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Kadavergehorsam

Hello, Freunde des Kadavergehorsams,

der VW-Betrug ist ein Glücksfall für Deutschland, nun kann sich das kadavergehorsame Land verändern. Wie viele Untertanen Winterkorns kannten das schmähliche Geheimnis der Lügenmaschine? Wie viele Lohnabhängige waren feige und stumme Mitläufer? Wie viele hielten sich an Luthers Untertänigkeitsgebot, seinen Nächsten und Vorgesetzten nicht afterredend zu verraten? Snowden könnte nie ein Deutscher sein.

Im Bereich der Lüfte und des jenseitigen Glaubens war Luther ein Whistleblower, im Reich irdischer Realpolitik ein blind Gehorchender: seid untertan der Obrigkeit, jede Obrigkeit ist von Gott. Am Stammtisch sind alle Deutschen unbeugsame Lutheraner, kaum erscheint eine Autorität (Vorgesetzter, Lehrer, Pfarrer, Bill Gates, Merkel), verstummen sie: hier steh ich, ich kann auch anders.

Gegen Gott & Co kann es nur Kadavergehorsam geben. Das Gebot bedingungsloser Untertänigkeit vereint alle christlichen Konfessionen. Rebellische Sekten waren bereits vom heidnischen Geist der Aufklärung infiziert. (Siehe Dilthey über Socinianer und Arminianer, Gesammelte Werke, Bd. 2)

Erstaunlich, dass Wiki-Artikel über Obrigkeit und Obrigkeitsstaat wenig über Luther und nichts über Paulus und Römer 13 zu sagen haben. Die Lügenmaschinerie der Heiligen läuft auf Hochtouren.

Winterkorn ist nur ein bedeutungsloses Rädchen, die ganze Nation hat offenbar noch nie von zivilem Ungehorsam gehört. Demokratie ist für Neugermanen ein undurchschaubares Räderwerk weit draußen in der Welt, kein Herzensbedürfnis in allen Lebenslagen. Maul aufreißen, Kritik üben an Oberen und Mächtigen, dem ganz normalen Wahnsinn Widerstand leisten? Nicht mit postlutherischen Anzugträgern, die sich kollektiv der Krawatte entledigt haben, weil sie so herrlich locker und

entspannt geworden sind.

Wer hierzulande mit Widerborstigkeit auffällt, ist ein Querulant. Die Medien, die schreibenden Kohorten des aufwärts gerichteten Schleims, sorgen mit gerümpfter Nase dafür, dass Wichtigtuer spurenfrei entsorgt werden. In Deutschland ist man entweder ein Held – wie Winterkorn für BILD –, oder ein Betriebsunfall des Schöpfers.

„Mit VW bin ich aufgewachsen.Eine Welt fliegt durch die Luft. Nichts, an was ich glaubte, hat Bestand. Alles, woran ich glaubte, zerbricht. Leider gibt es nicht die Ewigkeit des Glücks.

„Helden sterben nicht im Bett, sondern im Kampf.“ Schreibt Gabor Steingart, frühere SPIEGEL-Hoffnung, im HANDELSBLATT.

„Der Rücktritt von Martin Winterkorn ist konsequent und ungerecht. Ungerecht ist, dass sein höchstes Hoch – das Übertrumpfen von Toyota als größtem Autobauer der Welt – und sein Absturz so nah beieinanderliegen.“ (BILD.de)

Als im Verlauf der Neuzeit demokratisches Denken den europäischen Kontinent überzog, kam das lutherische Deutschland in die Bredouille. Doch zu früh gefreut, ihr Gleichheitsfanatiker und vorlauten Mitbestimmer! Im Mittelalter war die Obrigkeit in Kirche und Staat geteilt. In der Neuzeit verwandelte sich der augustinische Januskopf in den schwachen Staat und die auftrumpfende Wirtschaft, die bis heute unerbittlich miteinander konkurrieren.

Je demokratischer der Staat, je obrigkeitlicher der Kapitalismus. Ein moderner Betrieb ist die Despotie einer winzigen Minderheit, die mit vielen malochenden Untertanen für gottgewollten Profit sorgt. Die Ökonomie hat den Platz der triumphierenden Kirche eingenommen. Keine Rede, dass demokratische Verhältnisse den Westen erobert hätten. Solange die Macht der Ökonomie in den Händen weniger ruht, solange ist die Herrschaft des Volkes in der Gegenwart noch nicht angekommen.

Demokratie ist Teilung der Macht – auf allen Ebenen und in allen Institutionen. Gibt es ein einziges Gebilde, das too big to fail ist, kann von Volksherrschaft nicht mehr die Rede sein.

Wirtschaft und Kirche verwalten gemeinsam das Erbe der Unfehlbarkeit. Was beide nicht unter Kontrolle kriegen, schaffen die Medien, ihre treuen Hütehunde, die jeden niederbeißen, der sich Gottes Stellvertretern in den Weg stellt. Gegen das Trio infernale hat die Politik nur eine Chance, wenn sie sich ihm unterwirft.

Es gibt deutsche Katholiken, die sich als treue Demokraten geben – doch was den Papismus betrifft, akzeptieren sie vorbehaltlos den Totalitarismus eines Mannes, der sich als Stellvertreter Gottes ausgibt. Deutsches Spaltungsirresein.

Der jetzige Inhaber des päpstlichen Stuhles kostümiert sich als Wiedergänger des so vorbildlichen Franziskus von Assisi, der ob seiner Demut und Naturnähe über alle Maßen gepriesen wird. Doch der heilige Franz erlaubte sich nicht nur die Dreistigkeit, Natur zur erlösungsbedürftigen Kreatur zu erniedrigen und vollkommenen Naturwesen – Vögeln – Erlösung zu predigen, als kämen Fink und Star in die Hölle, wenn sie nicht Halleluja zwitscherten. Er verlangte – nicht anders als der berüchtigte Ignatius von Loyola – absoluten Kadavergehorsam von seinen mönchischen Nachläufern. Was macht der lockere Argentinier heute anders?

Zuerst der ekelfeste Ignatius:

„Wir sollen uns dessen bewusst sein, dass ein jeder von denen, die im Gehorsam leben, sich von der göttlichen Vorsehung mittels des Oberen führen und leiten lassen muss, als sei er ein toter Körper, der sich wohin auch immer bringen und auf welche Weise auch immer behandeln lässt, oder wie ein Stab eines alten Mannes, der dient, wo und wozu auch immer ihn der benutzen will.“

Nun sein mittelalterlicher Vorgänger im Geiste, der sich missionierend an der Natur verging und seine mönchischen Gefährten als lebende Leichname traktierte:

„Schon Franz von Assisi hatte die vollkommene und höchste Form des Gehorsams (perfecta et summa obedientia) gegenüber dem Vorgesetzten verglichen mit einem toten, entseelten Leib (corpus mortuum, corpus exanime), der sich ohne Widerstreben und ohne Murren hinbringen lässt, wo man will, auch auf ein Katheder gesetzt nicht nach oben blickt, sondern nach unten (d. h. nicht übermütig wird, sondern demütig bleibt).“

Selbst in den Augen von Adam Smith hat der arbeitsgeteilte Kapitalismus den Arbeiter nicht nur zum stumpfsinnigen und einfältigen Wesen gemacht. Er wird auch unfähig zu jeder „differenzierten Empfindung wie Selbstlosigkeit, Großmut oder Güte. Die wichtigen und weitreichenden Interessen seines Landes kann er überhaupt nicht beurteilen. In vielen Dingen des täglichen Lebens verliert er seine gesunde Urteilsfähigkeit. Dies ist die Lage, in welche die Schicht der Arbeiter, also die Masse des Volkes, in jeder entwickelten und zivilisierten Gesellschaft unweigerlich gerät, wenn der Staat nichts unternimmt, um sie zu verhindern.“ (Der Wohlstand der Nationen)

Kurz: der Kapitalismus macht fühlende und denkende Wesen zu toten Maschinen. England hat das größte Verdienst in der Entwicklung der heutigen Demokratie. Doch die Erfindung des Kapitalismus hat jene der Volksherrschaft erheblich dezimiert.

Luthers Lobpreisung der weltlichen Obrigkeit war gnadenlos:

„Wenn die Gewalt und das Schwert ein Gottesdienst ist, wie oben erwiesen ist, so muß auch das alles Gottesdienst sein, was der Gewalt nötig ist, um das Schwert zu führen. Es muß ja einer sein, der die Bösen fängt, verklagt, erwürgt und umbringt, die Guten schützt, entschuldigt, verteidigt und errettet. Darum, wenn sie es in der Absicht tun, daß sie nicht sich selbst drinnen suchen, sondern nur das Recht und die Gewalt handhaben helfen, womit die Bösen bezwungen werden, ists für sie ohne Gefahr, und sie könnens brauchen, wie ein anderer ein anderes Handwerk, und sich davon ernähren. Denn, wie gesagt ist, Liebe zum Nächsten achtet nicht ihr Eigenes, sieht auch nicht, wie groß oder gering, sondern wie nützlich und notwendig die Werke dem Nächsten oder der Gemeinde seien.

Die Bösen umbringen ist ein Werk der Nächstenliebe. Auf dem Humus dieser Agape, die vor nichts zurückschreckt, auch nicht vor der bestialischen Ermordung der Bösen, ist 500 Jahre nach dem Reformator das nächstenliebende Reich der NS-Schergen gewachsen. Wer Gott und seinen Eliten nicht gehorcht, ist tot.

„Wider die mörderischen und räuberischen Rotten der Bauern […] man soll sie zerschmeißen, würgen, stechen, heimlich und öffentlich, wer da kann, wie man einen tollen Hund erschlagen muss. Drum, lieben Herren, loset hie, rettet hie, helft hie! Erbarmet euch der armen Leute! Steche, schlahe, würge hie, wer da kann! Bleibst du druber tot, wohl dir! Seliglichern Tod kannst du nimmermehr uberkommen, denn du stirbst in Gehorsam göttlichs Worts und Befehls (Röm. am 13.) und im Dienst der Liebe, deinen Nähisten zu retten aus der Hellen und Teufels Banden.“

Den Urtext allen Kadavergehorsams wollen wir nicht übergehen. Welcher Christ liest schon seine Bibel? „Ich bin Christ“, bezeugte Roland Tichy in „Hart-aber-fair“, „doch den rechten Backen halte ich nicht hin“.

Wie kann jemand über sich behaupten, er sei Christ, wenn er von Christentum keine Ahnung hat? Ebenso könnte ein Sterbenskranker behaupten, er sei das blühende Leben. „Die numinose Berührung mit etwas“, gilt dem SPIEGEL schon als Definition des christlichen Glaubens.

Wenn Christentum alles sein kann, ist es nichts. Wenn jeder in wolkige Deutungen flüchtet, wird der Terror des Buchstabens verewigt. Wenn die Deutschen wahre Christen sein wollen, müssen sie ihre Schrift zur Kenntnis nehmen, um ihren politischen Kadavergehorsam zu verstehen:

„Wer sich nun der Obrigkeit widersetzt, der widerstrebt Gottes Ordnung; die aber widerstreben, werden über sich ein Urteil empfangen. Denn die Gewaltigen sind nicht den guten Werken, sondern den bösen zu fürchten. Willst du dich aber nicht fürchten vor der Obrigkeit, so tue Gutes, so wirst du Lob von ihr haben. Denn sie ist Gottes Dienerin dir zu gut. Tust du aber Böses, so fürchte dich; denn sie trägt das Schwert nicht umsonst; sie ist Gottes Dienerin, eine Rächerin zur Strafe über den, der Böses tut.“

Böse ist, wer sich den Anordnungen der Obrigkeit widersetzt. Das gilt auch für die ökonomische Obrigkeit. Winterkorn machte aus VW eine paulinische Gehorsamsmaschine. Das war nicht schwer: die Deutschen kennen ohnehin nichts anderes. Anpassen, Ducken, Wegschauen, Ignorieren: das sind deutsche Tugenden, die von der VW-Affäre an den Tag gebracht wurden.

„Wer nach unten treten will, muss sich treten lassen“: warum wohl hat Heinrich Mann den „Untertan“ geschrieben? Hat er das deutsche Wesen in einem Alptraum erfunden?

Dürfen Deutsche besten Gewissens die Welt belügen – weil es ihrem eigenen Nutzen dient? Du sollst nicht lügen, steht nicht im Dekalog. Dort steht: „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.“ Luther erklärt in seinem Großen Katechismus den kritik-allergischen Sinn dieser blinden Sicht des Nächsten, wozu die Obrigkeit allemal gehört.

„Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass wir unseren Nächsten nicht fälschlich belügen, verraten, afterreden oder bösen Leumund machen, sondern sollen ihn entschuldigen, Gutes von ihm reden und alles zum besten kehren.“

Das entspricht der alles zudeckenden Definition der hohen Liebe bei Paulus in 1. Kor. 13: „Die Liebe erträgt alles, sie hofft alles, sie duldet alles. Sie rechnet das Böse nicht an.

Kein VWler kennt diese Texte, doch er handelt instinktiv, als ob er sie kennte. Sie sind zur emotionalen DNA seines christlichen Unbewussten geworden. Das Böse seiner Vorgesetzten und Autoritäten darf sich kein Untertan bewusst machen und in der Öffentlichkeit anprangern. Das wäre afterreden. Luther begründet sein absolutes Gebot der Kritiklosigkeit mit Lukas 6, 37: „Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werden; verdammet nicht, so werdet ihr nicht verdammt.“

Warum ist das Wörtchen Kritik aus den Medien verschwunden? Schimpfen, rüffeln, anmotzen, ätzen, nörgeln, lästern, meckern, abwatschen: das sind die gängigen Umschreibungen für Kritik. Kritik selbst ist verboten. Noch immer verboten, denn kritisieren ist richten. Und wer richtet, kommt selbst ins Feuer.

Kritik an Amerika ist Antiamerikanismus, Kritik an Israel Antisemitismus, Kritik an Popen Blasphemie, Kritik am Heiligen Gotteslästerung, Kritik an den Vorgesetzten Querulantentum, Kritik am System die Vorstufe zum Terrorismus, Kritik an den Medien links- oder rechtsreaktionäre Hetze, Kritik an deutschen Verhältnissen Jammern auf hohem Niveau, Kritik an Merkel Mutterschändung.

Karrieristen pflegen nicht zu kritisieren. Doch jeder Deutsche sollte aufsteigen und zum Karrieristen werden. Wer kritisiert, will nichts werden – das ist Konsens in höheren Etagen. (Es trifft sich, dass sich mit Erzengel Gabriel und Angela zwei veritable Engel gefunden haben. Wer darf ein solch ätherisches Gespann mit schnöder Kritik beschmutzen?)

Wer heilige Kühe der Gesellschaft kritisiert, muss einen schlechten Charakter haben. Wer die Kleptokratie kritisiert, muss ein neidischer Loser sein. Wer die faschistische Fortschrittsideologie kritisiert, ein technikfeindlicher Verlierer der Moderne. Wer die Grenzen- und Maßlosigkeit des Futurismus kritisiert, muss ein Hinterwäldler sein, der mit keinem Handy umgehen kann. Wer Silicon Valley kritisiert, ist ein unkreativer, statischer Trottel. Wer die Naturschändung kritisiert, ist ein sentimentaler Naturschwärmer, wenn nicht ein ökologischer Faschist.

Der aufrechte Gang musste von Bloch erneut erfunden werden, weil er seit Kant begraben lag. Kant war kein Vorbild mutiger Kritik. Sonst hätte er nicht den zynischen Satz des Alten Fritz mit Beifall zitieren dürfen: „Räsoniert, so viel ihr wollt, nur gehorcht“. Beim Gehorchen fällt Räsonieren aus.

Goethe ließ Fichte im Stich, als der Brausekopf wegen Atheismus ins Gedränge kam und seinen Lehrstuhl in Jena verlor. Seine aufrechtesten Demokraten verlor Deutschland im Vormärz, weil sie alle ins Ausland flüchten mussten. Die neugermanische Obrigkeit hat diesen Substanzverlust bis heute nicht verkraftet.

Warum hatten die adligen Widerständler im Dritten Reich so viele Probleme, Hitler aus dem Weg zu räumen? Weil Römer 13 ihnen verbot, jegliche Obrigkeit anzugreifen – und sei sie noch so bösartig. Es gäbe keine Obrigkeit, die nicht von Gott wäre. Auch der Führer war ein legitimer Sohn der Vorsehung.

Die dritte Bitte des Vaterunser unterstreicht die absolute Unterwerfung unter den göttlichen Willen:

Dein Wille geschehe, wie im Himmel, also auch auf Erden.

Seine Frage, was ist das? beantwortet Luther mit den Worten: „Gottes guter gnädiger Wille geschieht wohl ohne unser Gebet, aber wir bitten in diesem Gebet, dass er auch bei uns geschehe.“

Interessant die Bemerkung, Gottes Wille geschehe auch ohne Gebet. Der Mensch kann tun und machen, was er will: Gelingen und Misslingen liegen allein bei Gott. Der Mensch kann sich die Seele aus dem Leibe arbeiten, nur Gott gibt das Gedeihen. Zwischen Handeln und Wirkung erzielen hat Gott eine absolute Kluft gelegt. Der Mensch hat keinerlei Einfluss auf das Geschehen auf Erden. Dennoch gilt für ihn das gehirnlose Gebot einer nichtsnutzigen Beschäftigungstherapie: wer nicht arbeiten will, der soll auch nichts essen.

Der Kadavergehorsam wird verschärft. Mensch, tu, was du willst, du hast doch keine Chance, dein Schicksal zu beeinflussen. Deine weltpolitische Wirkung ist gleich der Wirkung einer Leiche auf ihre Beerdigung.

Die FAZ macht sich über die Kategorie Whistleblower lustig. Wenn ein Preisträger für Zivilcourage ausgezeichnet werden soll, muss er für deutsche Untertanen ein homo perfectus sein. Hat er nur den geringsten Dreck am Stecken, ist er etwa ein Ehebrecher oder besitzt er kein ordentliches Diplom, muss er als Laureat ungeeignet sein. Nur ein Heiliger darf sich erkühnen, den Gang des Unerschrockenen zu zeigen. Merkel hingegen ist sakrosankt, weil sie allen Hohn und Spott der ersten Stunde ohne Kratzer überstanden hat. Sie ist unangreifbar, denn sie hat Erfolg. Nichts ist erfolgreicher und immunisierender als Erfolg.

„Wissenschaftliche Qualifikation ist nicht Voraussetzung, um den Whistleblower-Preis der Wissenschaftlervereinigung zu erhalten. Und was ihn weiß Gott zum Helden macht, wird in dem satirischen Höhepunkt der Preisbegründung gegen Ende dann auch sonnenklar: Mit der Preisvergabe, so heißt es, sei „erneut sichtbar geworden: Der Erhalt unserer Gesundheit ist von Whistleblowern abhängig.“ Merksatz also für den nächsten Hausarzttermin: Bitte eine Überweisung zum wohnortnahen Whistleblower.“ (FAZ.NET)

Ziviler Ungehorsam gilt als lächerlich in einem Land, das stolz ist auf den knorrigen Mönch, der dem Kaiser und deutschen Reich Widerstand bot. So schizophren ist die deutsche Physiognomie. Doch jener leistete auch keinen zivilen, sondern einen theologischen Ungehorsam.

Wer wissen möchte, was ziviler Ungehorsam ist, muss die staunenswerten Anfänge der amerikanischen Geschichte studieren.

„Ich finde, wir sollten erst Menschen sein, und danach Untertanen. Wenn aber das Gesetz so beschaffen ist, daß es notwendigerweise aus dir den Arm des Unrechts an einem anderen macht, dann sage ich, brich das Gesetz. Mach dein Leben zu einem Gegengewicht, um die Maschine aufzuhalten. Jedenfalls muß ich zusehen, daß ich mich nicht zu dem Unrecht hergebe, das ich verdamme.“

Diese Worte stammen von Henry David Thoreau (1817 bis 1862), einem Vorbild der Hippie- und Studentenbewegung.

Kadavergehorsam ist identisch mit dem Satz: Der Zweck heiligt die Mittel. Der Satz stammt nicht von Machiavelli. Der kaltblütige Italiener hat ihn nur ins Weltliche transformiert. Er entstammt der antinomischen Moral der Christen, die – formal – mit dem griechischen Naturrecht der Starken übereinstimmte. Wenn auch ohne Berufung auf Gott.

Thukydides, der griechische Historiker, auf den sich Machiavelli bezog, benötigte keinen Gott, um den Starken der Geschichte zuzubilligen, was die heutigen Neoliberalen – Freiheit nennen: die Freiheit, zu tun und zu lassen, was ihnen Profit und Macht einbringt, die Schwachen nach Lust und Laune zu überfahren und den Lohn ihrer Arbeit zu stehlen. Liberale Freiheit war keine Fähigkeit, seine Persönlichkeit weise und klug werden zu lassen, sondern – unbehindert von Staat und Gesellschaft – seinen Säckel zu füllen.

Ausgerechnet ein PR-Berater weist uns in der TAZ auf einen Weg, der aus dem VW-Debakel herausführen könnte:

Was muss sich grundsätzlich bei VW ändern, wird er von Anja Krüger gefragt.

Seine Antwort:

Die Vergötterung der Vorstände muss aufhören. VW muss einen Kulturwandel einleiten. Von den Manipulationen bei Abgastests sind weite Teile der Produktion betroffen. Dass so etwas möglich ist, hängt mit dem Gesamtkonstrukt von Volkswagen und der Haltung im Unternehmen zusammen. Die Vorstände werden von den Mitarbeitern als gottgleich gesehen. Die Vorstände müssen systematisch geerdet werden, indem sie zum Beispiel regelmäßig in der Kantine arbeiten. A priori ist jetzt keine Öffentlichkeitsarbeit gefragt, das wäre nicht glaubwürdig. Jetzt geht es um das Hinterfragen, wie solche Systeme entstehen können.“ (TAZ.de)

Mit Bedienen in der Kantine wird es nicht getan sein. Das Erden der Vorstände kann nur das antiautoritäre Werk mündiger Arbeiter und Angestellter sein. Ein Systemwandel ist die vollständige Veränderung deutscher Untertanen in gleichberechtigte Zeitgenossen. Ohne Entzauberung der Obrigkeit zu gewählten Volksvertretern wird dies nicht gelingen.

Weder durch Religion, noch durch Kapitalismus oder Marxismus kann der Mensch ein Mensch werden. Sondern nur durch zivile Courage, seine Meinung in allen Bereichen der Gesellschaft zu äußern und sein Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen.