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Kritik ist die höchste Form der Liebe

Hello, Freunde der Kritik,

Kritik ist die höchste Form der Liebe, schreibt Springer-Chef Döpfner in einem Gedenkartikel an Marcel Reich-Ranicki. (Alle rühmen den Verstorbenen um seiner kritischen Klarheit willen, doch keiner seiner Schüler schreibt klar und kritisch.)

Seitdem überschlagen sich BILD und WELT in Liebeserweisen an den Staat Israel. In einem offenen Brief an das israelische Volk entschuldigt sich Döpfner wegen lieb- und kritikloser Berichterstattung seiner Blätter über den jungen Staat.

Durch zunehmende Dominanz der Ultras, die den Staat ausbeuten und unaufhaltsam in einen jüdischen Ajatollahstaat verwandeln, ist die innere Demokratie gefährdet, durch intoleranten Auserwähltheitsdünkel und mangelnden Friedenswillen die äußere Existenz. Isoliert steht der Staat gegen den Rest der Welt. Bei Netanjahus Rede in der UN-Vollversammlung war der Saal leer.

Richtet ein Feind wohlwollende Worte an das Volk Israel, muss er ein Wolf im Schafspelz sein. Das ist eiserne Logik einer dualistischen Religion. Hier wahrheitsbesitzende Gläubige, dort fluchwürdige Heiden. Wovon die meisten Juden überzeugt sind – dass sie keine Freunde in der Welt haben – machen sie in selbsterfüllender Prophezeiung wahr.

Was Döpfner und seine Blätter betrifft, stimmt das Vorurteil der meisten Israelis. Aus sentimentaler Jesus-Identifikation liebte Springer den Staat, die Kleinigkeit übersehend, dass Jesus sein eigenes Volk in

die Hölle verfluchte.

„Ihr Schlangen, ihr Natterngezücht! Wie wollt ihr dem Gericht der Hölle entrinnen? Ihr Natterngezücht, wer hat euch unterwiesen, dass ihr dem zukünftigen Zorn entrinnen werdet? Ihr Natterngezücht, wie könnt ihr Gutes reden, da ihr doch böse seid? Ihr blinden Führer, die ihr die Mücke seiht, das Kamel aber verschluckt! Wehe euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, dass ihr die Außenseite des Bechers und der Schüssel reinigt, inwendig aber sind sie gefüllt mit Raub und Unmäßigkeit. Wehe euch, dass ihr geweißten Gräbern gleich seid, die auswendig schön scheinen, inwendig aber voll von Totengebeinen und allem Unrat sind. So erscheint auch ihr auswendig den Menschen als gerecht, inwendig aber seid ihr voll von Heuchelei und Gesetzesverachtung. Ihr machet nun das Maß eurer Väter voll! Damit alles gerechte Blut über euch komme.“

Jesus liebt sein Volk derart, dass er es in die Hölle verflucht. Es genügt seinen Ansprüchen nicht. So liebt ein fanatischer Vater seine Kinder, die er lieber erdrosselt als sie dem Unheil zu überlassen. Aus Furcht vor der Hölle werden sie in die Hölle verflucht. Totalitäre Erlösungsliebe muss den irdischen Tod bringen, um das jenseitige Leben zu retten. Fällt das Jenseits aus, bleibt ewiger Tod. Christliche Liebe kann lebensgefährlich sein, wie oft in der Geschichte der Frohen Botschaft brachte sie den Tod.

Die Vorkriegsdeutschen liebten Jesus, aber nicht die Juden, Jesus war für sie kein Jude. Das deutsche Christentum, das den Führer als wiedergekommenen Messias anbetete, verwandelte Jesus durch Wunder in einen römischen Arier und ergo gründet der neugermanische Rassismus auf einem rassereinen Sohn der Vorsehung.

Religion verwandelt sich in der Moderne zu Wissenschaft, Fortschritt, Wirtschaft, Politik, in ein allgemeines Lebensgefühl. Man spricht von Säkularisation, von Verweltlichung. Konservative Menschen, stets gesalbt mit einem Tropfen Öl des rechten Glaubens, sehen im Elend der Moderne die Folgen des Glaubensverfalls.

Sie übersehen, dass der Glaube sich von bewussten Bekenntnissen gelöst hat und als untergründige Struktur die Moderne mehr denn je bestimmt. In Deutschland aus dem Untergrund, denn Deutsche können Geständnisse ihres Wirbelwind-Kopfes nicht unterscheiden von stahlharten, dem Bewusstsein entzogenen Handlungsstrukturen. Selbst der Gottloseste beteiligt sich an christlicher Naturverwüstung, wenn er morgens mit dem Auto an seine Arbeitsstelle fährt.

Hier müsste der Theorie die Praxis folgen, um Religionskritik politisch zu machen und die Naturzerstörung zu stoppen. Das wäre die überzeugendste Form konsequenter Religionskritik – die mit Atheismus nicht identisch sein muss. Atheismus, Agnostizismus (= ich weiß nicht, ob es Gott gibt): das sind Bulimie-Begriffe aus den wahrnehmungstheoretischen Streitigkeiten früher Jahrhunderte. Bei denen übersehen wurde, dass es viele Begriffe gibt, die man nur beweisen kann, indem man sie praktiziert.

Liebesgeständnisse eines Galans: glaube mir, meine Schöne, dass ich dich immer auf Händen tragen werde, sind wertlos, wenn entsprechende Taten ausbleiben. Etwas glauben, was man durch Taten nicht überprüfen kann, ist sinnlos. Glaube, Motivation, Gesinnung: die primären Beweggründe des Menschen sind nur überzeugend, wenn sie zu sichtbaren Taten werden.

Die härteste Überprüfung eines Glaubens ist die Überprüfung der Taten, die aus ihm kommen. Zeige mir deine Taten, dann glaube ich an deinen Glauben – vorausgesetzt, Taten und Glauben sind einleuchtend verknüpft.

Viele Menschen handeln sinnvoll, verbinden aber ihre Taten aus mangelndem Wissen mit einem falschen Glauben. Ihre wahre Motivation können sie nicht benennen, weil ihnen passende Begriffe fehlen. Die Macht des Christentums hat dafür gesorgt, dass gute Taten unisono als christliche deklariert werden. Alternative Bezeichnungen werden bereits in Kitas unterdrückt. Vorbildliche Kinder sind immer Kinder Gottes.

Nicht jeder Hypochonder, der sich sterbenskrank fühlt, stirbt am nächsten Tag. Seine Selbstdiagnose wird von panischer Furcht bestimmt, nicht von medizinischen Sachkenntnissen.

Fragen, ob man Gott beweisen könne, sind öde Sandkastenspiele. Ohnehin ist der Gott der Bibel nicht irgendein Gott, den man errechnen oder erdenken kann. Er ist der, der sich in einem Buch selbst offenbart hat. Über sich sagt er selbst, dass er der Unausdenkbare ist. Vom unerleuchteten Menschen will ER gar nicht bewiesen werden. ER will sich selbst beweisen. Der Mensch soll durch Taten seiner Offenbarung überzeugt werden, die sich von ihrem verblendeten Verstand verabschieden sollen.

Okay, da gibt es diese Stelle im Römerbrief, dass Gott sich auch außerhalb seiner Offenbarung den Heiden offenbaren würde. Gibt es zwei Offenbarungen, eine echte für die Erwählten und eine Offenbarung light für die Heiden?

Die Heiden, so Paulus, sollen keine Entschuldigung haben, wenn sie so tun, als ob sie den Gott der Bibel nicht erkennen könnten. Da haben wir bereits die Motivation des Paulus, der in einem jüdischen wie griechischen Umfeld aufwuchs und die überragende Intelligenz der griechischen Philosophie kannte: er will die verdammte Rechthaberei dieser Logiker, Dialektiker, Mäeutiker und Naturdenker in den Senkel stellen.

Im Jüngsten Gericht sollen sie keine Gelegenheit erhalten, den Großen Richter – der wohl nicht mehr der Jüngste und Schlagfertigste sein wird – mit logischen Beweisspielchen zu foppen. Also hat Paulus den Versuch unternommen, für seinen Offenbarungsgott einen Beweis zu bringen, dass diese Vernünftler sehr wohl von Ihm hätten wissen können, ja hätten wissen müssen. Das klingt so:

„… weil das, was man von Gott erkennen kann, unter ihnen offenbar ist; denn Gott hat es ihnen offenbart. Sein unsichtbares Wesen, das ist seine ewige Kraft und Gottheit, ist ja seit Erschaffung der Welt, wenn man es in den Werken betrachtet, deutlich zu ersehen, damit sie keine Entschuldigung haben, deshalb, weil sie Gott zwar kannten, ihm aber doch nicht als Gott Ehre und Dank erwiesen, sondern in ihren Gedanken in eitlen Wahn verfielen und ihr unverständiges Herz verfinstert wurde. Während sie vorgaben, weise zu sein, wurden sie zu Toren und vertauschten die Erhabenheit des unvergänglichen Gottes mit Bild und Gestalt von vergänglichen Menschen und Vögeln und vierfüssigen und kriechenden Tieren.“ (Röm. 1,19 ff)

Eine Kampfansage an die griechische Philosophie, verbunden mit dem Vorwurf, dass die schändliche Homoerotik vieler Griechen die unvermeidbare Folge ihrer eingebildeten Weisheit sei. In Wirklichkeit sei sie nichts als Torheit und perverse Lust, die die „Wahrheit Gottes mit der Lüge vertauschten und den Geschöpfen Anbetung und Verehrung darbrachten, statt dem Schöpfer, der gepriesen ist in Ewigkeit.“ (V. 25)

Der Artillerist Gottes schießt nicht mit Platzpatronen. Würden Gottlose solche Verwünschungen gegen die Rechtgläubigen ausstoßen, käme der nächste Staatsanwalt – zumindest im vorparadiesischen Bayern, wo man den Gottessohn in Oberammergau, gelegentlich in zweifacher Ausfertigung, persönlich im Fleische wandeln sehen kann.

Wir warten auf die glänzende Idee von Kardinal Meisner, allen Grundschulklassen der BRD von der ersten bis zur vierten Klasse gesetzmäßig eine Exkursion nach Oberammergau vorzuschreiben – damit kein Deutscher im Jüngsten Gericht eine Entschuldigung habe. Eine verlockende und seelenrettende Idee, die sicher Anklang fände, besonders wenn die Missionsfahrten aus der Schatulle des überaus spendablen adligen Talarträgers Tebartz-van Elst (jede Assoziation mit einer diebischen Elster verbieten wir uns kategorisch) bezahlt würden.

Das Menschengeschlecht soll keine Ent-schuldigung haben, könnte man auch so formulieren: das Menschengeschlecht soll vor Gott immer und von vorneherein schuldig sein. Von vorneherein heißt, bevor das Jüngste Gericht zusammentritt. Der Schuldspruch soll stehen, bevor die Verhandlung überhaupt begonnen hat.

Seltsames Gericht. Hat es Angst, es könnten neunmalkluge Weise mit stupender Logik auftreten, die dem Obersten Richter Voreingenommenheit und mangelnde Beweise vorwerfen könnten? Paulus muss wohl entsprechende Vorerfahrungen beim Disputieren mit Griechen gehabt haben. Anders kann man seine Versuche, den gedankenschwachen Schöpfer vor Denkern zu bewahren, nicht erklären. Möglicherweise kannte er sogar die Verteidigungsrede des Sokrates vor dem athenischen Tribunal, wo der Kauz wegen Gottlosigkeit angeklagt war und seinen Anklägern mit unüberwindbaren Argumenten den Hobel ausblies. Diese Blamage sollte sich bei seinem Gott nicht wiederholen.

Wie sind die Argumente des Paulus? Sie sind eine Petitio principii: was bewiesen werden soll, wird als Bewiesenes schon vorausgesetzt. Eine wasserhaltige Lösung enthält immer Wasser, sonst wäre sie keine. Das muss nicht bewiesen werden, das steht a priori fest. Was anderes wäre es, nachzuweisen, dass die Definition „wasserhaltige Lösung“ tatsächlich eine ist. Dies wäre ein echter Beweis, da er sowohl eine Widerlegung wie eine Bestätigung sein könnte.

Haben die griechischen Denker an Gott oder Götter geglaubt? Warum denn nicht? Selbst der als gottloser Lüstling verschriene Epikur hatte die Götter nicht abgeschafft, er hatte sie nur in den hintersten Winkel des Universums verbannt – genau dahin, wo amerikanische Himmelsstürmer sie demnächst per Shuttle aufspüren wollen. Sie sollten sich aus den Angelegenheiten der Menschen raushalten und sich in ihrem paradiesischen Leben angemessen langweilen.

Nur eins war Epikur wichtig: ob Götter oder nicht, die Menschen sollten ihr Leben nicht in lebenslanger Schuld und unter peinigenden Ängsten vor einem fürchterlichem Ende zubringen. Das war der absolute Gegenentwurf zu jeglichem Christentum – und einem Platonismus, der auch schon Jüngste Gerichte in sein Repertoire aufgenommen hatte, um dem kommenden Christentum den roten Teppich auszurollen. In diametralem Widerspruch zu seinem Lehrer, dem es völlig Wurscht war, ob er in der Unterwelt Götter antreffen würde oder nicht. Würde er, so freute er sich bereits auf Erden, ihnen demnächst die Meinung zu geigen.

Als einer der schärfsten Religionskritiker gilt der Vorsokratiker Xenophanes, der die menschengemachten Götter gehörig durch den Kakao zog. Jeder Gott gliche dem, der ihn erfunden hätte. (Das ist ja schon bei Hunden der Fall, wobei unklar ist, ob Herrchen sich dem Hund oder Hund sich seinem Herrchen anähnelt.)

„Aber die Sterblichen glauben, die Götter würden geboren
und sie hätten Gestalt und Tracht und Sprache gleich ihnen.
Schwarz, stumpfnasig: so stellt die Götter sich vor der Äthiope;
aber blauäugig und blond malt sich der Thraker die seinen.
Hätten die Rinder und Rosse und Löwen Hände wie Menschen,
könnten sie malen wie diese und Werke der Kunst sich erschaffen,
alsdann malten die Rosse gleich Rossen, gleich Rindern die Rinder
auch die Bilder der Götter, und je nach dem eigenen Aussehen würden die leibliche Form sie ihrer Götter gestalten.“  

Feuerbach hat nichts anderes getan, als diese Grundidee wieder auszugraben und den Gott zum projektiven Erzeugnis des Menschen zu erklären.

Selbst dieser frühe Feuerbach pries den Gott,

„der ein … einziger Gott, unter Göttern und Menschen am größten,

weder an Gestalt den Sterblichen ähnlich noch an Gedanken.

Gott ist ganz Auge, ganz Geist, ganz Ohr.

… ohne Mühe erschüttert er alles mit des Geistes Denkkraft.

Stets am selbigen Ort verharrt er sich gar nicht bewegend.“

Wenn der paulinische Gott sich durch Natur ausreichend dem Menschen geoffenbart hätte, wozu hätte er sich noch einmal durch seinen Sohn offenbaren müssen? Die Natur an sich – so alle Naturreligionen – zeigt nicht, dass sie das Geschöpf eines Gottes sein muss. Sonst hätten alle Naturanbeter den Schöpfer in seiner Schöpfung erkennen müssen.

Für die meisten Griechen war die Welt das Werk der Mutter Gäa, oder sie existierte an sich und durch sich allein von Ewigkeit zu Ewigkeit. Eine Schöpfung aus Nichts? Da konnten die Griechen nur lachen, die gerade den Kern des naturwissenschaftlichen Forschens entdeckt hatten: keine Wirkung ohne Ursache. Nur die mütterliche Natur war Ursache ihrer selbst, weil sie die Fähigkeit zu gebären hatte. Ein gebärunfähiger Mann schnitzt sich sein Geschöpf aus Nichts??

(Was immer bedeutet: Gebären aus Nichts, also ohne Mitwirkung der Frau. Die Schöpfung aus Nichts ist der erste antifeministische Akt eines vor Kraft nicht laufen könnenden „emanzipierten“ Mannes. Die ganze Moderne ruht auf diesem frauenfeindlichen Boden und will durch Erschaffen einer zweiten Natur aus ihrem (Hohl)Kopf beweisen, dass sie die weibliche Gebärfähigkeit durch reine Gehirntätigkeit überwunden hat.)

Die Natur gibt keinen allmächtigen Schöpfer ihrer selbst zu erkennen. Was Paulus beweisen will, hat er in seinem Credo a priori festgelegt. Selbst wenn die Schlussfolgerung von Natur auf Gott möglich wäre, wäre das auf keinen Fall ein Beweis, dass dieser erdachte und schlussgefolgerte Gott identisch mit dem biblischen Gott wäre, der sich in seinem Sohn auf Golgatha offenbart hat. Was hat ein Vernunftgott mit dem Gott des Alten Testaments und des Neuen Testaments zu tun?

Für Spinoza, einem modernen Stoiker, waren Natur und Gott identisch. Der mit dem Großen Bann der jüdischen Gemeinde belegte Natur-Gott-Denker war einer der frühesten und schärfsten Kritiker des Judentums und des Christentums. Wenn es tatsächlich die Offenbarung eines natur-erschaffenden Gottes durch Natur gäbe, müsste die Wirkung so überwältigend und jedem Menschen zugänglich sein, dass es auf keinen Fall zur Bildung rivalisierender Religionen kommen könnte.

Es kann nicht um erklügelte Gottesbeweise, es muss um Tatbeweise gehen. Lessing ist vergeblich gestorben, der nur jenen Ring für echt erklärte, der den Träger zu guten Taten befähige. Wenn ein Mensch den Glauben nötig hat, dass eine Schildkröte den Elefanten und der den Menschen erschaffen habe: lasst ihn glauben. Hauptsache: dieser Glaube befähigt ihn, Schildkröten und Elefanten zu schützen und jeden Menschen als seinesgleichen zu würdigen.

Jeder Mensch ist selbst zuständig für sein persönliches Glaubenssystem – einem projektiven Was-will-ich-im-Leben? Dieser Glaube aber muss sich – nicht als Theorie, sondern als Kraftquelle – in humanen Handlungen und Taten beweisen. Erweisen sie sich als human, müssen alle Glaubenssysteme als gleichwertige anerkannt werden. Erweisen sie sich nicht, muss der inhumane Täter aufgefordert werden, seinen Glauben zu revidieren. Wer gegen die Würde der Natur und des Menschen verstößt, vor dem muss die Menschheit geschützt werden.

Was hat das alles mit Döpfner zu tun? Trotz seines exzellenten Mottos: Kritik ist die höchste Form der Liebe, ist die Springerpresse, ja alle deutschen Medien, nicht in der Lage, Israel mit liebender Kritik zu begleiten. Der selbstgefällige Philosemitismus muss nicht durchweg ein verkappter Antisemitismus sein, so simpel sind Verdrängungen nicht – aber es könnte so sein.

Genau dies müsste dringend überprüft werden. Sonst besteht die Gefahr, dass der deklamatorische Philosemitismus eines Tages in sein Gegenteil umkippen könnte. (In Amerika dieselbe Gefahr bei christlichen Eschatologen, die den Juden nur beistehen, weil diese durch Bekehrung zum christlichen Glauben die Rückkehr des Messias ermöglichen sollen. Um ihrer selbst willen werden die Juden nicht geliebt. Hier ist die Gefahr des Umkippens aus Enttäuschung über den ausbleibende Messias noch größer.)

Axel Springer fühlte sich als leidenschaftlicher Jesuaner und als leidenschaftlicher Judenfreund. Das passt zusammen wie Feuer und Wasser, denn Jesus war ein Erlöser, der sein Volk liebte, indem er es verfluchte. Entweder war Springer kein echter Jesuaner oder kein echter Judenfreund. Was war er?

Ein deutscher Christ, der sich über Bibel, Juden- und Christentum verblendete Vorstellungen machte. Er folgte den Deutungskünsten der Kirchen, die die eindeutigen Texte des Neuen Testaments ins Harmlose, ja ins Gegenteil verfälschten. Ein schlichter Christ – so EKD-Schneider – kann nicht einfach dem geschriebenen Buchstaben des Textes folgen. Er muss sich den Verdrehungskünsten der Theologen und Priester beugen.

Über den Sinn des Textes bestimmte früher der Klerus, heute die Hermeneutik (= Auslegungskunst) im Dienste des Klerus. Der Papismus hat das lutherische Prinzip: das Wort, sie sollen lassen stahn, besiegt und die Deutungshoheit der geistlichen Elite über alle Kirchen hinweg installiert. Das einfache Schäfchen in der Herde traut seinen eigenen Lesefähigkeiten nicht (daher die Leseschwäche der Deutschen) und überlässt Lektüre und Deutung der Schrift gelehrten Brahmanen.

Es gibt nur eine einzige Lehre aus dem Holocaust: die Beziehung zwischen Deutschen und Juden muss der Devise folgen: Kritik ist die höchste Form der Liebe. Fast alle deutschen Tagesschreiber definieren sich als Philosemiten, die über Israel in schriller Form – schweigen.

Nichts Schrecklicheres für Kinder als Eltern, die nicht mit ihnen reden. Die grauenhafte und liebedienerische Stummheit ehemaliger Täter kann unmöglich ein Liebesdienst am Volk der Opfer sein. Es muss ein aufrechter Streit beginnen um alle Themen der Politik, um den Hass zwischen Judentum und Christentum. Nicht im Sinne theologischer Zänkereien. Sondern durch solidarische Kritik, die die Taten der Völker prüft.

Der echte Ring vermutlich ging verloren – nur im deklamatorischen Glaubensbekenntnis. Die Taten müssen beweisen, welcher Ring der beste ist. Jener, der Menschen und Völker zu verlässlichen Nachbarn werden lässt.