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Vorbildliche Amerikaner

Hello, Freunde der Amerikaner,

während die Deutschen vom Gewissen faseln, das ihr nationales Idol Luther erfunden haben will, handeln Amerikaner nach ihrem Gewissen. Bei Luther war das Gewissen in Gott gefangen, der das Gegenteil eines Demokraten ist, Snowden handelt nach seinem demokratischen Gewissen.

Für einen Wimpernschlag der Weltgeschichte gibt es Ähnlichkeiten. Luther widerstand dem Kaiser, dem damaligen Herrn der Welt, Snowden widersteht Obamas NSA, der Weltmacht Nummer Eins. Das war‘s an Parallelen.

Von ihrem Urberserker haben die Deutschen nur blinden Gehorsam gegen die Obrigkeit und sonstige religiöse Kollateralschäden übernommen. Vor der heutigen Weltmacht liegen sie auf dem Bauch. Snowden setzt sein ganzes Leben aufs Spiel, um die Welt vor der omnipotenten Krake NSA zu warnen.

Alle deutschen Krankheiten wurden von Luther erfunden oder durch seine heilige Schrift als Gottes Willen abgesegnet: der Hass gegen selbstbewusste Untertanen, damals die Bauern, die die Despotie ihrer Fürsten nicht mehr ertrugen; der Judenhass, der zum nationalen Dauergift eines Volkes werden sollte, das selbst das auserwählte Volk Gottes zu sein begehrte, die politische Untertänigkeit, die die schlimmsten Völkerverbrechen akzeptierte, ja gut hieß, die Selbstzentriertheit auf die eigene kostbare Nationalseele, die zum Hass gegen den demokratischen Westen führte und die eigene autistische Besonderheit als

Beweis der Wahrheit anbetete, die politische Unfähigkeit, ein stabiles und verlässliches Gemeinwesen in der Mitte Europas zu installieren.

Als sie endlich ihr kleindeutsches Reich zusammengestoppelt hatten, dauerte es nur eine kleine Epoche und sie wollten Herren der Welt sein. Tiefste Minderwertigkeitskomplexe mussten durch titanische Weltmachtträume kompensiert werden. Fremden küssen sie die Füße oder schneiden ihnen die Kehle durch.

Das Volk der Mitte hat keine Mitte. Heute macht es Bücklinge nach West und Bücklinge nach Ost. Ihre lutherische Malocherethik ist zur unpolitischen Wurstelethik verkommen. Schaffen, schaffen, wursteln, wursteln, hier treffen sich schwäbischer Quietismus und mecklenburgische Bräsigkeit. Tu deine Arbeit und deine Pflicht, den Rest überlass den Tieren mit den großen Köpfen und Geldbeuteln.

Mitten in Europa wollen sie eine deutsche Identität. Die freiheitlichen Traditionen unserer Nachbarn werden von ihnen nicht zur Kenntnis genommen.

Dem Historiker Stürmer fielen zum Stichwort Italien nur norditalienische Damenhandtaschen ein. Der Historiker Herbert kann keinen Zusammenhang zwischen nichtdemokratischer Tradition und dem Dritten Reich erkennen. Das deutsche Reich sei doch ein sozialer Rechtsstaat gewesen. Recht & Soziales, geteilt durch zwei ist Demokratie?

Die meisten Historiker – nicht anders als ihre professoralen Kollegen aus der Ökonomie – verabscheuen moralische Bewertungen in ihrer Disziplin. Es sei doch einfach, aus heutiger Perspektive die Gräuel der Kreuzzüge zu moralisieren.

Das Einfache ist den Komplexen verboten. Das Höherwertige ist immer komplexer als das, was der Plebs versteht. Was sie objektiv beschreiben, ohne es zu beurteilen, segnen sie ab – das wollen sie in ihrer deformation professionelle nicht sehen.

Ihre Scheinobjektivität haben sie ihren SchülerInnen eingebläut, die heute als Edelschreiber einen erhöhten Standpunkt beim Beobachten der Zeitläufte einzunehmen pflegen. Vornehmheit und „hysterisches“ Moralisieren, das verträgt sich nicht für deutsche Tagesprotokollanten. Man trägt gern Prada im Vorderlappen, wo in alten Zeiten – lang, lang ist her – die intellektuelle Redlichkeit regierte.

Eine ehemalige Verbrechernation wollte vor vielen Jahren ihre Vergangenheit bewältigen und den Anfängen des Verhängnisvollen wehren. Heute haben sie alle Moral – außer ihrer familiären Privatmoral – durch die Bank abgeschafft. Keine Buch- und Filmkritik im parfümierten Feuilleton ohne Zusatz: gottlob hat der Autor der Versuchung der Moralisierung widerstanden. Alles muss scheitern, alles muss kühn und frei von aller Moral sein – und Nietzsches faschistischer Amoralismus ist ihr Prophet.

Nein, Nietzsche ist kein Vorläufer der christlichen SA-Garden, die in geschlossener Formation mit Bischof Groeber an der Spitze, dem braunen Conrad, ins Freiburger Münster einzogen.

Nein, Luther ist kein Vorläufer der judenmordenden SS, hat er doch nur aufgerufen, diese Gottesmörder zu verbrennen. Trotz Erfindung der Druckerpresse waren seine Schriften in ganz Deutschland unbekannt, stimmt‘s? Dabei nennen sie sich Lutheraner und Protestanten, sind stolz auf ihr Gewissen, das seit der Beerdigung der wenigen deutschen Aufklärer das Zeitliche gesegnet hat. Wogegen protestieren sie? Gegen Menschen aus Syrien und Rumänien, die hier Zuflucht suchen.

Nein, Wagner hat mit Hitler nichts zu tun, hat er doch nur dessen messianische Träume in Musik übersetzt.

Nein, Carl Schmitt ist kein Bewunderer des Führers gewesen, war er doch so gescheit, das gescheite Carlchen. Hat er doch nur gesagt: der Führer bestimmt das Recht.

Nein, die ganze deutsche Denker- und Dichtergarde hat mit der deutschen Katastrophe nichts zu tun, waren sie doch alle so herrlich genial. Safranskis Persilbücher über die nationalen Granden hinterlassen nur neudeutsche Wohlgefühle beim Überblicken der deutschen Geistbestände.

Wenn man so abends Rückblick hält über die Historie der Germanen, da kommen Gefühle eines Hausvaters hoch, der Inventur macht und siehe: Scheuern und Ställe bersten von Vieh und Wohlstand, die alten wackeren Bücher, wie sie dastehen in Reih und Glied in der prächtigen Privatbibliothek, der Nachwuchs plant frühzeitig seine Karriere in englischen Privatinternaten, McKinsey hat sich schon interessiert gezeigt, das Konto in der Schweiz wächst und wächst, Deutschland ist das mächtigste Land Europas, Merkel die mächtigste Politikerin der Welt, in Brasilien werden wir zum vierten Mal Weltmeister und Michael Schuhmacher ist schon wieder auf dem Weg der Genesung.

Unsere kalten und kühnen Talkmaster halten alle unziemliche Kritik von unsrem Staat durch geschickte Scheinkritik fern, Oberpriester Jauch bringt es fertig, die FIFA von allen Seiten als korrupt bezeichnen zu lassen, doch die eine und wesentliche Frage, warum die Öffentlich-Rechtlichen die Korruptionsspiele übertragen, die stellt er nicht.

Von der fulminanten Rede des Navid Kermany im Bundestag zeigte das ZDF genau einen Satz, um die neuesten Nachrichten aus dem Hoeneß-Knast nicht zu versäumen.

Unsere sportiven Vorbilder prahlen, sie würden jahrelang hart arbeiten, da könnten sie nicht auch noch Politik betreiben – und fallen Putin um den Hals.

In wenigen Tagen beginnt der Ball zu rollen und alle Medien werden alles Kritische und Eckige, das nicht ins Runde passt, ins Abseits dreschen.

Die glühendsten Fußballfreunde sollten die Ersten sein, die diese mafiösen Killer- und Vernichtungsspiele boykottieren. Wie viele Tote haben die geldgeilen FIFA-Herrn auf dem Gewissen, als sie sich von superreichen Scheichs aus Katar schmieren ließen?

Beckenbauer, Lichtgestalt deutschen Balltretens, wird mit dem Satz zitiert, er habe keine Leichen im Stadion von Katar liegen sehen. Allein für diesen Satz müsste er mit seinem Freund Hoeneß in eine Doppelzelle gesperrt werden und jeden Tag 100 mal mit der Hand schreiben: Ich habe Unsinn geredet und mich am Elend vieler Menschen schuldig gemacht.

Ganze Favelas und indianische Kulturinstitute wurden in Rio de Janeiro rasiert, um das Volksstadion Maracana in einen luxuriösen Prachtzirkus zu verwandeln, den sich nur noch weiße Gutbetuchte leisten können, sagte der Schriftsteller Luiz Ruffato.

Alles, was dem Volk Spaß machte, alles, was es genial erfand, um sich des Lebens zu freuen, haben sich Geldsäcke unter den Nagel gerissen, die hirnlose Muskelpakete zu ihrem Amüsement auf dem Rasen herumtoben lassen, damit sie sich in ihrem öden reichen Leben nicht langweilen müssen.

Überall in der Welt wehren sich die Völker gegen ihre Despoten. Doch wenn sie beim Revoltieren nicht zuvor die Erkenntnisse Götz Alys gelesen und beim Betreten des Rasens Fußspuren hinterlassen haben, wird der Berliner Ex-68er ganz ganz böse.

Selbstbestimmung der Völker – ohne ihn vorher zu befragen: ist die Welt verrückt geworden? Wenn die Heißsporne Cohn-Bendit und Henry-Levy die Ukrainer zu ihrer Antityrannenbewegung beglückwünschen, beschuldigt sie der Urdeutsche der Aufwiegelung und verantwortungsloser Revolutionsfolklore. Wenn Berliner die Bebauung des Tempelhofer Feldes durch Volksentscheid verweigern, werden sie vom Riesenhistoriker der braunen Gesinnung verdächtigt.

Ein Karlsruher Ex-Oberrichter verfasst ein Luther-Pamphlet im Ton der selbstmitleidigsten und hybridesten Deutschen Bewegung – der philosophischen Vorbereitung der NS-Ideologie – und niemand schert sich drum. Deutschland, Deutschland, bleiche Mutter, wenn du nicht den Kompass der Welt spielst, woran sollen sich die Völker orientieren?

Deutscher Alltag, deutsche Misere. Die Not unter dem Pflasterstrand hat uns wieder. Woher soll uns Hilfe kommen, wenn nicht vom demütigen Franziskus und der vorbildlichen Sünderin Käßmann? Zeit des Elends, Zeit für Religion. Versagt der Mensch, braucht er Hilfe von oben. Also versagt er, damit die Hilfe von oben willkommen ist.

Wie viele Deutsche haben Rücken, weil sie täglich ihr Kreuz tragen? Doch lieber haben sie Rücken als das drückende Marterl abzuwerfen. 2000 Jahre Religion, die Welt nähert sich dem seit 2000 Jahren prophezeiten Untergang und kein SPIEGEL kann sich erklären, woher die apokalyptischen Neigungen der Deutschen kommen. Also nochmals 2000 Jahre für den SPIEGEL, vielleicht kommt er noch auf den Trichter.

NSA, Google, Facebook et tutti quanti unterwerfen sich den ganzen Planeten und der Silicon Valley-Spezialist des Magazins ist empört über den Widerstand in Deutschland. Schluss mit dem Google-Bashing fordert er, während in seinem Blatt gerätselt wird, warum der Widerstand hierzulande so lau ausfällt. Vielleicht deshalb, weil zu viel SPIEGEL gelesen wird, wo die Linke nicht weiß, was die Rechte tut?

Ah, pardonnez moi, wir bezeichnen ja unsere Standortlosigkeit gern als Meinungsvielfalt. Sie vergessen nur, Meinungsvielfalt setzt klare und deutliche Meinungen voraus, die miteinander in den Clinch gehen. Am Ende hochkritischer Artikel kann man hierzulande noch immer lesen: eigentlich schade. Und uneigentlich, ihr Tränendrüsen?

Den Begriff intellektuelle Redlichkeit haben sie just in time entsorgt, als Hundt und Henkel in ihrem Rucksack den Neoliberalismus aus der Wallstreet importierten. Seitdem wird das Schwanken des eigenen Rohres im Wind mit vielen vielleicht, möglicherweise, könnte sein, muss aber nicht, als Edelausgabe der Toleranz gepriesen.

Wer überhaupt eine Meinung hat, ist bereits Dogmatiker. Wer sie mehr als zweimal äußert, ohne sich zu entschuldigen, ist schon Terrorist. Wer an Wahrheit glaubt – außer an die willkommene Wahrheit des Glaubens –, der müsste eigentlich in Guantanamo resozialisiert werden.  

Oh nein, das war keine Jeremiade, das war eine Philippika, eine Attacke. Inhumane Dinge können benannt werden. Können sie benannt, können sie auch bekämpft werden.

Die Völker lassen sich immer weniger gefallen. Sie sehen immer schärfer, früher durften sie gar nichts sehen. Vor zwei Jahrzehnten verstanden die Deutschen nichts von Wirtschaft. Heute kannst du ihnen mit den Segnungen des Kapitalismus und eines real existierenden Sozialismus gestohlen bleiben.

Der Schlamm muss nach oben, damit er abgesaugt werden kann. Früher wusste man nichts über die Betten der Eliten, heute kennt jeder jede ehebrecherische Affäre Seehofers und jede Gespielin von Strauss-Kahn. Über Mitterands uneheliche Tochter wusste nicht mal dessen Frau Bescheid, heute kennt man die Marke des Rollers, mit dem Hollande sein Liebchen des Nachts aufsucht.

Die Goldenen Blätter werden von der List der Vernunft regiert. Äußerlich werden die Reichen und Schönen in den Himmel gehoben, doch morgen früh zur Kaffeestund werden sie dekonstruiert. Das ist gut so. Mögen die Reichen im wirklichen Leben hinter Mauern leben, im Leben des Netzes, der Nachrichten und der Papagalli werden sie zu Vertrauten, deren Bewunderungszeiten langsam, aber sicher verblassen.

Merkels Gesicht sehen wir öfter, als ihr Gatte es in Realität sieht. Ihre Stimmungsschwankungen, ihre Handraute, ihre Umarmungen und Küsschen verraten uns mehr, als dem Professor der Chemie lieb sein dürfte – sofern er überhaupt noch an exklusive Intimitäten seiner Ehe glaubt.

Mögen die Mächtigen die Gräben der Ungleichheit immer mehr vertiefen, solange sie nicht alle Reporter und Fotografen ausrotten, werden sie unvermeidlich egalisiert. Ein Macho-Monarch musste zurücktreten, weil er sich beim Töten von Elefanten ablichten ließ.

Es gibt zwei Bewegungen, die polar in verschiedene Richtungen drängen. Die eine ist eine gefährliche Machtakkumulation, die andere die Entzauberung derselben. Welche Polarität wird welche besiegen?

Das, meine FreundInnen, hängt allein von uns ab. Noch nie war die Menschheit so wach wie heute. Prognostische Garantien gibt es für nichts. Doch zum deutschen Trübsalblasen ist es bei weitem zu früh.

Je emotionaler und rationaler wir die Ereignisse des Tages wahrnehmen und je energischer wir ihnen Paroli bieten, je höher sind die Chancen, aus unserem Planeten eine Heimstatt für uns Menschen zu machen. Und nicht nur für uns Menschen.

Wenn jeder Mensch Kompass ist für alle Menschen, brauchen wir keinen autoritären Kompass mehr. Ob es unserer deutschen Befindlichkeit gefällt oder nicht: Von Amerikanern wie Snowden, Greenwald und Poitras können wir Deutsche noch eine Menge lernen.

Zuvor jedoch müssen wir das Lernen lernen. Das walte Sokrates.