nicht vereinbar.

Welche Nationen in der Vergangenheit viele Impulse zur demokratischen Moderne beigetragen haben: sie stehen nun da mit der Last auf dem Rücken: wie die Athleten in der Zirkuskuppel – ratlos.

Der Prozess der Moderne müsste erneut aufgerollt werden. Die amerikanischen Grundbegriffe sind mit den französischen inkompatibel. Nicht mal mit den englischen des stoischen Gründervaters: dem moralisch geprägten Urkapitalismus.

Gleichwohl hat Amerika nur jene Widersprüche ins Unermessliche gezogen, die im Mutterland schon angelegt waren. Auf der einen Seite der strenge Moralist Adam Smith, auf der anderen Carlyle, der Bewunderer der Starken und Erfolgreichen. „Wem Gott erlaubt, Besitz zu ergreifen, der ist im Recht. Es ist das gleiche große Gesetz, nach dem das römische Reich begründet wurde, der christliche Glaube sich verbreitete, alle bestehenden Mächte ihre Herrschaft ausüben. Die starke Sache ist die gerechte Sache.“ (Carlyle)

Im armen Deutschland war das Christentum Vertreterin der Armen. Im reichen England und steinreichen Amerika war es glühende Befürworterin des Moneymachens. An Flexibilität und Mobilität lässt sich das Credo vom Kreuz von niemandem übertreffen.

Deutschland und Amerika fühlen sich durch gleiche Werte verbunden. Dass diese Werte bei genauem Hinsehen das blanke Gegenteil bedeuten, kümmert keinen Deutschen, der sich den primitiven Buchstabengläubigen jenseits des Teichs haushoch überlegen fühlt. Die Amerikaner hingegen wittern zunehmend den „heidnischen haut gout“ der freideutenden Deutschen.

In der angelsächsischen Kultur gilt nicht der Reichtum als solcher für verwerflich, sondern das Ausruhen auf dem Besitz und der lüsterne Genuß des Reichtums. Der selfmade-man, der es, wie vorbildlich Bill Gates, zum ungeheuren Wohlstand bringt, erfreut sich rühmlicher Anerkennung. Das Gewinnstreben gilt als gottgewollt, die ungleiche Verteilung der Güter als Werk der Vorsehung, beim Geldscheffeln hat man bei unseren Vettern ein wiedererwecktes gutes Gewissen.

Englische Puritaner und amerikanische Neupuritaner fühlen sich als auserwähltes Volk. Noch in seiner jüngsten staatstragenden Rede betonte Obama die nie endende Exzeptionalität der führenden Weltmacht.

Noch immer führt der prädestinierende Virus im Untergrund das Regiment, dass Reichtum ein Hinweis sein könnte für die Auslese des Herrn, die vor Erschaffung der Welt die Engländer und Amerikaner zu seinen Lieblingen erkoren hat. Rastlose Berufs- und Geldvermehrungsarbeit trage zur Mehrung von Gottes Ruhm bei. „Wohlstand, materieller Erfolg, Glück in dieser Welt ist das Reich Gottes,“ schreibt D.W. Brogan 1946 in seinem Buch „Der amerikanische Charakter“.

Was für deutsche Herz-Jesu-Marxisten wie Geißler ein Gräuel, ist für calvinistische Gläubige ein religiös-weltlicher Triumph.

Papst Franziskus kann sich das Christentum seiner Wahl wie im Supermarkt unter vielen Modellen raussuchen. Nennt er Kapitalismus Mord, so stellt der deutsche Oberhirt Marx richtig, dies bedeute auf keinen Fall, die Kirche solle ihren Reichtum auflösen und unter den Armen verteilen. Müsse man nicht reich sein, um einen Nanobruchteil seines Überflusses in Gnaden abzugeben?

Max Webers Herleitung des Kapitalismus aus dem Calvinismus – nicht aus der lutherischen Bier- und Weibsfröhlichkeit: in der Woche zwier, macht im Jahre 104 – liegt nicht an einer etwaigen Sympathie für den Kapitalismus. Im Gegenteil: die Erfahrungen seiner amerikanischen Reise hatte bei ihm Abscheu über die obszön über Geld redenden Neureichen erweckt. Dennoch plädierte er aus Machtgründen für die Etablierung eines starken Kapitalismus. Ist diese wirtschaftliche Methode auch schlecht, bringt sie dennoch nationale Macht und Ehre.

Es ist eine deutsche Eigentümlichkeit, das Böse als Motor des Guten einzustellen. Unterbezahlt natürlich. Mephisto erhielt von Faust nicht mal den Mindestlohn, am Ende war der Teufel der betrogene Betrüger.

Offiziell wird in Deutschland das Böse auf allen Kanälen geschmäht, im harten Leben führt es unangefochten das Regiment. Das ging eine Weile gut, doch wehe, wehe, wenn ich an das Ende im Dritten Reiche denke. Der Teufel lässt seiner nicht spotten und holt sich seinen Lohn hundertfach mit Zins und Zinseszins.

Nicht nur Amerika hat zwei Gesichter: einerseits das eschatologische Siegervolk und andererseits die vorbildlichste demokratische Minorität. Umsichtige und unbeugsame Widerständler gegen demokratiefeindliche Umtriebe wie Snowden, Greenwald und Laura Poitras wären in Deutschland undenkbar.

Aber auch das englische Mutterland war bereits in zwei Lager gespalten. Woran das liegt? Daran, dass Europa keineswegs monolithisch von einer autonomiefeindlichen Religion geprägt ist. Ein fundierter Kenner schreibt:

Der europäische Mensch „verkörpert keineswegs ausschließlich oder auch nur vorwiegend das Christentum, sondern eine Kultur, die zwar zum Teil im Christentum wurzelt, aber etwa vom Ausgang des 15. Jahrhunderts an unter der Einwirkung der neu entdeckten antiken Kulturwerte großenteils neben ihm, ja, in vielen ihrer Bestandteile trotz ihm und im Gegensatz zu ihm erwachsen ist“. (Wilhelm Nestle, Die Krisis des Christentums)

Adam Smith wollte keineswegs den brutalen Beschädigungskampf zwischen Menschen und Nationen. Sein Urtausch war ein gerechtes Nehmen und Geben unter Gleichberechtigten. Alle Nationen, alle Menschen sollten einen sorgenfreien Wohlstand erhalten, damit niemand von mächtigen Institutionen abhängig sei wie die Armen und Bettler von der mittelalterlichen Kirche.

In seinem ersten – philosophischen – Buch beschrieb Smith die wahrhaften Fortschritte der Menschheit, die die menschliche Natur veredelten: „In solchen Fortschritten sollte nicht nur jede Nation sich auszuzeichnen trachten, sondern aus Liebe zur Menschheit sollte sie sich bemühen, hervorragende Leistungen ihrer Nachbarn auf diesem Gebiete zu fördern, anstatt ihm entgegenzuarbeiten. Das alles sollen Gegenstände des Wetteifers der Nationen, nicht aber ihres Vorurteils oder Neides sein.“ (Adam Smith, Theorie der ethischen Gefühle)

Wer heute so spräche, wäre der Feind des Kapitalismus in der Maske des Gutmenschen. Deutschland hat mehr als zwei Gesichter. Hier geht alles drunter und drüber.

Da hier die Meinung herrscht, Christentum sei kapitalismusfeindlich, könnte man vermuten, die Proleten und die Popen wären ein Herz und eine Seele. Falsch geraten.

Von Marx her waren die Arbeitermassen auf Gottlosigkeit konditioniert. Das war kinderleicht, hatten die Kirchen doch die Arbeiterfrage viele Dekaden lang völlig ignoriert. Sind Pfarrer doch Angehörige des besten Bürgerstandes und machen sich nicht gemein mit unflätigem Lumpenproletariat. (Nicht mal Marx liebte die Schwächsten der Schwachen. Er wollte nur gut ausgebildete Handwerker und stolze Arbeiter.)

Für Kautzky war das Christentum eine kommunistische Bewegung in Palästina und Jesus ein Bandenführer und Messiasanwärter, der die Revolution im Heiligen Land provozieren wollte. Das wäre eine Symbiose aus Proleten und Frommen – auf der Ebene der Politik. Doch es dauerte noch unendlich lang, bis nach dem Zweiten Weltkrieg die Sozis und Pastoren zusammenfanden.

Nicht in den christlichen Parteien fand man die meisten Seelenhirten, sondern bei Willy Brandt und seiner vorbildlichen Sozial- und Ostpolitik. Ab der 68er-Bewegung wurde es zur stillschweigenden Übereinkunft, dass Linkssein und heimliches Christsein dasselbe wären.

Rudi Dutschke war ein frommer Ossi und hatte eine amerikanische Theologin zur Gefährtin gewählt. Zwischen dem evangelischen Vordenker Georg Picht und dem jüdischen Postmarxisten Adorno gab es hochgradige Übereinstimmungen. Saturierte Katholiken befinden sich eher in den Parteien mit dem Hohen C, hochkritische Protestanten bei den Linken und Grünen.

Das Christentum hat das Gepräge jener Überflussgesellschaft angenommen, die es selbst aus der Taufe hob. In ihren Katakomben und endlosen Warenhallen gibt es kein Angebot, das es nicht gäbe. Von reich bis arm, pazifistisch bis militaristisch, fortschrittlich bis rückwärtsgewandt, ökologisch bis naturfeindlich: was hättet ihr denn gern, ihr verwirrten Schafe Jesu?

Die Propagandisten der Frohen Botschaft denken gar nicht dran, das willkürliche und verwirrende Angebot auf Eindeutigkeit zu reduzieren. In der widersprüchlichen Vielfalt liegt das Geheimnis ihres Sieges über die Welt. Sagte da jemand, die Botschaft habe keine Interessen auf Erden und sei nur aufs Jenseits gerichtet? Der sollte sich nochmal das Gebet des Herrn anschauen:

Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auch auf Erden.

Nicht nur der Kapitalismus versinkt in seinen Widersprüchen. Alle Gründungsakte der demokratischen Moderne von Frankreich über England bis nach Amerika müssen zur Generalüberholung.

Mehr als 2 Jahrhunderte lang konnten sie durch interne Familienquerelen von den Paradoxien und Diskrepanzen ihrer Grundannahmen ablenken. Doch jetzt wäre eine westliche Generalüberprüfung fällig.

An dem neuen Gründungsakt Europas ohne verborgene Reibungen und Doppeldeutigkeiten sollten sich dieses Mal auch die Deutschen beteiligen. Das Beste, was sie im überfälligen Streit der Nationen einzubringen hätten, wäre die anamnestische Klärung ihres labyrinthischen Kopfes.