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Armes Deutschland

Hello, Freunde des armen Deutschland,

„O armes Deutschland, wie kannst du es ertragen?“ (Heinrich Schacht, Die deutschen Auswanderer)

„Man braucht nicht einmal ein großer Mann zu sein, um das eigentümlich Großartige und doch Glücklose zu empfinden, das unserem Land eigen ist. Man liebt es wie eine Mutter und flieht vor ihm, wenn es seine unharmonischen Züge zeigt. Es läßt uns zwischen Stolz und Furcht schwanken, Zufriedenheit spendet es keinem, der nachdenkt. Niemand hat Glück mit Deutschland.“ (Friedrich Sieburg, 19. Juni 1952)

„Deutschland, Deutschland über alles,
Und im Unglück nun erst recht.
Nur im Unglück kann die Liebe
Zeigen, ob sie stark und echt
.“

Jetzt müssen wir stark sein, meine Geschwister. Zuerst die Griechen, dann die Flüchtlinge und jetzt V-Weh – um nur Kleinigkeiten zu nennen. Hat denn niemand Erbarmen mit dem armen, geplagten Deutschland – das sich redlich durch die Geschichte schlägt, trickst, lügt und betrügt? Ist denn das tüchtige Land nicht gezwungen, zu lügen und zu betrügen, wenn es von der ganzen Welt ob seines Wohlstandes beneidet wird? Bald müssen wir alle Flüchtlinge dieser Welt aufnehmen, um die neue Schande mit moralischen Glanzleistungen zu tilgen.

Auto-mobil klingt in deutschen Ohren wie Auto-nomie. Eine Maschine ist unser Selbst geworden. Nun ist die Maschine beschädigt und damit unser kollektives Selbst. VW ist mehr als Volkswagen, es ist Volks-Wohl, Wohlstand des Volkes. Geht es abwärts mit VW, geht es abwärts mit Deutschland. Oh, armes Deutschland, wie kannst du es ertragen?

„Scheitert VW, scheitert Deutschland“, klagt die linke TAZ, die Deutschlands Wohl und Wehe gleichsetzt mit Ökonomie oder dem Erfolg einer Maschine. Geht’s den Maschinen gut, geht’s dem Volk gut: „Was als Umweltskandal begann, hat längst

eine volkswirtschaftliche Dimension erreicht, deren Ausmaß noch nicht abzusehen ist. Der Skandal schädigt nicht nur andere Autokonzerne in Deutschland, sondern die gesamte Industrie. Der Ruf der stärksten Marke, die die Industrie hierzulande hat, ist angekratzt: Made in Germany.“ (TAZ.de)

Es ist der absolute Triumph der Maschine über den Menschen. Der Kampf begann mit der Erfindung der Hochkultur, die der Mann als Gesamtmaschine konstruierte. Arbeitsteilung war die Reduktion des Menschen auf ein Zahnrädchen, das reibungslos mit anderen Zahnrädchen funktionieren musste. Als die gesellschaftliche Gesamtmaschine auf die Produktion toter Dinge übertragen wurde, begann der Siegeszug des Kapitalismus.

„Die frühesten zusammengesetzten Maschinen bestanden nicht aus Holz oder Metall, sondern aus vergänglichen Menschen, wobei jeder eine bestimmte Funktion innerhalb eines größeren Mechanismus hatte, der zentraler menschlicher Leitung unterstand. Die riesige Armee aus Priestern, Wissenschaftlern, Ingenieuren, Architekten, Vorarbeitern und Tagelöhnern, die einige hunderttausend Mann zählte und die Große Pyramide baute, war die erste komplizierte Maschine; sie wurde erfunden, als die Technik selber erst ein paar einfache Maschinen, etwa die schiefe Ebene und den Schlitten geschaffen, aber noch keine Fahrzeuge auf Rädern erfunden hatte.“ (Lewis Mumford, Die Stadt, Bd.I)

Als Adam Smith die arbeitsgeteilte Stecknadelherstellung hymnisch beschrieb, hatte er den Grundstein für den modernen Kapitalismus gelegt: „Sobald aber die Teilung der Arbeit in einem Gewerbe möglich ist, führt sie zu einer entsprechenden Steigerung der Produktivität. Die Spezialisierung ist gewöhnlich in Ländern am weitesten fortgeschritten, die wirtschaftlich am höchsten entwickelt sind.“ (Der Wohlstand der Nationen)

An anderer Stelle kritisiert Smith in scharfen Worten die verstand-tötende Wirkung der Arbeitsteilung: „Jemand, der tagtäglich nur wenige einfache Handgriffe ausführt, hat keinerlei Gelegenheit, seinen Verstand zu üben. So wird es ganz natürlich, dass er verlernt, seinen Verstand zu gebrauchen, und so stumpfsinnig und einfältig wird, wie ein menschliches Wesen nur werden kann.“

Dieser elementare Widerspruch wurde von niemandem wahrgenommen und führte zu keiner Rebellion gegen die gehirntötende Wirkung der Arbeitsteilung. Im Gegenteil. Die nicht arbeitsgeteilten Herren des Kapitalismus wollten die Vertierung (Pardon, liebe Tiere) ihrer Abhängigen. So rechtfertigen sie ihre Ablehnung der „Pöbel-Demokratie“: wenn die Mehrheit des Volkes geistesabwesend ist, werden die Massen untauglich, die Probleme der Polis zu erkennen. Von der elitären Macht der Regierung müssen sie ausgeschlossen werden.

Jan Fleischhauer ist sich nicht zu schade, die ältesten Giftpfeile der Oligarchen gegen ein gleichberechtigtes Volk aus dem Köcher seiner hamburgischen Blasiertheit zu ziehen – und der SPIEGEL, das „Sturmgeschütz der Demokratie“, druckt die rechtsreaktionäre Philippika ohne mit der Wimper zu zucken. Unter der Überschrift „Weniger Demokratie wagen“ schreibt der, der viele Sätze geradeaus schreiben kann:

„Demokratie hat auch ihre Schattenseiten. Es reden zu viele Leute mit, die unqualifiziertes Zeug von sich geben. Es gilt heute als reaktionär, so etwas zu sagen. Für Menschen, die ihr Leben auf der Annahme aufgebaut haben, dass man mit der entsprechenden Zahl von Sozialarbeitern nahezu jedes Problem in den Griff bekommt, ist es bitter, wenn sie erkennen müssen, dass es einen Teil der Gesellschaft gibt, bei dem Hopfen und Malz verloren ist. Nur wer einen geraden Satz schreiben kann, hat Anspruch darauf, dass man sich mit ihm auseinandersetzt.“ (Jan Fleischhauer in SPIEGEL.de)

Das ist einer der übelsten Attacken der letzten Jahrzehnte gegen Demokratie – aus der honorigen Mitte der Gesellschaft. Vergesst Pegida, die AfD. Verglichen mit dem SPIEGEL sind sie Muster demokratischer Denkweisen. Wenn man – aus schnell vorübergehenden, modischen Gründen – Flüchtlinge und Fremde nicht mehr ablehnen darf, muss man die eigene Gesellschaft nach passenden Repressionsobjekten absuchen.

Oh Jan, könnte man nicht auch Winterkorn alle demokratischen Rechte entziehen? Immerhin durfte der VW-Chef eine ganze Weile die Welt übertölpeln und einrußen.

Wohin Fleischhauers Elitokratie führt, kann man in Platons idealem Staat nachlesen, der Lieblingsutopie deutscher Intelligenzler seit Jahrhunderten. Demnächst wird man einen Intelligenztest – oder eine Jauch‘sche Quizorgie absolvieren müssen, wenn man seine Stimme an der Wahlurne abgeben will. Mit Lichtgeschwindigkeit regredieren wir über Bismarcks Zensuswahlrecht zurück in den platonischen Beglückungsfaschismus.

Deutschland zerlegt sich in alle Einzelteile seiner biografischen Hauruck-Collagierungen. Grund zur Besorgnis? Ja, Regression kann gefährlich werden. Nein, denn nur so erfahren wir, was wir noch zu bearbeiten haben. Wahrheit tut weh, doch ohne Wahrheit geht nichts.

„Die Enthüllungen des Skandals treffen Winterkorn zur denkbar ungünstigsten Zeit“. So oder ähnlich schirmen deutsche Medien ihr Autoidol ab. Fast niemand fordert den Rücktritt des Patriarchen. Ist das Enthüllen von Lug und Trug zeitabhängig?

Da belügt einer die ganze Welt und muss nun tun, als hätte er über Nacht sein Gewissen entdeckt. Dabei wollten die deutschen Neoliberalen doch nur beweisen, dass sie beim Erlernen moralfreier Ökonomie weltmeisterliches Format gewonnen haben. Wenn Banker und Zocker die Weltwirtschaft zu Fall bringen dürfen, dann darf ein solider Schwabe die Welt allemal anschwindeln. Sind sie nicht in allen egoistischen Hinterfotzigkeiten anständig geblieben, die Söhne deutscher Väter?

Was ist der Unterschied zwischen Winterkorn und Merkel? Merkel hat sich bislang für nichts entschuldigt. Weder für ihre bisherige Antiasylpolitik, noch für ihre Blockade aller Hilfsmaßnahmen an Italien und Griechenland oder für ihre lächerliche Entwicklungshilfe. Von Waffenlieferungen für Despoten und anderen misanthropen Trivialitäten wollen wir schweigen.

Merkel müsste sich jeden Tag morgens, mittags und abends entschuldigen. Was tut sie stattdessen? Sie schweigt, bis sie die Schuld anderen unter die Weste jubeln kann, dann prescht sie aus dem Unterholz, um den Karren aus dem Dreck zu ziehen und sich als Lichtgestalt bejubeln zu lassen.

Winterkorn steht vor der Öffentlichkeit wie ein beim Onanieren ertappter Pietistenjüngling:

»Ich gebe Ihnen mein Wort, bei all dem werden wir mit der nötigen Transparenz und Offenheit vorgehen«, sagte Winterkorn. »Es tut mir unendlich leid, dass wir dieses Vertrauen enttäuscht haben. Ich entschuldige mich in aller Form bei unseren Kunden, bei den Behörden und der gesamten Öffentlichkeit für das Fehlverhalten. Die Unregelmäßigkeiten bei Dieselmotoren unseres Konzerns widersprechen allem, für was Volkswagen steht. Auch ich habe zum jetzigen Zeitpunkt nicht die Antworten auf alle Fragen. Wir klären das auf.«“ (SPIEGEL.de)

Ach, hätte er nur geschwiegen. Die öffentliche Beichte war ein Manifest kapitalistischer Imbezillität (= geistige Behinderung mittleren Grades, laut Duden). Wusste er nichts, muss er als Verantwortlicher zurücktreten, denn er müsste wissen. Wusste er, hätte er schon gestern zurücktreten müssen.

Unsere Demokratie funktioniert nicht mehr. Die antidemokratischen Betriebe wissen ohnehin nicht, was Verantwortung und Moral ist. Der VW-Skandal bringt es, in einer jämmerlichen Selbstentlarvung, an den Tag. Was wiegt das Wort eines Generalbetrügers? Warum soll man jemandem vertrauen, der das Vertrauen seiner Klientel schändlich missbrauchte?

„Wir haben es verbockt“, weiß der VW-Chef in den USA beizusteuern. Verbocken heißt technisch verpfuschen. Womit klar ist, dass Moral bei den Managern eine kalkulatorische Technik sein muss. Unmoralisch darf man sein, man darf sich nur nicht erwischen lassen. Das wäre ein kleiner „Managementfehler“!?!

In Kommentaren ist zu lesen, Winterkorn sei der Beste, der jetzt für Aufklärung sorgen könne. Das hieße, den Bock zum Gärtner machen. Hartz4-„Empfänger“ müssen für kleinste Sünden bluten, dreiste Verbrecher werden von staatstragenden Edelfedern mit Nachsicht und Milde bedacht.

Dass die deutsche Regierung von den VW-Betrügereien wusste, war den Medien keinen einzigen Kommentar wert. Wissen wir doch längst, dass Politiker und Schurken Synonyme sind.

Was fehlte? Der kritische Satz gegen VW-Kritiker: nun sei es aber genug mit Nachtreten. Sieht man denn nicht, dass der arme Winterkorn öffentlich in seinem Blute liegt?

Deutschland zerlegt sich. Bravissimo. Dann zeigt sich endlich, aus welchem Stoff das deutsche Humankapital zusammengestückelt ist. Die Krise schreitet voran und damit die Chance zur Umwälzung. Wir leben in spannenden Zeiten. Lasst uns einen heben, meine geduldigen Geschwister: mühsam, aber stetig lernt die Menschheit hinzu und heißa, wir lernen mit.

Zuerst wollten die Griechen an unsere Geldbörse. Jetzt kommen die Flüchtlinge, besetzen gleich unser ganzes Land, wollen unsere abendländische Religion verjagen, unsere billigen Arbeitsplätze antreten, die ohnehin niemand haben will – und nun?

„Die vielen Migranten, die zu uns kommen, stellen unser Lebensmodell in Frage. Der wahre Ausnahmezustand ist womöglich unser seliges Wohlstandsdasein gewesen. Mauern werden es nicht schützen können.“ Jammert die FAZ. Die schönsten Jahre der BRD sind dahin, die Flüchtlinge stoßen uns wieder in die Ödnis des Normalen. Das werden sie in absehbarer Zeit büßen müssen?

VW stürzt unser wirtschaftliches Wunderland in den Abgrund und liefert uns dem Hohngelächter der Welt aus.

Meister Gabriel flog – um Punkte gegen Merkel zu machen – extra nach Jordanien, um Flüchtlinge aus Betroffenheitsnähe zu sehen. Vor Ort verdrückte er kameragerecht ein Tränchen. Welche Erkenntnis bringt er mit? „Demut“ sei über ihn gekommen.

Was, zum Teufel, haben Flüchtlinge von Gabriels Demut? Außer Spesen und Symbolpolitik wieder nichts gewesen. Immer mehr versumpfen sie in folgenlosen Selbstbeweihräucherungen. Religiöse Gesinnungseitelkeiten, wohin das heidnische Auge blickt.

Nicht länger darf es heißen: glaube und liebe, dann tust du recht. Sondern tue das Rechte, dann hast du auch die rechte Gesinnung. Hasse die Menschheit, wenn du ihr nur hilfst, immer menschlicher zu werden. Tust du Sinnvolles, wird sich eine sinnvolle Gesinnung von selbst einstellen.

Um Europa auf die christliche Spur zurückzubringen, lud Pastor Gauck befreundete Staatsoberhäupter ein und erhob die Forderung, Agape zur europäischen Regierungsdoktrin zu erklären. Das war bereits das Europa-Ideal rückwärts gerichteter Romantiker, die sich vor allen anderen Nationen der mittelalterlichen Einheit Europas erinnerten. Nur eine Nation, die nicht so egoistisch ist wie andere, sei in der Lage, das Gefühl der Einheit wieder zu beleben:

„Wir erinnern uns mehr als andere Nationen an die ehemalige ursprüngliche Einheit Europas, und das aus sehr natürlichem Grunde; deutsche Völkerschaften waren ja die Wiederschöpfer und Stifter Europas; vielleicht, dass unserem Vaterlande, dem „Orient“ Europas, die schöne Bestimmung vorbehalten ist, das erloschene Gefühl der Einheit dieses Weltteils dereinst wieder zu erwecken, wenn eine egoistische Politik ihre Rolle ausgespielt haben wird. Eine Bürgschaft dafür liegt in dem Charakter der Deutschen, in ihrer strengeren Sittlichkeit und biederen Redlichkeit.“ (Schlegel)

Die höhere Sittlichkeit der Deutschen hatte einen pikanten Hintersinn. Von Novalis stammte die Bezeichnung Deutschlands als des „Orients“ von Europa, die fromme Zuversicht, dass die stille Bildung dieses Landes seinen Bewohnern im Laufe der Zeit notwendig ein Übergewicht über die anderen – durch Krieg, Spekulation und Parteigeist beschäftigten Nationen – geben müsse.

Die Deutschen wollten nichts weniger, als die anderen Nationen durch ihre überlegene Moral – besiegen. Diese Überlegenheit durch tätige Moral galt bis ins nationalsozialistische Reich der Schergen, das aus Moral unmoralisch werden musste, um die Welt vom Bösen zu befreien. Das besonders Moralische ihrer Unmoral sahen sie im Apokryphen ihrer „edlen“ Schreckensmoral. Sie wussten, die Welt würde sie nur nach dem Augenschein beurteilen und nicht nach ihren wahren und guten Motiven. Wie Judas Ischariot den Herrn aus Gehorsam gegen Gott verriet, so wurden die Deutschen zu Teufeln – aus Gehorsam gegen die göttliche Pflicht der Selektion in Spreu und Weizen.

„Von Euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1000 daliegen. Dies durchgehalten zu haben, und dabei – abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwächen – anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht und ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte.“ (Himmler)

Noch heute glauben die Deutschen, redlicher und sittlicher zu sein als ihre europäischen Konkurrenten. VW könnte diesem Bild einen tiefen Kratzer zufügen. Die neoliberalen Herren haben längst das Lager der „Altruisten“ verlassen und sind zum „unredlichen Egoismus“ der früheren Feinde übergelaufen.

Die staunenswerte Hilfswelle der Deutschen ist eine Eruption aus dem altruistischen Innern ihres kollektiven ES. Ob dieser Ausbruch sich zum bewussten demokratischen und antikapitalistischen Tun weiterentwickeln kann, müssen wir abwarten.

Was ist Moral? Taten, Taten, Taten ad infinitum. Eine Innerlichkeit, sie sich an ihrer unsichtbaren Schönheit und Heiligkeit ergötzt, hat mit rationaler Moral nichts zu tun.

Rechte und Linke misstrauen autonomer Moral. Die Rechten, weil sie abendländische Gesinnung vermissen; die Linken, weil sie jeder guten Tat misstrauen. Hinter der Tat könnte sich eine falsche Gesinnung verbergen. So gesehen, sind links und rechts tatsächlich identisch. Isolde Charim hat über linkes Misstrauen gegen Moral einen TAZ-Artikel geschrieben:

„Wenn Merkel die Grenzen für Flüchtlinge öffnet, dann kommt in linken Kreisen sofort die Frage auf: Warum? Warum macht sie das? Was steckt dahinter? Das ist keine wirkliche Frage, sondern ein Verdacht – ein Verdacht, der sich selbst begründet, noch ehe ihm ein Faktencheck nachgereicht wird. Die Grundhaltung lautet: Nichts ist, was es scheint. Es steckt immer etwas anderes dahinter. Und dieses andere ist immer negativ.“

Die Ideologiekritik der Linken habe sich – Charim zitiert einen Begriff von Thomas Edlinger – zum „Miserabilismus“ hochgeschaukelt und dämonisch potenziert. Der linke Dogmatismus ist hier trefflich wahrgenommen, doch seine Ursachen bleiben im Dunkeln. Der Marxismus hat die Religion kritisiert und ist doch Religion geblieben. Sei es in der Anbetung einer automatischen Heilsgeschichte, die der Mensch durch mäeutische Revolution nur wenig verkürzen könne. Sei es in der Zuschreibung der „Erbsünde“ an die Ausbeuter, die niemals das Reich der Freiheit gewinnen werden. Dass die Gegner der Linken – die Kapitalisten – erbsündig verkommen seien, nennt Edlinger Miserabilismus.

Kein Mensch ist fähig, Geschichte durch autonome Moral zu gestalten: das bleibt die felsenfeste Überzeugung postmarxistischer Linken. Hier verharren sie auf der unmündigen Stufe der Frommen.

Völlig unrealistisch, ein baldiges Ende des deutschen Tohuwabohus zu erwarten. Viel wahrscheinlicher, dass der gesamte Westen eine kathartische Phase in Irrungen und Wirrungen durchlaufen muss. Der Neoliberalismus ist eine Ideologie suizidaler Eigensucht.

Die Politik der nächsten Zukunft muss eine Epoche philosophischer Verständigung werden. Zwar kommen Taten aus Gedanken. Doch Gedanken dürfen nicht innerlich bleiben. In reifen Demokratien müssen sie sich äußern und auf dem Forum überprüfen lassen. Je widerspruchloser und heiterer die Gedanken, desto humaner die Taten.

„O ihr Guten! auch wir sind

Tatenarm und gedankenvoll!

Aber kommt, wie der Strahl aus dem Gewölke kommt,

Aus Gedanken vielleicht, geistig und reif die Tat?“

Unbedingt – wenn die Gedanken reif und lebensfreundlich sind.