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Kauders Theo-Demokratie

Hello, Freunde Kauders,

in der WELT schrieb Volker Kauder einen Artikel, in dem er Deutschland auffordert, sich mehr auf das Christentum zu besinnen. „Deutschland braucht das Christentum“. (Volker Kauder in der WELT)

Kauder ist ein frommer Mann, verhehlt nicht seine Nähe zu den Evangelikalen – den schwäbischen Pietisten – und ist strikt dagegen, den Islam als gleichberechtigte Religion anzuerkennen. Bei schwierigen Entscheidungen sei er „dankbar für den Zugang zum Vater im Himmel“, betonte er in einem Interview, womit er zu erkennen gibt, dass er den Willen Gottes auf Erden vollstrecken will.

Was ist der Wille Gottes anderes als sein Interesse? Womit Gott & Kauder dem Bundestagspräsidenten Lammert widersprechen, dass der „Geist“ keine Interessen haben könne. Nur die schnöde Politik sündiger Menschen verfolge machtgestützte Begehrnisse.

Wie kommt die absurde Meinung zustande, Religion sei interesselos und schwebe himmelweit über den sündigen Wassern menschlicher Angelegenheiten?

Aus Tarn- und Machtgründen. Wenn Religion sich als rein jenseitsgerichteten Glauben definiert, kann sie ihre Interessen auf der Welt umso nachhaltiger der Welt aufprägen, je mehr sie diese offiziell verleugnet.

Die Definition der Erlöserreligion als machtfreies Credo immunisiert den Glauben, entzieht ihn dem irdischen Wettbewerb der Interessen und verleiht ihm die gottestrunkene Macht, seine Interessen als Geschehen ohne Erdenschwere zu verklären. Jede Kritik an ihrem politisch-christlichen Tun kann

die Religion mit Entrüstung zurückweisen: gäbe es in diesem Land keine Glaubensfreiheit mehr?

Es wäre eigenartig, einen omnipotenten Schöpfer und Regenten der Heilsgeschichte anzubeten – ohne dessen Zustimmung kein Härchen vom Kopfe seiner Gläubigen fällt –, seinen allmächtigen Willen auf Erden zu verbreiten und dennoch keine Machtinteressen auf Erden zu kennen. Was ist die Heilige Schrift anderes als die mit himmlischem Copyright versehene Interessenagenda eines deus omnipotens?

In den christlichen Parteien widersprechen sich die Brüder in Grundsatzfragen, was ihren alltäglichen Machtwillen aber nicht beeinträchtigen kann. Ohnehin entscheidet im Zweifelsfall die tiefgläubige Schwester Merkel.

Von weitem hat der studierte Jurist Kauder vom Artikel 4 des Grundgesetzes sagen hören, wonach die Freiheit des Glaubens unverletzlich sei. Gleichwohl behauptet er, die christliche Botschaft sei „die geistige Grundlage“ unserer Gesellschaft und ergo solle die Gesellschaft sich dieser Grundlage immer mehr vergewissern, also in ihr kollektives Gewissen aufnehmen – obgleich in Artikel 4 die Freiheit des Gewissens gewährleistet ist.

Gibt es ein kollektives Gewissen der Gesellschaft? Ist Gewissen nicht das Individuellste und Subjektivste jedes Menschen?

Wie lassen sich die Sätze vereinbaren: a) Deutschland ist kein christlicher Staat und b) die christliche Botschaft ist die Grundlage unserer Gesellschaft?

Wir dürfen uns freuen, dass Kauder den Widerspruch der Sätze erkannt hat. Doch wie gewonnen, so zerronnen. Es handelt sich nicht um einen handfesten Widerspruch, sondern nur um einen scheinbaren Widerspruch. Bei scheinbaren Widersprüchen muss man nicht auf den nicht existenten Widerspruch eingehen, man muss nur den Schein wegräumen, um die versteckte Vereinbarkeit der Sätze ans Licht zu bringen.

Mit Widersprüchen haben Christen keine Probleme. Ihr Glaube ist ein einziges System aus Widersprüchen, die sie locker nach dem tertullianischen Motto wegstecken: ich glaube, weil es widersprüchlich und absurd ist. Gäbe es doch nichts zu glauben, wenn alles allen einsehbar wäre.

Der Widerspruch ist gar der geheime Faszinationspunkt des Glaubens, der von platten Vernunftwahrheiten nicht befriedigt werden kann. Ihn gelüstet es nach Höherem. Das Höchste ist die Erkenntnis Gottes und Gott ist der Widerspruch in sich. Das macht ihn reizvoll und anziehend, besonders für Grübler wie Hegel und Schelling, schwäbischen Landsleuten des Sohnes donauschwäbischer Rückkehrer.

Hegel war süchtig nach Widersprüchen, die er mit geübtem dialektischem Gebiss knackte und in ein harmonisches Schwabenmüsli oder einen deutschen Einheitsbrei verwandelte. Ein wackerer Schwabe forcht sich nit vor simplen Widersprüchen. Das hat er mit Denkern und Dichtern der Konservativen Revolution gemein, jener Bewegung, die nach kleinem elitärem Zögern sich dem Führer anschlossen, der alle Widersprüche durch herrische Taten zu lösen gedachte.

„Für die „Konservative Revolution“ ist Logik „bloßes Werkzeug“, weshalb sie von Misstrauen erfüllt ist gegen jedes System, das nahtlos „aufgeht“. „Ein solch glattes Aufgehen ist für sie ein Zeichen, dass das Denken nicht mehr durch die Anstöße der Wirklichkeit vorangetrieben wird.

Es gehört zu den Prinzipien der Konservativen Revolution, dass die „Wirklichkeit sich im notwendig unvollkommenen, weil partikularen Denken bloß in Widersprüchen zu verfestigen vermöge.“ Ein logisch geglättetes Denken spiele sich nur in einem „wirklichkeitsentleerten Raum ab.“ (Zitiert nach A. Mohler „Die Konservative Revolution in Deutschland“)

Wie behebt nun unser wackerer Schwabe den scheinbaren Widerspruch?

„Schon mit dem Gottesbezug in der Präambel drückt unser Grundgesetz aus, dass jenseits des gesetzten Rechts die Menschen durch eine andere Instanz geleitet werden. Dietrich Bonhoeffer hat dies in seiner „Ethik“ einmal so formuliert, dass wir hier auf Erden immer nur die vorletzten Dinge regeln. Die letzten Dinge werden von Gott bestimmt. Mit dem Gottesbezug will sich das Grundgesetz klar absetzen von der Barbarei der Nationalsozialisten, die ein zutiefst menschenfeindliches und vollkommen gottloses Regime entfesselt hatten.“

Kauder bezieht sich auf die Präambel des Grundgesetzes, das er liest wie Gläubige die Schrift lesen. Interessant zu beobachten, dass christliche Juristen, die den sensus litteralis (die Buchstabentreue) bei der biblischen Schriftdeutung ablehnen, die juristischen Urdokumente der BRD behandeln wie pietistische Fundamentalisten ihre biblia sacra.

Wie denn nun kam der Gott in die Präambel? Durch Offenbarung? Durch erleuchtete Einsicht „unserer Verfassungsväter und -mütter“? Oder vielleicht durch Druck der alliierten Sieger, die eine Verbrechernation an die Ketten göttlicher Gebote legen wollten, nichtwissend oder nicht wissenwollend, dass die Verlierer ihre Verbrechen im Namen Gottes begingen?

Das hätte das Selbstbild von Gods own Country aufs Innerste erschüttert, wenn ausgerechnet das Volk der Völkerverbrechen denselben Gott angebetet hätte wie die glorreichen Befreier. Was nicht sein darf, kann nicht sein und also entschlossen sich die Sieger, die Blutströme des deutschen Christentums völlig zu ignorieren und die über Nacht schneeweiß gereinigte Frohe Botschaft den Deutschen als moralische Grundlage zu verordnen. Zudem wurden die Deutschen als neue Verbündete gegen die zu Feinden gewordenen Sowjetrussen dringend benötigt.

Um ein Volk von oben zu erziehen, umzuerziehen oder umzudressieren, zu Fleiß und Gehorsam anzuhalten und militärisch auszurichten: in dieser Disziplin hat sich das Christentum seit Konstantin unsterbliche Verdienste erworben.

Die alliierten Sieger wurden zum neuen Summepiscopus – der Einheit aus Fürst und Bischof –, dem die Deutschen problemlos folgten. Hatten sie doch seit dem Augsburger Religionsfrieden – wessen das Land, dessen die Religion –, in mannigfacher kollektiver Duckmäuserei gelernt, sich den wechselnden Glaubensbekenntnissen ihrer cäsaropapistischen Föderalfürsten widerspruchslos unterzuordnen.

Ab jetzt war das amerikanische Christentum die verbindliche Glaubensgrundlage. In vielen Punkten unterschied sich das amerikanische Christentum vom deutschen. Es gründete auf dem schweizerisch-holländisch-englischen Calvinismus und nicht auf dem Luthertum.

Nach Max Weber war der Calvinismus die moderne Quelle des Kapitalismus, einer Wirtschaftsweise, die seit der Bismarck‘schen Neugründung des Reiches im wilhelminischen Deutschland zwar wahre Triumphe feierte, im Volk und bei den Gelehrten aber seit den Tagen der Romantik gefühlsmäßig auf Ablehnung stieß.

Für Amerikaner lag der Beweis ihrer Erwähltheit im Reichtum und im technisch-militärischen Erfolg, für die seit Jahrhunderten armen und machtlosen Deutschen im Leid, in der Not und in der Armut.

Da die Heilige Schrift eine coincidentia oppositorum ist, kann jeder Interpret nach subjektiver Notwendigkeit seine Deutung in die Schriften hineindeuten, um sie anschließend wieder herauszudeuten. Wie bei Tintenkleckstests nach Rorschach kann jeder Deuter seine erwünschte Deutung in die uralten Texten projizieren.

Eine coincidentia oppositorum ist ein Zusammenfallen, eine Harmonie der Gegensätze. Das ist die Bibel nicht. Der Ausdruck des gelehrten Kardinals am Beginn der Neuzeit – Nikolaus von Kues – ist selbst ein Wunschprodukt. Wäre die Schrift wirklich harmonisierbar, hätten alle christlichen Kirchen, Sekten und Gruppen längst Frieden miteinander geschlossen und sich nicht gegenseitig erbittert mit Worten und Waffen bekämpft.

Die amerikanische Theologie liegt auf der Linie des mittelalterlichen Mönches Joachim di Fiore, der das Kommen des messianischen Endreiches auf Erden konstatierte, weshalb die Nachkommen der Pilgrim Fathers den Kontinent als neues Kanaan betrachteten. Das gefundene, selbst erarbeitete und von Gott geschenkte Paradies entsprach dem überaus stolzen Lebensgefühl der weißen Amerikaner, die die heidnische Urbevölkerung ohne mit der Wimper zu zucken, aus dem Weg geräumt und das fromme Imperium zur Weltmacht Nummer eins befördert hatten.

Da konnte das arme, ausgezehrte und gespaltene Deutschland lange nicht mithalten, weshalb die Deutschen ihren Gott als Retter aus der ewigen Not besangen. Aus tiefer Not schrei ich zu Dir, ach Gott, erhör mein Rufen: das war die geistliche Nationalhymne bis zum Anbruch des Bismarckreiches.

Der Gott der Präambel war nicht das Wunder einer Erleuchtung, auch nicht die erneute Fleischwerdung des Gottes in Paragrafen, sondern entsprach dem Willen der Alliierten und dem der deutschen Kirchen, die einen exzellenten Ausweg sahen, sich von allen Sünden der Vergangenheit reinzuwaschen und in der neuen NOT- und LEID-Republik ihre alte Rolle als obrigkeitliche Kirche zurückzuerobern. Gott ist in den Schwachen und Leidenden – mächtig.

Jetzt ist die Frage fällig: Um welchen Gott handelt es sich denn? Kennen Kauder & CDU nur einen Gott? Woher wissen sie, dass es der christliche ist? Die Präambel schweigt und zeigt sich gänzlich abgeneigt, nähere Auskunft zu geben.

Es gibt einen Gott der Natur, der Vernunft, einen rationalistischen, irrationalen, theistischen, deistischen, pantheistischen, Hegel‘schen, Kant‘schen, Schelling‘schen Gott, einen allmächtigen, ohnmächtigen, einen unbekannten, unerkennbaren, geoffenbarten oder anonymen Gott. Wen hätten‘s denn gern, Bruder Volker?

Doch mit solchen Kleinigkeiten halten sich gläubige Gottesbesitzer nicht auf. Hat Kauder eben noch die Glaubensfreiheit anerkannt – danke, Bruder Volker für diese Gnadengabe –, kennt er keine Probleme, das glaubensmäßig gespaltene Volk mit einem Streich in ein geschlossenes Glaubensgebilde zu verwandeln. „Die Menschen werden durch eine andere Instanz geleitet“, als sie vermutlich selber wissen.

Aus dem Motto der Nationalsozialisten „ein Volk, ein Reich, ein Führer“, macht Kauder „ein Volk, eine Gesellschaft, ein Glauben“. Auch hier könnte der Kirchenvater Tertullian eine Rolle spielen, der von der anima naturaliter christiana gesprochen hatte. Von Natur aus ist der Mensch Christ. Der nordafrikanische Eiferer hat die Kleinigkeit übersehen, dass das ganze übernatürliche Heilswerk überflüssig gewesen wäre, wenn seine Diagnose mit der Bibel übereingestimmt hätte, für die die Natur ein Revier des Teufels war.

Ist das ein demokratischer Akt Kauders, die ganze Gesellschaft ohne deren Befragen dem Heiligen Geist zu unterstellen? Wenn‘s ans Eingemachte geht, haben C-Politiker keinerlei Hemmungen, ihre zwangsbeglückende Kompetenz unter Beweis zu stellen. Nun sind wir alle, per ordre de Volker, zu Christen geworden und Merkels Vertrauter kann sich rühmen, der wiedergeborene Bonifatius, der Missionar der Deutschen zu sein.

Müsste Kauder sich jetzt nicht mit den Gehirnforschern streiten, die behaupten, der Mensch folge nicht seinem freien Willen (der ein reines Wunschprodukt sei), sondern seinen Synapsen oder ähnlichen unappetitlichen Innereien?

Nach Kauder werden die Menschen durch eine Instanz geleitet, die er – frei nach Bonhoeffer – das Letzte nennt. Irdische Dinge hingegen seien immer nur das Vorletzte. (Aha, Kauder hat aufmerksam den Predigten seines obersten Chefs und Seelenhirten Gauck gelauscht, der erst vor kurzem die Demokratie als Vorletztes abmeierte und seine private Ideologie als Allerletztes bezeichnet hatte.)

Wo stehen wir? Zu unserem Erstaunen und Entsetzen müssen wir das Ungeheure konstatieren, dass der freundliche und umgängliche Volker Kauder auf eigene Faust und im Alleingang einen Putsch durchgeführt hat, den wir dringend dem Verfassungsschutz anempfehlen müssen.

Kauder hat aus der Demokratie eine hintergründige Theokratie gemacht und alle deutschen BürgerInnen dem Regiment seines Gottes unterstellt. Das ist eine christliche Ajatollisierung der Deutschen auf hinterlistigem Weg, nein, im Schutz der öffentlichsten Öffentlichkeit. „Die letzten Dinge werden von Gott bestimmt.“

Bestimmt Kauder, dass des Volkes Dinge minderwertig sind und dass die Autonomie des Einzelnen – man könnte auch von seiner Würde sprechen – nur Lug und Trug sind?

Und in der Tat konstatiert Kauder, dass „der Mensch als Ebenbild Gottes“ nicht zur Disposition gestellt werden dürfe, „weil die Menschenwürde weder von der Gesellschaft noch der Politik, sondern von Gott komme.“

Damit hat Kauder alle Bemühungen der aufgeklärten Moderne, die Demokratie – gegen den blutigen Widerstand der Kirchen – als Stätte des würdigen Menschen einzurichten, mit einem Federstrich zunichte gemacht. Die Würde ist nicht das Werk des selbstbestimmten Menschen, sondern das willkürliche Geschenk der Kirche.

Hinter der biederen Maske des Demokraten lauert der Strahlenglanz des schwäbischen Pantokrators, der die Menschen erlöst – oder nach Belieben verwirft. Wir müssen nicht mehr ins Mittelalter zurückkehren, wir sind bereits angekommen im despotischen Regiment des Heiligen – das sich noch ein wenig verbirgt, bis seine offizielle Stunde schlagen wird.

Der deutsche Mensch weiß nicht, was gut ist für ihn, CDU-Obmann Kauder weiß es. Das ist die Vorbereitung eines faschistischen Staatsstreichs auf theoretischem Wege. Eine wahre Ausgießung des Heiligen Geistes mit totalitären Mitteln.

Es geht nicht nur um Delegitimierung der Demokratie im Ganzen, sondern um die Entmachtung des „gesetzten Rechts“ im Einzelnen. „Schon mit dem Gottesbezug in der Präambel drückt unser Grundgesetz aus, dass jenseits des gesetzten Rechts die Menschen durch eine andere Instanz geleitet werden.“

Der Gott der Präambel soll darauf hinweisen, dass alle folgenden Rechte und Gesetze unter Vorbehalt stehen, genau genommen gar nicht gelten. Die Menschen sollen sich nicht von geschriebenen Gesetzen leiten lassen, sondern von den ungeschriebenen der Religion. Das „gesatzte Recht“, das von Menschen bestimmte Recht, ist Makulatur, wenn es mit Gesetzen der Bibel kollidiert.

Das ist die Aufhebung unseres Rechtsstaates und die hintergründige Installierung eines Gottesrechts, einer christogenen Scharia. Kein Wunder, dass Kauder den Islam als gleichberechtigte Religion abweist. Zwei intolerante und alleinseligmachende Erlösungsreligionen können nebeneinander nicht existieren.

Mit Erleichterung lesen wir, dass Kauder mit Hilfe der Böckenförde-Doktrin in die Wertedebatte der Republik „nur bedingt eingreifen“ will. Damit sie nicht zum totalitären Staat entarte. Doch was heißt bedingt? Schließt das bedingte Gewalt ein? Dann wären wir bereits im bedingten Totalitarismus.

Warum brauchen wir denn die Böckenförde-Doktrin? Weil ungläubige Menschen keine Werte haben. Nur religiöse Menschen verfügen über einen verlässlichen Wertekonsens. Konsens deshalb, weil nur die Kirche fähig scheint, die Menschen zur gleichen Moral zu nötigen.

Wir sehen, was Kauder von Vernunft und autonomer Moral hält: nichts. Der Wertekonsens ist nötig, weil das Grundgesetz den Menschen Freiheit garantiert. Freiheit scheint für Kauder teuflische Anarchie zu sein, wenn sie nicht mit dem geistlichen Lasso christlicher Werte eingefangen wird. Freiheit ist eine gefährliche Angelegenheit, weshalb die Deutschen nie Freiheit aussprechen können ohne den Zusatz: aber in Bindung.

Die Freiheit will Kauder uns nicht nehmen, doch sie muss unbedingt gesittet-klerikal-böckenfördisch daherkommen. Sonst bricht gottloses Chaos aus. Überflüssig zu erwähnen, dass Kauder nicht die geringste Ahnung hat, woher die demokratischen Werte stammen. Nicht aus dem Neuen Testament, sondern aus der griechischen Philosophie.

Auf keinen Fall will CDU/CSU die „Bibel in praktische Politik umsetzen“. Sie wollen nur verhindern, dass die Macht der Kirchen in der Alltagspolitik der BRD an Einfluss abnimmt.

„Auch wenn es immer wieder behauptet wird: Als Union betreiben wir keine christliche Politik. CDU und CSU sind keine Parteien, die die Bibel in praktische Politik umsetzen. Dies ist nicht möglich. Wohl aber machen wir Politik auf der Grundlage des christlichen Menschenbildes. Dieses Menschenbild, das seit der Aufklärung vor allem den Einzelnen, jenseits des Kollektivs, kennt, gibt uns eine wertvolle Orientierung, die das Christentum auch heute für die Gesellschaft bieten soll und kann.“

Warum kann die Bibel nicht in praktische Politik übersetzt werden? Ist eine Politik „nach dem christlichen Menschenbild“ (welchem?) keine Konkretisierung biblischer Grundsätze?

Das Menschenbild ist so vage und verschwommen, dass alle Alltagstorheiten christlichsten Durchwurstelns darunter verstanden werden können. Was Kauder meint, ist die Lizenz zur geistlichen Antinomie: Gläubige sind voll des Heiligen Geistes und keinen konkreten Geboten mehr untertan. Wie ihr Gott und Herr stehen sie souverän über allen Verboten des Tötens, Folterns, Demütigens und sonstiger Liebestaten im Namen des Herrn der Heerscharen.

Der NS-Theologe Gogarten schrieb in den 30er Jahren: „Gottes Heiligkeit vernichtet. Nicht um zu vernichten, sondern um zum Leben zu erlösen. Wenn Gott uns lebendig machen will, so tötet er uns.“ Das also ist die Basis des christlichen Wertekonsenses.

In dieser Frage bezieht sich Kauder auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts:

„Das Bundesverfassungsgericht hat dies in einer Urteilsbegründung 1995 ganz anschaulich erläutert. Ein Staat, der die Religions- und Glaubensfreiheit umfassend gewährleiste und so dem Prinzip einer weltanschaulichen Neutralität verpflichtet sei, könne dennoch die kulturell vermittelten und verwurzelten Wertüberzeugungen „nicht abstreifen“. Auf ihnen beruhe mithin der gesellschaftliche Zusammenhalt. „Die auf christliche Traditionen zurückgehenden Denktraditionen, Sinnerfahrungen und Verhaltensmuster können dem Staat nicht gleichgültig sein.“ Nicht, weil sie christlich seien, sondern weil sie Werte begründen.“

Dem Bundesverfassungsgericht könnte es in der Tat einerlei sein, woher die Werte stammen, die unsere demokratische Gesellschaft stabilisieren können, wenn sie es nur täten. Sollte es christliche Werte geben, die dazu in der Lage sind: willkommen im Klub.

Doch sind sie es? Hat Karlsruhe die christlichen Werte auf ihre demokratische Konsistenz überprüft? Haben die obersten Richter die Heilsgeschichte studiert? Wissen sie, was Antinomie ist? Haben sie nicht nur Gutachten von Rechtgläubigen, sondern von Religionskritikern wie Nietzsche eingeholt? Oder begnügten sie sich mit den Restbeständen ihrer Konfirmations- und Kommunionserkenntnisse?

Was Karlsruhe sich mit diesem Urteil erlaubte, ist fahrlässig und demokratiefeindlich. Nicht nur „der Staat“ (den es in einer Volksherrschaft nicht gibt) hat unabhängig zu sein von allen Religionen, sondern justament die ganze Dritte Gewalt. Unsere obersten Richter scheinen sich immer mehr zu einem patriarchalischen Presbyterverein zu entwickeln.

War der Nationalsozialismus – wie Kauder unterstellt – eine antichristliche Ideologie, wie alle Pfaffen und pfaffenkompatiblen Medien von den Dächern pfeifen?

Das ist ein eindrückliches Beispiel für kollektive Schwarmverblendung. Kurt Sontheimer, überzeugter Protestant, besaß noch die Lauterkeit, in seinem Buch „Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik“ den christogenen Kern des Führerkults herauszuarbeiten. In seinem Kapitel „Der Führer als völkischer Messias“ schreibt er:

„Hier stoßen wir auf den Kern des nationalistischen Führermythos: die Erwartung eines vom Himmel auserkorenen, mit besonderen Gnadengaben versehenen großen Menschen, der Deutschland aus seiner Not reißen und es wieder empor zum Licht und zu neuer Größe führen wird. Der Führer hat einen göttlichen Auftrag für die Nation, der Führergedanke erhielt eine messianische Prägung: der Führer wurde inbrünstig erwartet, alle Gedanken waren auf sein baldiges Kommen gerichtet, und immer wieder betrachtete man prüfend die politische Walstatt, ob nicht bald der angekündigte große Staatsmann zu sehen sei.“ „Ganz losgelöst von der Überzeugung seines Eigenwertes wird der Führer als Träger göttlicher Schicksals- und Gnadengewalt hervortreten, sobald die Stunde reift.“ „In unserem Elend sehnen wir uns nach dem Führer. Der Führer richte sich nicht nach der Masse, sondern nach seiner Sendung; er schmeichelt der Masse nicht; hart, gerade und rücksichtslos geht er ihr voran, in guten und bösen Tagen. Der Führer ist radikal; er ist ganz, was er ist und tut ganz, was er tun muss. Der Führer tut den Willen Gottes, den er in sich verkörpert. Gott schenk uns Führer und helfe uns zu wirklicher Gefolgschaft.“ „Der Führer kann nicht gemacht, kann in diesem Sinn auch nicht ausgelesen werden; der Führer macht sich selbst, indem er die Geschichte seines Volkes begreift, indem er sich als Führer weiß und will.“

Nach Worten des lutherischen Theologen Paul Althaus war der Siegeszug der NSDAP die Erfüllung des Willens Gottes.

Sontheimer – oder Kauder? Die Wahrheit oder die Lüge der CDU, der Intellektuellen, Juristen und Edelschreiber? Wenn der Gott in der Verfassung dazu dienen sollte, den Ungeist der NS-Schergen zu bannen, haben die Verfassungsväter den Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben.

Warum unterstützt Merkel Cameron? Nicht nur, weil der Brite den Neoliberalismus bevorzugt. Sondern weil auch Cameron zum christlichen Glauben regredieren will. UKIP, Camerons schärfster Wettbewerber in der Disziplin: Raus aus der EU, profiliert sich als betont christliche Truppe.

Warum haben Merkel und Cameron das autoritäre Orban-Regime noch nicht aus der Kohorte konservativer Parteien ausgeschlossen? Weil Orban seine Verfassung mit der christlichen Geschichte Ungarns schmückt.

Wenn Putin den Westen als antichristlich degenerierte Kultur verhöhnt und sein Riesenreich in den Cäsaropapismus zurückführen will, muss der Westen ihn beim Wettlauf zum Heiligen überholen.

Kauder hat den Ruf des Himmels vernommen und will die deutsche Gesellschaft dem Erlöser zuführen – wie einst in den glücklichen Tagen des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation.