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Historisierung

Hello, Freunde der Historisierung,

Okay, historisieren wir! Ihr wollt es ja nicht anders.

Wie wär‘s, wenn wir mit – dem Nationalsozialismus begönnen? Das klänge so: der Nationalsozialismus liegt weit zurück, so schlimm kann er gar nicht gewesen sein. Den muss man aus dem historischen Kontext verstehen. Wollte der die Menschheit nicht in ein glänzendes 1000-jähriges Reich führen?

Christentum. „Die christlichen Geschichten liegen so weit zurück, die können schon gar nicht mehr wahr sein.“ (Hegel)

Demokratie. Volksherrschaft ist perdu. Als nach zwei Weltkriegen die Völker auf dem Boden lagen, griffen sie aus verständlicher Schwäche – nach dem demokratischen Strohhalm. Das war gestern. Old school. Mit energischer Zukunftsplanung ist Pöbelmehrheit nicht mehr zu machen. Wir brauchen geniale Wissenschaftler, Erfinder und technische Visionäre, die uns den Weg nach vorne weisen. Oder robuste, umsichtige Diktatoren, die besser wissen, was labile Völker wollen, als diese selber. Schluss mit parlamentarischen Krücken und Kompromissen, die alle Entscheidungen verzögern und verwässern. Die Zeit der Demokratie – ohnehin längst überdehnt – ist abgelaufen. Friede ihrer Asche.

Moral. Wir leben im ständigen Umbruch. Also benötigen wir eine sich stets ändernde Moral. Die Moral der Kutschenzeit kann nicht die von Weltraumfahrern sein.

Edel sei der Mensch, hilfreich und gut? Blauäugigkeit derselben Feinde der Moderne, die noch an das Wahre, Gute und Schöne glauben. Wie es rückwärts gewandte Maschinenstürmer gibt, so vergangenheitsbesoffene Feinde des Neuen.

Wir brauchen eine sich ständig ändernde neue Welt, bestehend aus Neusprech, Neudeutung, Neudenk und Neuethos. Vergangenheit ist, was für immer tot und begraben ist. Der Mensch ist das sich stets neu erfindende Tier. Wodurch könnte er sich von Tieren unterscheiden, wenn nicht durch seinen kreativen Geist, der sich

permanent häutet, erneuert und wiedergebiert?

Wie es keine ewigen Wahrheiten gibt, so auch keine ewige Moral. Wir hasten von Augenblick zu Augenblick, hüpfen von Ast zu Ast. Jeder Augenblick ist eine neue Offenbarung. Alles hat seine Zeit, alles verändert sich – nur Veränderung, Fortschritt und Wirtschaftswachstum bleiben ewig gleich.

Menschenrechte. Was für Demokratie, gilt auch für den um sich greifenden Totalitarismus der Menschenrechte. Menschen mit übermäßigen Rechten sind überfordert. Das zeigt sich: schon Flüchtlinge in Deutschland bestehen frech auf ihren Rechten.

Für Erwachsene sind Menschenrechte, was Überbehütungen für verwöhnte Kinder sind: Helikoptermaßnahmen für eine verzärtelte Menschheit, die immer nur auf Rechte pocht, ihre zeitlosen Pflichten der Wohlstandsmehrung und Naturzerstörung aber ständig zu vergessen droht.

Der Mensch wird bleiben, was er immer war: ein träges, vergnügungssüchtiges und risikofeindliches Tier, das nur durch Fremdreize, Druck und Drohgebärden zu Höchstleistungen genötigt werden kann. Das Leben ist zu kurz, als dass man es – mit dem Leben verplemperte.

Der Mensch ist nur Mittel. Zweck ist die Maschine, die den Menschen überflüssig macht. Der Mensch ist zu dumm für den Menschen. Wie leiden die Heroen von Silicon Valley an Milliarden von Menschen, die ihren atemberaubenden Visionen intelligenzfrei gegenüber stehen. Ende der digitalen Durchsage.

Der Mensch ist nicht, er wird. Und wer nichts wird, wird Bahnhofswirt. „Klingeling, die Eisenbahn, wer wird mit in den Weltenraum fahrn? Alleine fahren mag ich nicht, drum nehm ich mir die – Angela mit.“ (Was ist das Gemeinsame von Menschenrechten und Merkel, nachdem ihr Stern zu sinken beginnt? Beide sind antastbar geworden.)

Was ist Historisierung?

„Eine Historisierung eines Begriffs liegt vor, wenn dieser in seiner Bedeutung nicht absolut genommen, sondern als sich entwickelnd verstanden wird. Als Historisierung von Werten bezeichnet man den Wandel gesellschaftlicher Wertvorstellungen oder deren Bedeutung. So kann man etwa von den Menschenrechten als einem modernen Phänomen mit dem Charakter einer Primärtugend sprechen, während etwa viele der preußischen Tugenden, wie Pflichtbewusstsein, Ordnung und Fleiß, nur noch als Sekundärtugenden gelten. In diesem Sinne bedeutet Historisierung immer auch Relativierung, was jedoch keineswegs mit einer Verharmlosung zu verwechseln ist. (Wiki)

Historisieren ist Relativieren? Relativismus ist die „Anschauung, dass es eine absolute Wahrheit für den Menschen nicht gibt“, so ein katholisches Lexikon. Für Gott und seine Stellvertreter natürlich schon – es sei, sie passen sich just wieder dem Zeitgeist an, wie der momentane Herrscher auf dem unfehlbaren Thron.

Ist etwas relativ, hängt es von einem anderen ab. Wenn moralische Werte relativ sind, hängen sie – von wem ab? Es wird immer geheimnisvoller. Hängen Werte nicht von Menschen ab? Wer bestimmt, dass Menschen sich – um des bloßen Ändern willens – ändern müssen? Sind eins und eins nicht auf ewig zwei? Ist der Mensch nicht in alle Ewigkeit liebesfähig und liebesbedürftig?

Soll Flüchtlingen heute geholfen werden, morgen aber sollen sie in ihre Zeltstädte zurückgejagt werden, weil irgendein Wichtigtuer wieder eine neue Moral erfunden hat? In prophetischer Selbstergriffenheit stehen sie vor der Kamera und erheben die Forderung: wir brauchen eine neue Ethik. Gelten UNO-Rechte nicht immer und ewig?

Warum sollen Deutsche ihre Vergangenheit bearbeiten, wenn sie den Holocaust historisierend längst relativiert haben? Alles war doch halb so schlimm, ihr Arier! Darf man nicht mit heutigen Maßstäben beurteilen. Muss man aus den Zeitläuften verstehen.

Was war noch mal Verstehen? Relativieren oder durch die Finger gucken! So schreiben die Edelschreiber. Also gucken sie bei den Völkerverbrechen ihrer Vorfahren durch die Finger?

Historisieren, gleich Relativieren, ist ergo das gedankliche Fundament des Antisemitismus. Gleichwohl erkühnt sich Wiki zu schreiben: Relativieren sei nicht zu verwechseln mit Verharmlosen. Dennoch verharmlosen sie und behaupten frech, sie würden nicht verharmlosen. Ist das Lüge, Verblendung, kollektiver Wahn – oder deutsche Dialektik?

Das Hauptwort zu historisieren ist Historismus.

Historismus bezeichnet eine im 19. und 20. Jahrhundert in Deutschland einflussreiche philosophische und geschichtswissenschaftliche Strömung. Sie hebt die Geschichtlichkeit des Menschen hervor, seine Verankerung in einer Tradition und das Bewusstsein, durch die Vergangenheit geprägt zu sein, und betrachtet jegliche Ideen und Institutionen wie Staat und Nation nicht als rationale Ergebnisse gesellschaftlicher Prozesse, sondern als organische, geschichtlich hervorgebrachte Wesenhaftigkeiten. Geschichte soll im Historismus nicht durch philosophische oder metaphysische Überbauten erklärt werden, stattdessen soll ein Verständnis für die Individualität der einzelnen Epochen und Geschehnisse entwickelt werden.“ (Wiki)

Das war – die Beschreibung der Deutschen Bewegung, jener Strömung seit der Romantik, die sich gegen die Rationalität der demokratischen Werte des Westens gerichtet und die Ideologie des 3. Reiches vorbereitet hat. Das Allgemeine der Gattung ist abgeschafft zugunsten des deutschen Besonderen.

Wenn in der heutigen Flüchtlingsdebatte die Leitkultur gefordert wird, verweist man zumeist auf das Grundgesetz – dessen Leitideen nicht auf deutschem Boden gewachsen sind, ja, von Deutschen lange Zeit vehement abgelehnt wurden. Kurz nach der Pflichtrede auf das Grundgesetz aber kommt die Rede flugs auf das geliebte Christentum. Das Grundgesetz soll als Frucht des Glaubens erscheinen, Demokratie als Geschenk des Herrn. So bei CDU-Spitzenfrau Julia Klöckner.

„Klöckner hetzt nicht, nein. Aber sie stellt diffuse Forderungen auf, die das Weltbild von Fremdenfeinden bequem unterfüttern. Sehr deutsche Forderungen sind das: die Flüchtlinge sollen „Integrationsverträge“ abschließen. Julia Klöckner spricht von „Spielregeln“, meint aber das verbriefte deutsche Misstrauen gegenüber dem Unbekannten.“

Einige Sätze später wird’s unverhohlen katholisch: „Ich bin jetzt emotional“, fährt sie fort, „aber wir Christen müssen uns fragen, ob wir für unseren Glauben einstehen. Haben Sie keine Angst! Die Bibel ist eine einzige Geschichte von Fluchterfahrungen.“ Das also ist es, was eine CDU-Spitzenpolitikerin ihren Wählern mitgibt. Fester glauben.“ (TAZ.de)

„Der Historismus geht auf die Romantik zurück, die das Interesse für volkstümliche Überlieferungen unterstützte und eine Gegenbewegung zum Rationalismus des 18. Jahrhunderts darstellte. Hierin ist der Historismus der Historischen Rechtsschule verwandt, wie sie von Savigny und Eichhorn gegründet wurde.“

Wenn diese Wiki-Artikel die durchschnittliche Qualität deutscher Lehrstühle repräsentieren, darf man sich über die brillante Leistung ihrer Dissertationen nicht wundern.

(Rechtzeitig zur bevorstehenden Abdankung der schmucken Verteidigungsministerin wegen akademischen Betrugs, wird ihr Vorgänger – auch wegen akademischen Betrugs davon gejagt – wieder aus dem Hut gezaubert. Eine sinnvolle Rotation bei spürbarem Personalverlust im Umkreis der zauberhaften Kanzlerin, die demnächst den Friedensnobelpreis oder Ban ki Moons UNO-Job ergattern will. Arbeitsagentur-Chef Weise soll bereits zwei wichtige Ämter in Personalunion übernehmen. In Merkels Team werden die Männer knapp. Woran das liegen mag? Näheres siehe unter lutherischer „Gottesanbeterin“.)

Die Aufklärer waren scharfe Kritiker der Vergangenheit – wenn sie nicht den Ansprüchen der Vernunft entsprach. Besonders der religiösen Vergangenheit. Den fromm gewordenen Kritikern der Aufklärer – den Romantikern – war diese Kritik zu einseitig und zu verständnislos. Also plädierten sie für Verstehen.

Verstehen ist Herleiten einer Sache aus Ursachen. Hat man die Ursachen eines Vorgangs frei gelegt, hat man verstanden.

Ist Verstehen identisch mit Beurteilen? Keineswegs.

Verstehen heißt nicht verzeihen. Da aber die Romantiker die Religion wieder rehabilitieren wollten, identifizierten sie verstehen mit verzeihen. Die Vergangenheit wurde abgesegnet, weil sie religiös war. Das fromme Mittelalter war für Novalis eine Vorform des Gartens Eden.

Indem sie verstanden, beurteilten sie. Daraus entwickelte sich der Grundsatz der Hermeneutik: was immer man verstehen kann, muss immer wahr und gut sein. Denn es ist von Gott. Offiziell redeten die Romantiker von Verstehen, untergründig aber meinten sie Bewerten und Absegnen. So wurde Verstehen fälschlicherweise zum Synonym für Nichtbeurteilen und führte zum romantischen Slogan: tout comprendre, c’est tout pardonner (Alles verstehen heißt alles verzeihen).

Noch heute können die Medien zwischen Verstehen und Bewerten nicht unterscheiden. Putin-Versteher sind für sie automatisch Verteidiger Putins. So intelligent geht es in deutschen Gazetten zu.

Wenn man einen Vorgang verstehen will, muss man sich in seine Geschichte vertiefen. Das entspricht dem therapeutischen Verständnis eines Patienten, dessen Biografie man rekonstruieren muss, wenn man ihn verstehen will. Dies meint die obige Rede von der „organischen Herleitung“.

Jede seelische Eigenschaft ist das Ergebnis bewusster, vor allem unbewusster Elemente. Dies ist der Sinn des obigen Satzes: „…betrachtet jegliche Ideen und Institutionen wie Staat und Nation nicht als rationale Ergebnisse gesellschaftlicher Prozesse, sondern als organische, geschichtlich hervorgebrachte Wesenhaftigkeiten.“

Dennoch geht der Satz in die Irre, wenn er sich berechtigt fühlt, das Rationale zugunsten des Organischen zu eliminieren. Die Deutsche Bewegung übertreibt eine Teilwahrheit und fegt in einem Schwung jegliche Rationalität vom Tisch. Der Mensch als Akteur der Geschichte folgt demnach nur noch organischen oder irrationalen Motiven. Das ist absurd. Jeder historische Vorgang ist eine komplizierte Mischung aus bewussten und unbewussten oder rationalen und irrationalen Elementen.

Für die Romantiker wurde der Mensch zum vernunftlosen, triebgesteuerten Wesen – oder zum Gläubigen. Der Glaube war kein Ergebnis rationalen Nachdenkens, sondern einer irrationalen Erleuchtung. Seit der Romantik ist Vernunft aus der Geschichte der Deutschen verschwunden. Mit der Vernunft verschwand das rationale Beurteilen.

Auch die herrschenden Gesetze wurden nicht aus der allgemeinen Vernunft abgeleitet, sondern aus der zufälligen Eigenart der Deutschen. Wenn ein Gesetz in der deutschen Geschichte nachweisbar war, musste es wahr und richtig sein, sonst hätte es in Deutschland nicht entstehen können (Historische Rechtsschule, Savigny). Hegel formulierte: was wirklich ist, ist vernünftig, was vernünftig, wirklich.

Zwei Vorgänge muss man streng unterscheiden: das Verstehen und das Bewerten des Verstandenen. Verstehen ist emotionales, empathisches Nachempfinden, Bewerten aber ein rationaler Vorgang. Ein Richter sollte eine Tat verstanden haben, bevor er sie mit Hilfe der Gesetze rational bewerten und beurteilen kann.

Moralisches Bewerten ist die Leistung des Menschen mit seiner gegenwärtigen Vernunft. Eine andere steht ihm nicht zur Verfügung. Bewerten darf kein Historisieren sein, denn der Bewertende muss nach seinen Kriterien urteilen. Die Normen der Beurteilung darf er sich von anderen nicht vorschreiben lassen. Sonst hätte er keine autonome Bewertungsleistung vollbracht.

Seine Normen darf er sich auch nicht von der Geschichte diktieren lassen. Sonst wäre er eine Marionette vergangener Normen, ein „Gipsabdruck“ von Toten, die noch heute die Gegenwart beeinflussen. Wer sich nach der Geschichte richtet, unterwirft sich anonymen Mächten. Er denkt nicht mit seinem eigenen Gehirn, sondern mit den Köpfen seiner Vorfahren.

„Der Historismus ist ein maßstabloses historisch-geschichtliches Denken, für das es nur noch Geschehen, Geschichte und Geschicke gibt. In Deutschland hat diesen Historismus vor allem Dilthey vertreten. Wir verstehen alles nur deshalb, weil wir selber nicht mehr wissen, was wahr und was falsch ist. Mit der Berufung auf die Geschichte als eine letzte Instanz, gegen die es keinen Einspruch gibt, wenn das Verstehen selber geschichtlich geschieht, hört die Frage nach dem entscheidenden Unterschied von wahr und falsch auf. Denn wie sollte man zwischen einem wahren und einem falschen Vorurteil unterscheiden können, wenn die Geschichtlichkeit selber der oberste Maßstab ist? Was in einer bestimmten Zeit an Lebenserfahrung und Weltansicht zum Ausdruck kam, ist – unter Voraussetzung eines historisierenden Denkens – prinzipiell gleich wahr, gleichrichtig und gleichberechtigt. Historismus ist der Glaube an die absolute Relevanz des Relativsten: der Geschichte. Der heutige Mensch, der im Horizont der Geschichte existiert, lebt nicht mehr im Umkreis der Natur.“ (Karl Löwith, Der Mensch inmitten der Geschichte)

Der historisierende Mensch hat nicht nur sein autonomes Denken an der Garderobe der Geschichte abgegeben, er lebt nur noch im Umkreis der Geschichte und entfremdet sich zusehends der Natur. Der gegenwärtige Verfall der Ökofrage hängt damit zusammen, dass man sich nur noch abhängig macht von der übermächtigen Geschichte. Weder das eigene Denken noch die geschichtsunabhängige Natur dürfen eine wesentliche Rolle spielen.

Kreuzzüge, Inquisition, Hexenprozesse kann man nur aus der Geschichte verstehen. Bewerten aber muss man sie mit seinem eigenen Kopf. Religiöse Geschichten kann man nur aus der Geschichte verstehen, bewerten aber muss man sie mit seiner eigenen Vernunft.

Wer sich zu einer Religion bekennt, gleichzeitig den Sinn des religiösen Buchstabens durch willkürliche Deutung ablehnt und verfälscht – mit der Begründung, anstößige Worte und Taten des Heiligen müsse man aus der Geschichte verstehen und dürfe sie nicht nach dem Buchstaben beurteilen – der hat seine kritische Denkfähigkeit verraten. Seine Deutung ist eine Kritik, die keine Kritik sein darf.

Das Historisieren wird zur Methode der intellektuellen Unredlichkeit. Indem man den Buchstaben deutend verwirft – und ihn dennoch eisenhart festhält, gibt man Buchstabenfundamentalisten die Legitimation, durch Berufung auf den Urtext heilige Verbrechen zu begehen.

Abdel-Samad hat den Islam scharf kritisiert, indem er den Urtext des Koran las, wie er buchstäblich vorliegt. Von Rezensenten wird er nun selbst kritisiert, die ihm mangelndes Historisieren vorwerfen. Er habe nicht verstanden, wie die anrüchigen Worte geschichtlich zustande gekommen seien, schreibt die TAZ:

„Nach der Aufzählung von zwei, drei Zweifeln an der Objektivität der Mohammedbiografen und Koranautoren wird munter jedes Wort der Schriften für bare Münze genommen. Was überrascht, wirft Abdel-Samad den Radikalen doch genau das vor: dass sie den Koran kein Stück historisieren und alles beim Wort nehmen.“ (TAZ.de)

Durch willkürliches Deuten mit der Methode des Historisierens haben die Deutschen ihr selbständiges Denken aufgegeben. Vor allem in religiösen Fragen. Sie unterstellen sich dem Glauben und Denken vergangener Jahrhunderte. Im selben Atemzug verwerfen sie alles Vergangene, in der trügerischen Illusion, sich täglich neu zu erfinden. Das Alte vergötzen und verdrängen heißt für sie: sie machen alles neu. Vergangenheit wird einerseits ausgeblendet, andererseits beherrscht sie diktatorisch den Zeitgenossen.

Verleugnend und historisierend liegt Vergangenheit als doppelte Last auf der deutschen Gegenwart. Expressives Reden über Zukunft ist wie das Reden von Blinden über Blumen und Farben.

Wer sich der Geschichte beugt, kann sie nicht verstehen. Wer sie nicht versteht, kann sie nicht beurteilen. Wer sie nicht verstehen und nicht beurteilen kann, hat seine Autonomie der Heilsgeschichte geopfert.