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Der Spiegel

Hello, Freunde des SPIEGELS,

einen der scharfsinnigsten Artikel über Frank Schirrmacher hat Ulrike Herrmann in der TAZ geschrieben. Gegen eine inzestuöse Männerhorde weniger Leitmedien, die Schirrmacher post mortem zum eigenen Ich-Ideal verklärten, um ihr eigenes Elend zu kaschieren.

„Schirrmacher war bestens vernetzt. Seine Bücher wurden zum Ereignis, weil sie von anderen Leitmedien zum Ereignis erklärt wurden. Ob Springer, Zeit oder Spiegel – stets waren sie mit Vorabdrucken und Interviews zu Diensten, wenn Schirrmacher sein Buch vermarkten wollte.“

Schirrmachers Rastellikünste waren von jener halluzinogenen Qualität, die die alerten Herren als Lebensdroge benötigten, damit sie nicht das mediale Desaster bemerken, das sie seit Jahr und Tag selbst anrichten. Nach dem Tode des Königs zeigt sich kein neuer König. Im Grunde sind die Lobredner am Grabe wütend auf den Toten: sein Weggang blamiert die Überlebenden bis auf die Knochen.

Überall das blanke Elend: Chefredakteure, die nur organisieren und nichts zu sagen haben, das überschaubare Trüppchen der Edelschreiber ist verstrickt mit den Eliten, alle liegen mit allen im Bett, warum sollte man in dieser entente cordiale für Störungen sorgen? Man trifft sich auf denselben Golfplätzen und Trabrennbahnen, wedelt auf denselben Skipisten abwärts, empfiehlt sich gegenseitig

seine überflüssigen Bücher.

(Wer einen anderen Inzesthaufen bestaunen wollte, hätte gestern Kerners Show der wichtigsten Männer Deutschlands anschauen müssen. Günter Jauch als Herzenskanzler der Deutschen, Willy Brandt war nicht mal auf der Liste. Das von Amerika plagiierte Ranking legt die Plätze auf der Himmels- oder Jakobsleiter fest. Wer ist Gott am nächsten, wer am zweitnächsten, wer ist der Letzte, den die Hunde beißen?)

Ihren nepotistischen Schmuh rechtfertigen sie mit der Floskel: rechts und links gibt’s nicht mehr, wo wir sind, da sind die Besten. Silke Burmester hat rechtzeitig den Absprung vom SPIEGEL gewagt, um aus sicherer Distanz besser zu zielen:

„Ums Überleben im Besonderen scheint es beim Spiegel zu gehen. In einer Art vorauseilendem Selbstmord geht das Blatt diese Woche dazu über, dem Focus – danke, Herr Niggemeier, für die treffende Zuschreibung – auf dem Weg zum Irrelevantsmagazin zu folgen. Über das Titelbild einer sehr jungen hüpfenden Frau und der Zeile „Wie Gelenke gesund bleiben“ führt der Weg geradewegs zur Apotheken Umschau, die mit einer Auflage von knapp unter zehn Millionen zum Vorbild einer ganzen Generation an Nachrichtenmagazinen geworden ist.“ (Silke Burmeister in der TAZ)

Nun hat der SPIEGEL seinen „Relaunch“ – wer dieses Wort aussprechen kann, muss auf die Liste der 100 Besten – hinter sich gebracht und Jakob Augstein konnte seine führende Kommentarfunktion verbessern, da er versprach, sein luftiges Logo: im Zweifel links, umzuändern in die griffige Sonderwegformel: im Zweifel raushalten.

Was haben wir mit der Welt zu tun? Entweder ist die Welt böse und hat unser Eingreifen nicht verdient oder sie ist so unverschämt, dass sie sich von uns nicht erlösen lassen will. Noli me tangere: Welt, lass mich in meinem Winkel, du bist nur neidisch auf uns, dass es uns besser geht.

Nun wissen wir, was uns in zukünftigen Kommentaren Augsteins erwartet: seine juvenile Zweifelszeit ist vorüber, ab jetzt  raushalten. Aber mit flotten Sprüchen.

Von Rudolf Augstein zur Apotheken Umschau: Vergils Serpentinenweg durch die Dante‘sche Hölle könnte nicht abschüssiger gewesen sein.

Als Aust das damals wichtigste Magazin übernahm, waren ihm die Schuhe seines Vorgängers zu groß, als dass er regelmäßig seine Meinung, die er nicht hatte, unters Volk hätte bringen wollen. Seine Nachfolger sind nur noch Rechercheure, die so investigativ sind, dass sie Snowden glatt überflüssig gemacht hätten, wenn sie auf die Idee gekommen wären, beim BND anzurufen, ob er mit der NSA kooperiere. Frei und offen hätten sie Ja gesagt.

Man mache sich klar: der ganze Überwachungsterror ging spurlos an unseren knallharten Rechercheuren vorüber. Ohne einen amerikanischen Helden wären wir noch immer überzeugt, dass nur Gott uns im Kämmerchen überwacht und sonst niemand auf der Welt.

Einen Niqab brauchen die Edelschreiber nicht, um sich unerkannt durch die Welt zu bewegen. Kein Mensch auf der Straße kennt einen Journalisten, geschweige dessen Meinung. Kein BILD-Leser wird sich für einen Kai Dieckmann oder Matthias Döpfner interessieren. Die medialen Eliten werden anonym und unangreifbar. Umso besser lassen sich die Fäden hinter den Kulissen ziehen.

(Die Behörden wissen inzwischen alles über alle. Nur, wie reich die Reichen sind, die in beruhigender Regelmäßigkeit reicher werden, das weiß niemand. Werde reich, keine NSA wird deine Konten ausspähen. Für die Reichen gilt, was für Gott gilt: mach dir kein Bildnis noch Gleichnis).

Womit wir endlich bei Gott angekommen wären. Ein SPIEGEL-Artikel über Gott zeigt den absoluten Niedergang jenes Montags-Magazins, das früher die BRD in Aufregung versetzen konnte. (DER SPIEGEL 24/2014 S.58 ff, leider nicht online verfügbar)

Am Anfang war der Bombast und das Ungefähre. Der Bombast ist die übergroße Abbildung des Kuppelfreskos „Mariä Himmelfahrt“ aus dem Dom von Parma. Womit wir schon gehörig eingeschüchtert wären und nur noch auf leisen Pfoten ins Allerheiligste schleichen können.

„Das unsterbliche Gerücht“, überschreiben die Schreiber ihre Story – worüber noch mal?

Die Eingangssätze klingen wie bei Plasberg, in „Kulturzeit“ oder im Kulturfunk: „Unsere Welt wird zunehmend säkular; sogar Gläubige hadern mit den Kirchen und den Vorstellungen eines Gottes wie aus dem Märchen. Was aber wäre eine Religion, die darauf verzichtet? Eine Religion für Atheisten?“

Ähnliche Sätze der Medien lauten: „Wir halten uns für aufgeklärt, doch können wir wirklich sicher sein, dass es kein Böses gibt?“

Am Anfang steht der Bombast und das sich selbst vergewissernde Wir, ein pluralis communionis. Halten wir uns an den Händen und lassen uns von niemandem in atomisierte Individuen trennen, als ob jeder einen anderen Glauben haben müsste. Wir glauben alle dasselbe, wir sind alle aufgeklärt: ein Volk, ein Glaube, eine Aufklärung. Solange wir noch in derselben Welt leben, kann uns niemand trennen, in Ewigkeit Amen.      

Unsere Welt wird zunehmend säkular? Das fängt ja verheißungsvoll an, als wär‘s ein Stück von Ex-Bischof Huber. Wie wär‘s mit dem Gegenteil? Unsere Welt wird zunehmend christogener, dualistischer, eschatologischer, chiliastischer und apokalyptischer?

Die Fassaden, ja, die sind modern und technisch, doch der Inhalt des ganzen Spuks, der IQ-Maschinen, des Fortschritts, des Reichtums, der Naturbeherrschung und –zerstörung: das ist pures christliches Mittelalter. Wir sind dabei, die Untergangsprophetien des Johannes selbsterfüllend in Weltpolitik zu übersetzen. Unser Fortschritt ist nichts als die technische Realisierung der Heilsgeschichte.

Zumindest kennen wir jetzt das Glaubensbekenntnis der SPIEGEL-Schreiber Susanne Beyer und Roman Leick. Die Welt wird: da können wir machen, was wir wollen, sie wird. Sie wird zunehmend: alles ist schon schlimm, es kann nur noch schlimmer werden. Alles, was wird, wird immer verhängnisvoller. Die Welt wird zunehmend säkular.

Was war säkular nochmal? Es muss irgendetwas Schleichendes und Verhängnisvolles sein. Laut Duden ist säkular: weltlich, den Laien zugehörig. Das klingt verheerend nach Welt und Laien, nicht nach Himmel und Stellvertretern.

Äußerlich sieht alles nach Fortschritt aus, doch wehe, wenn ich die Maskerade wegreiße: dann sehe ich das grauenhafte Gegenteil. Schon längst befinden wir uns in der Waffenkammer des Antiamerikanismus. Die Amis drehen immer schneller das Fortschrittsrad, nur die Deutschen sind in der Lage, ihnen in die Speichen zu fallen und den schönen Schein zu zerstören.

Eric T. Hansen hat recht, das wird nichts mehr mit den Amerikanern und uns. In 20 Jahren werden die Waffen entscheiden, wer Recht hat: die optimistischen Fortschrittler, die schon jetzt die Umrisse ihres nahenden Messias in der Wüste um Las Vegas erkennen – oder die deutschen Pessimisten, die dem Unfug ein Ende bereiten und den Fortschritt als Lug und Trug entlarven. Sie konnten zueinander nicht kommen, der transatlantische Graben war viel zu tief.           

So eingeschüchtert und fast hoffnungslos eingestimmt, betreten wir die große Kathedrale – wir werden um jeden Brosamen dankbar sein, der vom Tisch der Eingeweihten fallen wird.

Doch es ist nicht die große Kathedrale, die uns erwartet, es ist das hässlichste Haus in der Straße der Gutbetuchten, das Pfarrhaus. Wer euer Schönster sein will, der sei der Hässlichste. Ein Pfarrer zu sein bei den reichen Pfeffersäcken in Hamburg, das muss man als Strafe Gottes betrachten.

Doch Demut führt zum Geist des Erlösers, der weder Gestalt noch Schöne hatte. Der Pfarrer muss ein schlechtes Gewissen haben, dass er eine geräumige Villa im Bezirk der Allerreichsten hat. Da hilft nur die instrumentelle Umwertung der Werte: wenigstens muss das Haus hässlich sein, damit kein Schäfchen ihm Vorhaltungen machen kann.

Mit der Demut sollte man aber nicht übertreiben und die Kirche im Dorf lassen. Der schlichte Pastor Claussen ist Doktor der Theologie mit einer Arbeit über Bibelkritik – deren Inhalt er niemals seiner Gemeinde mitteilen wird –, habilitiert mit einer Arbeit über das Glück – dem irdischen, dem überirdischen? schau an, so ein Pastor ist ein Tausendsakkerment, der kennt sogar das irdische Glück, das hätten Sie nie gedacht, Herr Nietzsche, gell? –, Buchautor und regelmäßiger Autor in Zeitschriften und Zeitungen.

Unter den Jüngern Jesu befanden sich nicht viele Weise und Gelehrte, doch solche Wüstenverhältnisse hat Hamburg nicht mehr nötig, hier vereint sich weltlicher und geistlicher Geist aufs schönste.

Das war nur das Präludium, jetzt beginnt erst das große Orgelbrausen vom Himmel. Doch nicht, bevor Herr Pastor sich ordentlich zugeknöpft hat. 17 Knöpfe, zehn wegen der Gebote und sieben wegen der Bitten des Vaterunsers, wollen für altdeutsche Ordnung sorgen. Wenn der Geist schon weht, wo er will, muss wenigstens der Talar sturmfest vertäut sein. Dann noch das Lutherbäffchen um den Hals und der Seelenhirt kann zum Dienst an Gottes Wort antreten.

Worüber predigen wir denn heute, Herr Pastor? Über die Himmelfahrt Jesu, der in einer Wolke in den Himmel getragen wurde. „Und das soll Claussen am Anfang des 21. Jahrhunderts den Gläubigen einer deutschen Großstadt erzählen“, so der SPIEGEL.

Das klingt nach Bestrafung, doch wo liegt das Problem? In Amerika, der Fortschrittszentrale der Welt, soll sogar das Wunder der Unsterblichkeit mit einer Maschine bewerkstelligt werden und Sie, Herr Pastor haben Probleme mit einer Wunderwolke?

Deutschland glaubt noch immer an das Ammenmärchen von der fortschreitenden Säkularisation und wundert sich, wie wenig säkular die Welt doch ist. Aber das Märchen zu korrigieren – das fällt Deutschland nicht ein.

Wie lösen wir das Problem mit der Wolke, Herr Pastor? Die Katholiken glauben an die realen Windeln Jesu in Trier und Sie nicht mal an eine Wolke, die den Weltenschöpfer ins Jenseits befördern kann?  

Ein lutherischer Pastor ist nicht nur gläubig, er ist auch aufgeklärt. Wie kriegt man beides zusammen?

Kein Problem für einen gelehrten Gottesmann. Auf der Kanzel wird er über Bilder reden und was sie heute bedeuten, auch darüber, ob „ein Christentum ohne diese Bilder denkbar ist. Ob überhaupt eine Religion ohne Gott denkbar ist.“

Halten zu Gnaden, Bruder Pastor: kann es sein, dass Sie zu fälschen beginnen und die Fälschung als moderne Theologie verkaufen?

Im Text sind das keine Bilder, sondern Realität; Sie machen daraus, was Ihnen in den Kram passt: Bilder, die Sie beliebig deuten können. Genauer: sind Bilder nicht Abbilder der Realität? Oder sind sie reine Phantasmagorien, virtuelle Erfindungen wie aus Hollywood? Ist Gott ein Bild?

Warum wollen Sie eine Religion ohne Gott? Glauben Sie nicht mehr an Ihn, also wollen Sie ihn beseitigen? Ach so, Sie haben ein Buch gelesen, in dem ein Gottloser über eine Religion ohne Gott nachdenkt, um Gläubige und Gottlose zu versöhnen? Warum sagen Sie das nicht gleich?

Ein Theologe liest das Buch eines Agnostikers, in dem er von einer Religion ohne Gott bramabarsiert. Und schon bastelt der Pastor an einer neuen Theologie, die er demnächst auf den Markt werfen wird: Religion ohne Gott.

So läuft das Geschäft der unendlichen Deutungen. Was die heidnische Welt kann, kann die gläubige Welt allemal. Einfach alles kopieren und behaupten, das stünde bereits in der Schrift – und schon hat sich die Theologie mit Hilfe der Welt von Grund auf erneuert.

Das Rezept ist einfach: alles, was die Welt behauptet, wo sie dem Glauben widerspricht und der Glaube kann sie nicht widerlegen: Vorwärtsgang einschalten, mit Karacho die Welt erobern und dreist behaupten, die weltliche Weisheit sei schon immer auf dem Boden des Glaubens gewachsen.

Die Frohe Botschaft ist eine perfekte Kannibalistin. Sie frisst die ganze Welt und behauptet, die Beute sei die Frucht des Glaubens. Versteht sich, dass mit dieser kannibalistischen Methode fromme Soldaten unter der Regie von Missionaren die ganze Welt erobert haben. Zwar ist die Welt böse, doch wenn sie verschlungen wurde, war sie naturaliter christiana, von Natur aus christlich.

Der Glaube ist göttlich und verfügt über alle Register. Was er vernichtete, das war böse, was er verschlang, war ein Geschenk des himmlischen Vaters.

Die absolute Zahl der Kirchenmitglieder sinkt zwar, aber für die übergroße Mehrheit der Mitglieder kommt ein Austritt aus der Kirche nicht infrage. Angeblich gibt es wieder einen Anstieg der Zustimmung zur Kirche.

Von den Verbliebenen sind aber nur 13 % hochaktiv. „Und von diesen Hochaktiven lehnen zwei Drittel eine wortwörtliche Auslegung der Bibel ab. Die Zustimmung zur Religion schließt eine Skepsis gegenüber biblischen Bildern ein. Eine komplizierte Gesamtlage.“

Jetzt verstehen wir die Bedeutung des Wörtchens kompliziert. Wenn etwas Widersprüchliches und Unglaubwürdiges vorliegt, das man aus Gründen der Bigotterie nicht kritisieren will, nennt man es „komplex“.

Komplex am modernen Glauben ist gar nichts, nur das Maß an selbstverschuldeter Unmündigkeit geht auf der nach oben offenen Bigotterieskala ins Grenzenlose. Wer den komplexen Knoten durchhauen will, müsste sich auf den Hosenboden setzen und studieren:

Nach welcher hermeneutischen Regel darf man Texte zu Bildern kastrieren? Wer hat diese hermeneutischen Regeln erfunden? Warum kann ein Deutscher sich kaum von der absurden Religion seiner Väter lösen? Warum erzählt der Pastor nicht von seinem Studium, wo er sich mit solchen Fragen beschäftigen musste? Warum lässt er seine Schäfchen im Stand der Dummheit?

Was bindet die Gläubigen an die Kirche, wenn sie mit den alten Texten nichts mehr anfangen können? Warum gehen sie nicht in die Welt und freuen sich ihres Lebens? Nein, sie wollen keine Gottlosen oder Agnostiker werden, da bräche ja die Gesellschaft zusammen ohne göttliches Fundament. Sie fühlen sich „durch etwas berührt oder suchen die Berührung mit der Metaphysik.“           

Dieser bodenlose Quark ist der jämmerliche Rest, der vom Christentum übrig geblieben ist? Der Inhalt der voluminösen Heiligen Schrift, von allen Kirchen noch immer als unantastbares Buch der Offenbarung gepriesen, schrumpft auf das mickrige Wörtchen etwas?

Berührung durch etwas – das keinen Namen, keinen Inhalt hat, das ist der Kitt der Gläubigen mit einer Kirche, die Millionen Bücher über ihre Glaubenslehre hat schreiben lassen?

Den wahren Glauben an den Schöpfer, Erlöser, Vernichter und Wiedererschaffer der Welt haben die Deutschen längst verloren. Dennoch haben sie nicht den Mut, sich von dem zu verabschieden, was ihnen nichts mehr sagt. Sie bleiben am Talarzipfel der Priester hängen, die ihrerseits nicht davor zurückschrecken, die Selbstbelügung ihrer Schafe als Grundlage ihres gut betuchten Hirtenjobs auszunutzen.

Hier treffen zwei Selbstverblendungen aufeinander, die sich gegenseitig in ihrer Bigotterie bestärken. Wer solche Kirchen, Gottesgelehrten, Gemeinden und Kirchenmitglieder hat, der muss sich um die intellektuelle Redlichkeit der Deutschen nicht mehr kümmern – die längst im Orkus verschwunden ist.

Zeige mir das Verhältnis einer Nation zur Religion und ich sage dir, welche Art von geistesabwesender Politik diese Nation betreibt. Wer in seiner Psyche soviel religiösen Galimathias zulässt, der muss ihn wohl oder übel auch in der Politik zulassen. Wer im Dienst seines Seelenheils nichts klären kann, kann es auch nicht im Interesse seines Körperheils.

Das uralte Märchen von einem gütigen, strengen und grausamen Vater behext die Deutschen seit mehr als 2000 Jahren. Sie sind nicht fähig, einander ihre Bedürfnisse zu gestehen und füreinander Vater und Mutter, Geliebte und Freunde zu sein. Was sie von oben erwarten, erwarten sie nicht von sich. Das ist der religiöse Kern ihrer weltlichen Unmündigkeit.

Der SPIEGEL-Bericht tippt nur die oberflächlichsten Dinge an, erklärt nichts und bezieht keine Position. Er fingiert eine Distanz, die er nicht hat, stattdessen ist er mit den Positionen der Genannten im Prinzip identisch. Sein Blickwinkel ist die des Glaubens, der kein Glaube mehr sein will.

Kein einziges kritisches Wörtchen zum Pastor, zur Gemeinde, zur Theologie. Alles wird im Modus der Beobachtung abgesegnet. Das wirkliche Christentum mit biblischem Inhalt kommt nicht vor. Die wirklichen Probleme einer chiliastischen Welt im Endstadium ihrer Heilsgeschichte werden mit keinem Wörtchen erwähnt. Jeder Deutschlehrer müsste einen solchen Aufsatz mit der Bemerkung zensieren: Thema verfehlt.

Psychologische Fragen zwischen Atheisten, die ihrer kalten Vernunft und Gläubigen, die ihres Gottes überdrüssig sind: das sind die esoterischen Girlanden eines überflüssigen Berichts. Zur sinnvollen Recherche gehören Fragen, Analysen und elementare Debatten.

Hier waren zwei Landschaftsmaler am Werk, die vorgezeichnete Figuren mit oberflächlichen Wasserfarben betupften. Es genügte ihnen, ihre Probleme in den Problemen der Gemeinde wiederzuerkennen, um sie sichtlich erleichtert abzusegnen. Alles im grünen Bereich, ihr Deutschen, don‘t worry, be happy.

Das Schlimmste am Ende: der Verrat des SPIEGEL an der ratio. Die Naturwissenschaften selbst hätten dafür gesorgt, dass das Vertrauen in den Verstand gesunken sei. Warum?

„Ein entscheidender Motor der Wissenschaften ist die Widerlegung einmal gewonnener Erkenntnisse. Wenig ist gesichert, eines aber schon: dass die Rationalität sich aus Irrationalismen zusammensetzt. Die Ratio absolut zu setzen, das funktioniert nicht mehr. Außerdem ist die Moderne nicht nur ein Kind der verstandesgläubigen Aufklärung, sondern auch der gefühlsbetonten Romantik.“

Hier stürzt alles unter sich. Eine Ratio, die sich absolut setzt, ist ein theologisches Gerücht. Keine Vernunft, die nicht wüsste, dass sie fehlbar ist. Andernfalls wäre sie keine Vernunft.

Ratio ist keine Gegnerin der Gefühle. Die Romantik propagierte keine „Gefühle“, sondern religiöse Gefühle, mit der sie die Aufklärung bekämpfte. Der Stolz der Naturwissenschaft besteht gerade in der Fähigkeit, ihre Hypothesen zu falsifizieren. Sie kann aus ihren Irrtümern lernen.

Was die Wissenschaft nicht weiß, ist nichts Irrationales, sondern etwas Unbekanntes, das noch erkannt werden kann. Die unbekannte Natur ist nicht irrational, sonst könnte man sie nie erkennen. Mutter Natur ist das Vorbild alles Erklärbaren und Verstehbaren. Vernunft ist die Fähigkeit des Menschen, mit leidenschaftlichen Gefühlen den Kosmos zu entdecken und zu erkennen.

Die Einheit von Leidenschaft und Einsicht nannte Platon Eros. Eros ist Liebe zu dem, was ich erkenne. Der philosophische Eros hat den Griechen verboten, erkennend die Natur zu zerstören und zerstörend die Natur zu erkennen, wie es die christliche Moderne in orgiastischer Wut exekutiert.

In seinen frühen Jahren war der SPIEGEL ein rationales Organ der Aufklärung. Heute ist er zum irrationalen Organ der Gegenaufklärung geworden.

Die Zukunft der Religion ist gesichert. Mit oder ohne Gott.