Kategorien
Tagesmail

Laizismus

Hello, Freunde des Angesichts,

Frankreich muss gegen Deutschland gewinnen. Frankreich hat schon gegen Deutschland gewonnen. Nicht im Maracana-Stadion, sondern vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Wirtschaftlich ist Deutschland stärker – weil asozialer – als sein wichtigster Verbündeter, demokratisch können wir mit den Galliern nicht mithalten.

Es ist nicht so, dass Frankreich von Bigotterie frei wäre. Seine adligen Eliten sind katholisch und schicken ihren hoffnungsvollen Nachwuchs in jesuitische Internate. Die biblische Moral halten sie für das beste Disziplinierungsmittel fürs Volk, sie selbst leben mit Maitressen und anderweitigen Genüssen auf herrlichen Landschlössern wie Götter auf dem Olymp.

Gleichwohl wissen die Franzosen, was Laizismus ist, denn sie haben ihn als erste Nation in Europa zum Gesetz gemacht. Laizismus ist keine „Trennung“ von Kirche und Staat, sondern die Abwehr des Staates gegen eine jahrtausendelange Dominanz der Kirche.

Zum ersten Mal in der Geschichte des christlichen Abendlands traute sich eine Volksherrschaft, dem Klerus die Zähne zu zeigen: bis hierher und nicht weiter. Der Begriff Laizismus ist abgeleitet von Laos, das Volk. Nicht mehr die abgehobene Schicht mächtiger Seelenhirten beherrscht eine nationale Gemeinschaft, sondern

das emanzipierte Volk.

Eine Volksherrschaft ist inkompatibel mit dem Regiment selbsternannter Erwählter, die in Gottes Namen das politische Treiben der Völker kujonieren.

Wiki: „1905 wurde in Frankreich das Gesetz zur Trennung von Religion und Staat verabschiedet, für das sich insbesondere der damalige Abgeordnete und spätere Ministerpräsident Aristide Briand eingesetzt hatte. Die Auswirkungen der Dreyfus-Affäre führten nach heftigen Auseinandersetzungen in Frankreich zu einer parlamentarischen Mehrheit für die neue Gesetzgebung. Damit fand das von Buisson geschaffene Prinzip erstmals konsequent Anwendung. Der Begriff laïcité wurde aber erstmals in der Verfassung von 1946 verwendet. Demnach ist Frankreich eine laizistische Republik (république laïque).“

Deutschland kennt keinen prinzipiellen Laizismus, stattdessen einen Gott in der Verfassung, den alle christlichen Juristen der Republik zu kennen vorgeben, der sich aber noch niemandem vorgestellt hat. Ohnehin scheinen die führenden Juristen der Republik alles „gesatzte“ Recht vom Berge Sinai abzuleiten. Für sie liegt der Kern des demokratischen Rechts nicht in Athen, sondern im Dekalog.

Da sie alles, was sie über das Heilige wissen, ihrem Religionsunterricht verdanken, die Propagandasprüche des Klerus aber noch nie kritisch unter die Lupe genommen haben, können sie nicht wissen, dass die Zehn Gebote keine moralischen Tafeln, sondern ein Glaubensbekenntnis sind, das der Donnergott des Sinai von seinen untreuen Kindern Israels fordert.

(Das erste Gebot endet mit dem Satz: Du sollst keine anderen Götter haben neben mir. Jahwe ist ein eifersüchtiger Gott, der alle Nebenbuhler und Menschen, die die Götzen anbeten, dem Verderben übergibt.)

Später wurde der geforderte Geltungsbereich auf die Menschheit ausgedehnt. Die Ausdehnung der Forderungen auf die gesamte Menschheit wird von listigen Theologen als Generalisierung der christlich-jüdischen Moralgebote ausgegeben.

Schon hier beginnt die endlose Reihe der Fälschungen im Namen des Himmels. Eine Forderung an alle, die mit Lohn verlockt und mit Strafe bedroht, ist eine erschlichene und erpresste Generalisierung. Eine echte Generalisierung liegt vor, wenn der Vernunft aller Menschen die Kompetenz zugesprochen wird, unabhängig von Göttern und Autoritäten ein autonomes Recht zu entwickeln.

Die sieben Weisen aus den frühen Jahren der griechischen Aufklärung, auch Solon, Lykurg und viele andere aus der Entstehungszeit der Demokratie, brauchten keinen Gott als Gewährsmann ihrer moralischen und rechtlichen Überlegungen. Sie appellierten an die generelle Vernunft, die jeder Mensch als Geschenk der Natur erhalten hatte.

Ein generelles Recht kann jeder Mensch mit Hilfe seiner Vernunft aus eigenem Rechtsempfinden entwickeln. Kommt die Vernunft der Menschen zu verschiedenen Ergebnissen, ist sie in der Lage, in öffentlichen Debatten einen Konsens zu finden.

Platon verzichtete in seiner Politeia auf die Beiträge eines unqualifizierten Volkes und erfand mit der Alleinherrschaft der Weisen die Urform des europäischen Faschismus.

Ohne allgemeine Vernunft keine Demokratie, ohne Demokratie keine Herausbildung einer Vernunft, die im Härtetest endloser kollektiver Debatten ihre philosophische Kontur fand. Bei einem Recht, das man im Zweifel religiös – auf einen Gott zurückführt, hat man die Vernunft der Demokraten verraten.

Die Unfähigkeit der Deutschen zu einem kategorischen Laizismus beweist ihre demokratische Unreife. Bis heute verlassen sie sich mehr auf die drohende Autorität eines unfehlbaren Himmels, als auf die Vernunftkompetenz ihrer BürgerInnen.

Der Mensch im Allgemeinen ist für den deutschen Böckenförde&Habermas-Juristen kein homo sapiens (ein mit Vernunft ausgestattetes Wesen), sondern verharrt auf der evolutionären Vorstufe des homo religiosus, eines krückenhaften Wesens, das auf die Offenbarung eines Gottes angewiesen ist, um seine irdischen Angelegenheiten zu regeln. Für Böckenförde & Habermas (der „führende Aufklärer der Republik“) ist eine Demokratie ohne göttlich verordnete Gebote zum Untergang verurteilt.

Dieser schreiende Skandal einer Auslieferung der Vernunft-Demokratie an einen herrschsüchtigen Klerus, der sich als unfehlbare Stimme des Himmels ausgibt, wird von einer ignorant erzogenen Bevölkerung weder gesehen, noch bekämpft. Strikt gesprochen leben wir nicht in einer stabilen und reifen Herrschaft des Volkes, sondern in einer verschwiemelten und vertuschten Herrschaft der Priester und Auserwählten.

Man könnte von einem christogenen Ajatolla-light-System sprechen. An die Stelle der Scharia ist eine endlose Liste sich unendlich widersprechender moralischer und unmoralischer Forderungen getreten. Da keine Bibel unter 1000 Seiten hat, auf jeder Seite 10 bis 20 konträre Moralforderungen stehen, kann sich jeder ausrechnen, wie die Zehn Gebote zu einem dicken Konvolut inkompatibler Gebote und himmlischer Gesetze angewachsen sind.

Der Schluss-Gag kommt mit dem Begriff Antinomie (= gegen das Gesetz), worunter die Theologen die Lizenz der wahren Gläubigen und Wiedergeborenen verstehen, sich kraft Erleuchtung über den Buchstaben der biblischen Gesetze hinwegzusetzen.

Was dem normalen Menschen verboten ist, ist dem Heiligen Geist-Besitzer erlaubt. Er kann lieben und töten, foltern und Almosen geben, sich demütig unterwerfen und mit Demut herrschen, arm und reich, Sklave und Herr sein, Glaubenskriege führen und Scheiterhaufen errichten, wie es ihm sein launenhafter Geist gerade eingibt. Nicht Taten entscheiden über seine Gesinnung, Glaube und fromme Motivation entscheiden über seine Taten.

Liebe – und tu, was du willst, formulierte Augustin und sein Schüler Luther: sündige tapfer, wenn du nur glaubst.

Unsere Demokratie ist nicht durch kopflose linke und rechte Extremisten gefährdet, sondern durch den religiösen Extremismus aus der Mitte der Gesellschaft, deren Selbstwertgefühl ohne Rückversicherung an einen himmlischen Vater im Eimer ist. Die Deutschen: sie können nicht laufen ohne die Stützen einer überirdischen Instanz, die ihnen einbläut, wie sie beim Gehen zuerst den linken und dann den rechten Fuß zu betätigen haben – oder umgekehrt.

Ohne Gottes Gebot würden sie sich doch glatt gegenseitig massakrieren: der Vater seine Kinder, die Mutter den Vater, die Großeltern sich reziprok, der Säugling in der Wiege, dieser erbsündige Schreihals und Sündenkrüppel, würde sein Geschwisterlein mit dem Schnuller erdrosseln: da kennen die Deutschen nichts. Ohne Gott ist alles möglich.

Seit ein orthodoxer Russe diesen Unsinn erfand, glauben alle Deutschen an die Unfehlbarkeit Dostojewskis. Konsequent, dass sie den Prozess der Säkularisierung als Nieder- und Untergang erleben.

Seitdem die kalte Aufklärung die Macht der Kirche beschnitt – damit sie nicht alle Frauen als Hexen und alle freien Geister als Ketzer verbrennt –, sehen sie die Neuzeit in den Abgrund rasseln.

Das deutsche Rechtssystem wird von Juristen beherrscht, die sich als Gläubige verstehen und mit Hilfe ihres christlichen Rechts nicht nur den deutschen Staat vor dem Kollaps schützen, sondern die ganze säkulare Gesellschaft untergründig mit dem Geist göttlicher Gebote infizieren wollen. Wir können von einer Under-Cover-Missionierung der heidnischer werdenden Gesellschaft reden.

Das Regiment der frommen Juristen begann, als die Amerikaner sich entschlossen, die mit dem NS-Regime aufs innigste verflochtenen Kirche – wider alle historische Wahrheit – wie mit Ysop reinzuwaschen, damit die Verbrechernation an der neuen Front gegen die gottlosen Kommunisten moralische Kettenhunde hätte, die sie notdürftig in Schach halten könnte.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat das französische Verbot einer Ganzkörperverhüllung (Niqab) bestätigt. Prantl, sonst ein rationaler Jurist, hält das Urteil mit einem ungewöhnlich vatikanischen Basta für ein Unglück. Wenn Religion beginnt, hat Vernunft Sendepause, auch bei den Besten.

Indem Prantl die Interessen eines doktrinären Islam verteidigt, verteidigt er stillschweigend die Interessen seines geliebten Katholizismus. Wie viele antilaizistische Kreuze müssten aus Schulen und öffentlichen Gebäuden, wie viele Marterl von bayrischen Wiesen und öffentlichen Wegen weggeräumt werden.

„Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der gegen Bestrafung von Burka-Frauen nichts einzuwenden hat, ist bedenklich. Der Staat darf in das Selbstbestimmungsrecht nur eingreifen, wenn Rechte anderer verletzt werden. Ein Recht darauf, das Gesicht eines anderen zu sehen oder mit ihm zu kommunizieren, existiert aber nicht. Das Urteil ist ein Unglück. Und es hilft auch dem Unglück zwangsverschleierter Frauen nicht ab.“ (Heribert Prantl in Süddeutsche.de)

Das Grundproblem ist: wo endet Glaubensfreiheit, wo beginnt der säkulare Raum, in dem Religionen nichts verloren haben?

Menschen können in Demokratien glauben, was sie wollen – solange ihr Glaube nicht die Fundamente der Demokratie angreift und beschädigt. Ein Glaube, der es nur mit dem Himmelreich zu tun hätte, wäre belanglos.

Doch der Glaube ist ein zwiespältig Ding. Einmal gibt er sich als privates Glaubenssystem ohne politische Relevanz, ein ander Mal – völlig konträr dazu – als Glaube, der die Welt überwinden und das Ende der Geschichte durch apokalyptische Vernichtung der Natur herbeiführen will.

Nein, Prantl will das nicht – jedenfalls nicht bewusst. Die meisten Christen in diesem Lande sind überhaupt keine, sondern verwechseln ihre humanistischen Ideen mit dem Inhalt einer Heiligen Schrift, die sie bis ins Beliebige ausgefranst und ausgedeutet haben.

Das wäre überhaupt kein Problem, solange sie sich vom Buchstaben der Bibel distanzieren würden. Jeder kann Kritik an heiligen Büchern üben, so viel er zu seiner privaten Seligkeit nötig hat.

Richtig, jetzt kommt das Aber. Was aber niemand kann und darf, ist ein Buch durch Deutungen aufs Beliebige kritisieren und dennoch unverrückbar an diesem Buch festhalten, dessen wirkliche Bedeutung von der jahrtausendealten Unfehlbarkeit des Klerus bestimmt wird – und nicht von einem Redakteur der SZ, katholischen Laien und sonstigen Bewegungen, die aus einem heiligen X ein privates Y machen.

Das ist ein bigottes und gefährliches System: man kritisiert, indem man nicht kritisiert, sondern nur deutet, man gibt sich unabhängig von einem Text und ist doch untertan einer Institution, auf die man keinerlei Einfluss nehmen kann.

Während humanistische Laien ein Christentum verkünden, das nur in ihrer Phantasie besteht, beherrscht die Kirche nach wie vor die Deutungshoheit über die Schrift.

In Zeiten, in denen die Kirche schwach ist, gibt sie sich human und progressiv. Wird sie wieder stark wie im Mittelalter, verwirft sie alles liebedienerische Getue und kehrt ungeniert zum Originaltext der Schrift zurück, der ihr Macht über die Lebenden und die Toten verleiht und ihren Herrschaftsanspruch über die Welt untermauert.

Sind die meisten Christen auch keine Buchstabenfundamentalisten und nur noch Deutungshumanisten, so fällt an ihnen doch ein erhebliches Defizit auf: die Kritikunfähigkeit an ihrer Kirche. Was sie im normalen Leben nie akzeptieren würden: bei Mutter Kirche schaut selbst Prantl durch die Finger.

In Grundschulen dürfen Kirchen unseren Kindern den biblischen Schöpfungsmythos als absolute Wahrheit über die Entstehung der Welt in die Seele einbrennen. Was ihnen vor 400 Jahren nicht gelang – das Ausrotten der aufkommenden Naturwissenschaft, die mit der Schrift unverträglich war – versuchen sie noch immer im Schutz eines privilegierten Religionsunterrichts.

Staat und Gesellschaft schauen zu, wie den Kindern das naturwissenschaftliche Denken vorenthalten wird, als ob der neueste Stand der Erkenntnis identisch mit uralten Märchen wäre. Um 400 Jahre freies Denken und wissenschaftliches Forschen werden die Kinder betrogen. Dann wundert sich die Gesellschaft, wenn bei uns die Attraktivität der Naturwissenschaften schwindet. (Markus C. Schulte von Drach in Süddeutsche.de)

Kirchen sind unersättlich, ihre despotische Seelenleitung über die ganze Gesellschaft auszudehnen. Sie beherrschen die Kitas, fast das gesamte soziale und diakonische Gewerbe, sitzen in allen Gremien, kontrollieren die Öffentlich-Rechtlichen, genießen überall Privilegien, machen ihre eigenen Tarife und Gesetze, ihre pädophilen Priester müssen sie nicht dem Staatsanwalt ausliefern.

Vor Gott sind alle Menschen gleich? – nur nicht seine Schäfchen und Seelenhirten, die stets die Ausnahmen von der Regel sind. Wo immer sie hinkommen, sie verlangen Sonderrechte und Bevorzugungen. Der Vatikan ist totalitärer als das Putinsystem, doch mit demütigen Gesten leicht zu tarnen.

Was sie auf Erden binden, das soll auch im Himmel gebunden sein. Sie sind die größten Arbeitgeber der Republik. Ihre Abhängigen müssen nach ihrer klerikalen Pfeife tanzen, dürfen sich nicht scheiden lassen und haben ihre engen Gebote zu befolgen, die in der Gesellschaft längst überwunden sind.

Kirchen lügen, dass die Schwarte kracht. Waren sie seit unendlichen Zeiten gegen Demokratie und Menschenrechte, beanspruchen sie seit 40 Jahren, dass Demokratie und Menschenrechte auf ihrem theonomen Boden gewachsen seien.

Ihren antisemitischen und vernunftfeindlichen Reformator Luther stilisieren sie zum Begründer der emanzipierten Neuzeit. Im Abstand von etwa 10 Jahren entwickeln sie regelmäßig neue Theologien, ohne je die alten zu entsorgen. Sie sind die Erfinder des postmodernen Schwindels, der Mensch müsse sich ständig neu erfinden, indem sie ständig neue Versionen ihrer alleinseligmachenden Botschaft auf den Markt werfen.

Während Europa mit dem Niqab-Urteil den Laizismus der Demokratien stärkt, gehen die Uhren in den USA anders. Das Oberste Gericht stellt die religiöse Unduldsamkeit gewisser Unternehmer über die allgemeinen Rechte, die für alle gelten:

„Fünf Männer im Obersten Gericht der USA haben entschieden, dass die „religiösen Gefühle“ von Unternehmern schwerer wiegen als das Recht von Frauen auf Gesundheit, Familienplanung und Selbstbestimmung. An ihrem letzten Arbeitstag vor der Sommerpause haben die Richter festgelegt, dass die Regierung Unternehmen nicht zwingen kann, „Medikamente und Geräte zu finanzieren, die Abtreibungen auslösen können, wenn das die Moral und Religion der Arbeitgeber verletzen würde“. (Dorothea Hahn in der TAZ)

Das Prinzip der Auserwählung ist mit demokratischer Gleichheit unverträglich. Carl Schmitts nationalsozialistischer Satz: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“, ist das Grundmotto des Erwählungsglaubens. Keine Institution auf der Welt kann es mit der Macht der Kirchen aufnehmen, die über Heil und Unheil der Seelen in Ewigkeit mitbestimmen. Eine größere Macht ist nicht denkbar.

Religiöse Glaubensfreiheit ist das Pendant zur wirtschaftlichen Freiheit des Neoliberalismus: sie muss dort enden, wo sie die Rechte der anderen übertölpelt. Alles ist erlaubt, was die verbrieften Rechte der anderen nicht verletzt. Alles verboten, was sich erlaubt, den anderen seinen Willen vorzuschreiben.

Schon in der Beschneidungsfrage wurde dieser Grundsatz unter dem Druck ultrareligiöser Rabbiner verletzt. Abrahams Worte waren wichtiger als das demokratische Recht der Kinder auf Unversehrtheit.

Wo verstößt die Ganzkörperverschleierung gegen demokratische Grundsätze?

Die Grundlage der Volksherrschaft ist die gleichwertige Mitbestimmung aller BürgerInnen. Das setzt voraus, dass man weiß, mit wem man es zu tun hat. Niemand muss seine Privatsphäre offenbaren, doch jeder hat mit seinem transparenten Gesicht seine Identität zu bezeugen. Dunkelmänner, die Blinde Kuh spielen, können auf dem Marktplatz nicht miteinander agieren, streiten und abstimmen. Bei Wahlen muss jeder sich durch Gesicht und Ausweis legitimieren.

Warum verstecken Frauen ihre Gesichter? Weil sie die potentielle Eifersucht ihrer Männer verhindern müssen. Es herrscht nicht das geringste Grundvertrauen in die Humanität aller Mitbürger, jeder Nichtmuslim wird als potentieller Vergewaltiger der Frauen verdächtigt.

Der Schleier hat die Funktion, das Schauen des Angesichts allein dem Gott vorzubehalten. Eine größere Missachtung der Menschen ist nicht denkbar. Mit einem demokratischen Minimum an gegenseitiger Akzeptanz ist diese Maskerade unvereinbar. Mit einem Verbot, sich zu kleiden, wie man will, hat das nichts zu tun. Auch Nacktheit ist in der Öffentlichkeit verboten.

Jede stabile Demokratie ist gut beraten, mit Verboten sparsam umzugehen und im Zweifel auf die Überzeugungskraft ihrer freien Gesellschaft zu vertrauen. Besteht aber der begründete Verdacht, dass totalitäre Kräfte die Grundlagen der Demokratie systematisch unterminieren wollen, muss eine stabile Demokratie auch Zähne zeigen.

Interessant, wie deutsche Christen tolerant sein können bei den Unterdrückungsmethoden gegen die muslimische Frau. Muss man ihre Versteckspiele nicht schon deshalb tolerieren, weil sie bei Ungehorsam panische Angst vor der Hölle haben müssen? Fragt Bettina Gaus, wie immer wankelmütig wie ein Rohr im Wind:

„Religiöse Überzeugungen erscheinen Außenstehenden oft irrational und schwer nachvollziehbar. Aber in Gläubigen sind sie tief verankert. Die Furcht, in der Hölle zu enden, dürfte ein erheblich schwererer Druck sein als jeder noch so tyrannische Ehemann. Es ist unerträglich naiv zu glauben, dass jede Frau vor allem familiäre Repressionen fürchtet, die sich in Frankreich seit dem Verschleierungsverbot nicht mehr auf die Straße traut“.

Kommt der Westen mal auf die Idee, dass die hinterwäldlerischen Frauen anderer Kulturen unter der Last ihres Versteckenmüssens auch leiden? Dass sie es satt haben, den männlichen Ebenbildern Gottes stets den Vorrang lassen zu müssen?

Müssten Männer sich einhüllen wie furchterregende Aliens, was gäbe es für einen Aufschrei in der ganzen Welt. Mit muslimischen Frauen kann man es ja machen, Freiheit und Selbstbestimmung sind für sie eine fremde Welt.

Als ob Prantl keine Ahnung hätte vom demokratischen Minimum gegenseitiger Anerkennung, behauptet er: „Der Staat darf in das Selbstbestimmungsrecht nur eingreifen, wenn Rechte anderer verletzt werden. Ein Recht darauf, das Gesicht eines anderen zu sehen oder mit ihm zu kommunizieren, existiert aber nicht.“

Das Gegenteil ist der Fall. Jeder Bürger hat das Recht, zu wissen, mit wem er es zu tun hat, wenn er ihm im öffentlichen Raum begegnet. Mit einem Stück Stoff kann man nicht kommunizieren. Kein muslimischer Mann hat das Recht, seine Frau zu behandeln wie ein ambulantes Möbelstück.

Das Urteil des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte nennt Prantl staatliche Gewalt: “Mit solcher Gewalt wird nichts besser; sie ist eine Integrationssperre.“

Es ist umgekehrt: der Schleier ist eine absolute Blockierung aller sozialen Beziehungen, der die geringste Integration mit Versteckspielen verhindert.

Prantls Stimme ist die Stimme des theokratisch akzentuierten Deutschlands gegen den konsequenten Laizismus der Franzosen. Das Land der Revolution weiß sich zu wehren gegen religiöse Intoleranzen und Aggressionen gegen Grundregeln der Demokratie.

Dass die Deutschen nicht das souveräne Selbstbewusstsein besitzen, von Einwanderern die Achtung vor demokratischen Basisrechten zu fordern, erklärt nur ihre Kehrseite, so wenig wie möglich Fremde und Flüchtlinge aufzunehmen.

Übergroße Scheintoleranz schlägt bei ihnen um in offensive Intoleranz, wie man zurzeit bei grünen und linken Kreuzbergern in Berlin erleben kann. Zuerst überfliegende Multikulti-Duldsamkeit, dann Umkippen in fremdenfeindliche Allergie.

Muslime sind keine Außenseiter, Herr Prantl. Außenseiter sind in jeder Demokratie willkommen – sofern sie die Gesetze achten. Ausnahmen im Bereich des Rechts sind nicht verträglich mit Gleichheit vor dem Gesetz. Das sollte ein Starjurist wissen. Nur Erwählte und Lieblinge Gottes bilden sich ein, die Ausnahmen von der Regel zu sein. Brüderlichkeit und Freiheit erleben Demokraten nur in der Polis der Gleichen.