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Tagesmail

Ist der Papst ein Christ?

Hello, Freunde des seligen Tratschens,

Tratsch und Klatsch ist der Kitt der Gesellschaft. In Umerziehungslagern, Trappistenklöstern, bei Isolierhaft und Gehirnwäsche mittels sensorischer Deprivation ist Reden und Schwatzen verboten.

Reizentzug ist eine der wirksamsten und grausamsten Foltermethoden. Gefangene in Guantanamo sieht man auf Fotos in orangefarbener Kleidung in kniender Position mit „Atemmaske, Augenbinde, Hörschutz, Handschuhen und gefesselten Händen und Füßen.“

Freie Gesellschaften sind Schwatzgesellschaften. In totalitären Gesellschaften brüten Redeverbot und Stummheit. Medien freier Gesellschaften müssen auch Organe des Schwatzens sein. Diese Rubrik nennen sie Boulevard oder Panorama. Allerdings traktieren sie Boulevard, als sei er Politik und Politik, als sei sie Entertainment.

Zensurloses Tratschen ist wie freischwebendes Assoziieren auf der Couch und dient der Lüftung der Seele. Tratschen ist Lästern wider die selbsternannten Götter der Gesellschaft, die Reichen, Tonangebenden und Mächtigen. Lästern ist Ventilieren von Gedanken und Gefühlen, die verboten sind und dennoch ans Licht drängen.

Tratschen ist freie Rede unter mittleren Feigheits- und Angstbedingungen. In angstfreien Gesellschaften wäre Tratschen überflüssig und würde zur öffentlichen Rede auf dem Forum – ohne Furcht

vor Sanktionen und Shitstorms.

Ruhe ist die erste Bürgerpflicht, ist das Auseinanderdividieren der BürgerInnen, um deren Solidarität durch emotionalen Gleichklang zu zerstören und Intelligenzbildung durch Streiten zu behindern. Sie sollen uneinig sein, sollen babylonisch unverständige Sprachen sprechen, sollen sich missverstehen, sollen sich fremd bleiben.

Selbst bei gleichen Sprachen soll es nichts Gemeinsames geben, keine gemeinsame Wahrheit, keine gemeinsame Wahrnehmung. Jeder soll mit sich allein sein. Junge Computer-Anachoreten sitzen wie Leibniz‘sche Monaden in einsamen Höhlen und können nicht mehr Guten Tag sagen.

Auf religiösen Gesellschaften lasten unendliche Ängste, einst von jedem gesprochenen Wort Verantwortung ablegen zu müssen. Gottes NSA sammelt alles Gesprochene in unverrottbaren Archiven. „Denn nach deinen Worten wirst du gerecht gesprochen werden und nach deinen Worten wirst du verurteilt werden.“

Doch kein Wort wird bestehen, wenn es nicht aus einem gottergebenen Herzen kommt: „Was aus dem Menschen herauskommt, das verunreinigt den Menschen. Denn von innen, aus dem Herzen der Menschen, kommen die bösen Gedanken, Unzucht, Diebstahl, Mord, Ehebruch, Habsucht, Bosheit, List, Ausschweifung, neidischer Blick, Lästerung, Hochmut, Narrheit. Alle diese bösen Dinge kommen von innen heraus und verunreinigen den Menschen.“

Eine aparte Form des Glaubens, sich als stinkenden Madensack zu betrachten. Schlimme Dinge und natürlich-harmlose und lustvolle: alles unisono in einen Sack stecken und dem Teufel übergeben. Das Schreckliche und das Natürliche auf einer Stufe der Diskriminierung. Wer zürnt und wer mordet, wer fühlt und wer tut: alles aus derselben satanischen Quelle.

Irrtümer und Fehler der Menschen werden benutzt, um das ganze Menschengeschlecht in Stücke zu hauen. „Ihr Nattergezücht, wie könnt ihr Gutes reden, da ihr doch böse seid? Der böse Mensch bringt aus seinem bösen Schatze Böses hervor.“

Auf welcher Stufe der Selbstverachtung muss die Menschheit gewesen sein, dass sie solch eine Religion der Selbstauslöschung als Ausdruck ihres Innersten akzeptieren konnte?

Der Papst scheint seinen Untergebenen nur Böses und Lästerliches zuzutrauen, dass er ihnen das Tratschen vermiesen und verbieten will. Wären seine Schäfchen wirklich im Glauben, müsste für sie nicht gelten: Wovon das Herz voll ist, des läuft der Mund über?

Als Vorbild des Glaubens empfiehlt er einen gewissen Josef, der seine Braut klaglos von einem Mächtigen schwängern lässt, sich dennoch um das ehebrecherische Weib kümmert – gehst du mit Gott fremd, bist du keine Sünderin, sondern eine Heilige – und dabei still an der Seite Mariens steht. Vor solch kadavergehorsamen Untertanen muss sich kein Tyrann fürchten. Revolution beginnt mit Lärm auf der Straße.

Doch seltsam, der Papst führt keine geistlichen Gründe an, um sein Verbot zu begründen, sondern – betriebswirtschaftliche:

„Auch wenn der Kirchenmann in seiner Rede empfahl, Tratsch „aus Gewissensgründen zu verweigern“, verwies er vor allem auf die ökonomischen Folgen, die zersetzendes Gerede haben kann, und schwor die Bediensteten der Kurie auf Fleiß und Effizienz ein. Wenn man sich nicht dem Dienst für den Papst und die Bischöfe, für die Weltkirche und die Teilkirchen verpflichtet fühle, werde aus der römischen Kurie ein „schwerfälliges Zollamt, eine bürokratische Untersuchungs- und Kontrolleinrichtung“.

Der klerikale Geschäftsführer des Weltgeistes und Kritiker des Kapitalismus will selbst einen kapitalistischen Konzern auf Vordermann bringen. Er will einen Konzern der Nächstenliebe. Auch er will die Besten. „In seiner Brandrede gegen die gemeine Geschwätzigkeit erklärte er auch: „Wenn die Professionalität fehlt, rutscht man langsam in den Bereich der Mittelmäßigkeit ab.“ Die Letzten werden die Ersten sein. Er will keine Letzten, weil sie Letzte sind, sondern weil sie die Ersten sein werden.

Was ist der Unterschied zwischen Clement und Franziskus, zwischen Sarrazin und dem geistlichen Vater? Sie lehnen die Majorität der Menschen ab und fischen nur nach Erwählten. Sie selektieren wie alle Scharfrichter. Sie lieben nicht die Menschheit, sie suchen nach denen, die zu ihrem Leistungscharisma passen. So werden die Letzten Erste und die Ersten Letzte sein.

Versteht sich, dass das beste Magazin am Platze, der erstklassige SPIEGEL, die Bestenselektion des Heiligen Stuhles rühmt und preist. Versteht sich, dass die Frage nach der Christlichkeit des christlichen Konzerns nicht gestellt werden darf. Antwort auf eine nicht gestellte Frage: der Vatikan ist so was von christlich. Nicht minder als Bill Gates und Warren Buffet, die Allerbesten dieser Welt. (DER SPIEGEL)

Folgt man dem Wirtschaftsredakteur Rüdiger Jungbluth von der ZEIT, verunglimpft der Papst das beste und humanste Wirtschaftssystem – von dem er nichts verstünde – als Ausgeburt des Teufels. Dabei sei er selbst ein Befürworter des Kapitalismus, ohne es zuzugeben:

„Tatsächlich befürwortet der Papst in seinem Schreiben zentrale Elemente des Kapitalismus. Er bekennt sich zum Privateigentum. Es sei dadurch gerechtfertigt, dass die Güter so besser gehütet und gemehrt werden könnten, was dem Gemeinwohl diene. Er würdigt den Unternehmer: Dessen Tätigkeit sei eine „edle Arbeit“, weil er die Güter mehre und so für alle zugänglicher mache. In einem Nebensatz vertritt der Papst sogar die Ansicht, dass ein „Wachstum an Gerechtigkeit“ ein Wachstum der Wirtschaft voraussetze.“

Das ist die altbekannte Art der Kirchenrede: mit gespaltener Zunge reden. Dann kann jeder hören, was er hören will.

Gläubige des Kapitalismus wie Jungbluth oder Rainer Hank von der FAZ kennen nur ein einziges alleinseligmachendes System und das ist der Kapitalismus. Sozialismus ist untergegangen, den Kommunismus gab‘s nie – also, worum geht’s?

Wer Privateigentum sagt, hat auch schon Finanzkapitalismus gesagt. Der gütige Patriarch, der Arbeitsplätze schafft und sich ums Gemeinwohl kümmert, ist dasselbe wie der Lebensmittelzocker, dessen Machenschaften Millionen in Armut stürzen. Es gibt nur noch ein System. Wirtschaft ist identisch mit Kapitalismus geworden.

Wozu sinnlos streiten, wenn’s nichts mehr zu streiten gibt? Smith ist wie Hayek, Milton Friedman wie Rüstow – den ohnehin kein deutscher Redakteur kennt. Die Not der einen hat mit dem Luxus der anderen nichts zu tun. Zwar gibt es nur ein System, was aber nicht bedeutet, dass dieses ein System ist. Mit Schlagwörtern wie „anthropologische Krise“ und ähnlichen Kropfgeburten hält sich der Autor gar nicht erst auf.

Was haben Börse und Geldumlaufgeschwindigkeit mit Philosophie zu tun? Hier geht’s um Evolution und nicht um Phraseologie. Eine gerechte Welt? Wäre eine ineffiziente, statische. Ungerechtigkeit und Ungleichheit sind die besten Motoren zum Wachstum. Die Forderung nach Uneigennützigkeit mag christlich sein (nein, christliche Uneigennützigkeit ist das Eigennützlichste der Welt), aber nicht realistisch. Was realistisch ist, ist vernünftig, ist moralisch? Herr Jungbluth weiß nicht einmal, dass er im Nebenberuf Hegelianer ist.

Der – falschen – Uneigennützigkeit des Papstes stellt Jungbluth das Prinzip der Gegenseitigkeit (Reziprozität) gegenüber. In der Wirklichkeit regiere das Prinzip der Reziprozität: „Ich gebe, damit du gibst, damit ich gebe. Die Wissenschaft hat zahlreiche Belege dafür, dass menschliche Solidarität ein zugleich eigennütziges Verhalten ist. Menschen helfen einander, weil sie wissen, dass sie auf Hilfe angewiesen sind. Altruismus ist evolutionär vorteilhaft. Die Stärke der menschlichen Art besteht in ihrer herausragenden Kooperationsfähigkeit.“

Wer hier nicht heult, heult nimmermehr. Wir leben im besten Wirtschaftssystem der Weltgeschichte, voller altruistisch-egoistischer Harmonie, Ausgeglichenheit, Solidarität, kooperativer Arbeitsteilung. Der Papst muss ein Alien sein, wenn er von dieser Welt nichts versteht. (Was nicht falsch sein muss.)

Der Kapitalismus habe die Zahl der Armen vermindert und nicht erhöht. Wer ist wirklich an der Armut in der Welt schuld? Die Kirche. „Eine Ursache der Überbevölkerung sind Geburten, die von den Eltern nicht gewollt sind. Und eines der größten Hindernisse dafür, dass Frauen, die keinen Kinderwunsch haben, Verhütungsmittel einsetzen, ist vielerorts die katholische Kirche. Darüber schreibt der Papst kein Wort.“

Der Papst ist also ein Heuchler, der alle Schuld auf andere schiebt – was auch nicht falsch sein muss. Dass aber ein ausgewachsener Ökonom die heutige Wirtschaft als die beste aller Welten, als kooperative, hilfreiche Tauschgesellschaft auf Gegenseitigkeit bewertet – da fragt man sich: von welchen Schwierigkeiten wird die Welt gebeutelt, wenn nicht von wirtschaftlichen?

Die ZEIT muss eine hohepriesterliche Bastion des Hegelianismus sein. Was wirklich ist, ist vernünftig, was vernünftig ist, ist wirklich. Verheerender kann Selbstverblendung nicht sein. Bei der ZEIT ist die Botschaft von der Menschwerdung des Karlchen Marx noch nicht eingetroffen. (Rüdiger Jungbluth in der ZEIT)

Ulrike Herrmann schaut sich den neuen Vater aller Christen genauer an als Rüdiger Jungbluth. Ob dessen Thesen christlich sind, untersucht sie aber auch nicht. Mit dem herrschenden Glaubensystem der Zeit lässt man sich hierzulande nicht ein. Der Papst ist der Vater aller Christen, also muss er christlich sein – was zu beweisen war.

Es sei ehrenwert, die Armut zu bekämpfen, doch ist es der Kapitalismus, der sie verursacht? Herrmann unterstellt dem Freund der Armen die besten Absichten, allein, seine Analysen und Alternativen seien ohne Substanz. „Die Sprache des Papstes ist zwar anklagend, aber wolkig. Es bleibt unklar, was sich eigentlich ändern soll. So ist nicht deutlich, ob der Papst den gesamten Kapitalismus kritisiert oder nur den Finanzkapitalismus, ob er beides für das Gleiche hält und wie er Marktwirtschaft und Kapitalismus unterscheidet. Der Papst interessiert sich zwar für Armut, aber offenbar nicht für wirtschaftliche Zusammenhänge.“  (Ulrike Herrmann in der TAZ)

Der Ton des Papstes klingt teilweise scharf und apodiktisch, als wolle er die ganze moderne Welt auf den Kopf stellen. Doch Entwarnung, der Papst ist kein Marxist. (Auch Marx war ein Bewunderer des bürgerlichen Kapitalismus.)

Nicht die Kirche hätte die Armen in Europa aus ihrer Armut geführt, sondern der Frühkapitalismus. Offenbar muss alles, was nicht moderner Luxus ist, Armut sein. Nur dann ist der Kapitalismus tatsächlich der Retter der Armen – abgesehen von der Petitesse, dass er selbst Armut in allergrößtem Maß durch Ungleichverteilung erzeugt.

Doch hier gilt, wie in allen buchhalterischen Tricks des Credos: Das Positive verschluckt alles Negative. Ein allgemein Positives könne es ohnehin nicht geben, denn dies wäre paradiesisch – und Paradiese sind nur für Erwählte jenseits von Raum und Zeit. Es gibt nur ein wirklich Allgemeines und das ist das unausrottbare Böse auf der Welt.

Keine Kritik des Papstes ohne einfühlsame Verteidigung des Oberhirten: „Es ist verständlich, dass der Papst als oberster Hirte einer buntscheckigen Globalgemeinde keine politischen Aussagen treffen will. Reiche wie Arme, Westeuropäer wie Lateinamerikaner, Konservative wie Progressive sollen sich vertreten fühlen. Also wählt Franziskus Worte, die zwar radikal klingen, aber allseits „anschlussfähig“ sind.“

Die Schwammigkeit des Papstes ist kein weltlicher PR-Trick, sondern eine Eigenschaft der Frohen Botschaft. Sie verspricht alles, ohne je widerlegt werden zu können. Denn die Erfüllung der Verheißung findet im Jenseits statt.

An die Substanz geht kein deutscher Redakteur. Spricht Franziskus zu recht für das Christentum? In beiden Artikeln wird er dargestellt, als sei er ein beliebiger Privatier, nicht aber der Repräsentant eines weltbeherrschenden Glaubens. Was hat er mit der Heiligen Schrift zu tun? Nicht mal die Frage darf gestellt werden. Dass er als Vertreter einer Religion die Welt in schärfstem Ton richtet, selbst aber keine Alternativen bietet – darüber kein Sterbenswörtchen.

Merkels Durchwursteln ist das genuine Durchwursteln der Kirche durch das Elend der Zeiten, bis der Messias kommt und den neuen Himmel, die neue Erde erschafft. Das erst wird die ultimative Lösung aller Probleme sein, die Erlösung. Und bis dahin müssen sich alle Menschen, auch die Erleuchteten, mit heiligem Improvisieren begnügen.

Das wollen die Medien nicht wahrhaben. Die Durchwurstler beschimpfen sie als lässige Hallodris, die großen Problemlöser als Populisten und Rattenfänger, die den Menschen einfache Lösungen versprächen. Diese Double-Bind-Wirrnis zwischen Regierung und Regierten ist christlichen Ursprungs und garantiert, dass die Menschheit mit Sicherheit zur Hölle fährt.

Welch prästabilierte Arbeitsteilung. Wirtschaftsredakteure verstehen nichts von Theologie, Kirchenredakteure nichts von Wirtschaft. So kann Glaube durch Welt nicht beschmutzt und Welt durch Glauben nicht verändert werden.

Deutsche können aufregende Debatten führen, ohne sich dem Thema unsittlich zu nähern.