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Gärung

Hello, Freunde der Gärung,

ohne Gärung keine Veränderung. Die Zellen der westlichen Gesellschaft zersetzen sich von innen. Was zwanghaft zusammengewachsen war, obgleich es nie zusammengehörte, fällt auseinander.

Bedenkenlose Macht – und Moral: passen nicht zusammen, sie müssen auseinanderfallen. Naturzerstörender Fortschritt – und Erhaltung der Gattung: passen nicht zusammen, sie müssen auseinanderfallen. Menschenzerstörende Ökonomie – und Menschenrechte: passen nicht zusammen, sie müssen auseinanderfallen. Freiheit, Gleichheit, Geschwisterlichkeit – und Herrschaft der Reichen: passen nicht zusammen, sie müssen auseinanderfallen. Dominanz des als Schöpfer aus Nichts daherkommenden Mannes – und Gleichwertigkeit der Frau: passen nicht zusammen, sie müssen auseinanderfallen. Zerstörung des Planeten – und nachhaltige Zukunft für Kinder: passen nicht zusammen, sie müssen auseinanderfallen. Unterordnung unter Geschichte oder Heilsgeschichte – und Autonomie des Menschen: passen nicht zusammen, sie müssen auseinanderfallen. Rasende Widersprüche zwischen Tun – und Denken: passen nicht zusammen, sie müssen untergehen.

Eine Ahnung geht durch die Menschheit. Das Ende der doppelten Lebensführung könnte gekommen sei. Warum tun wir nicht, was wir sagen? Handeln wir nicht nach dem, was wir Kindern predigen? Warum sind wir gespalten, schizophren, heuchelnd, ambivalent und – böse? Warum sind wir stolz auf unsre Widersprüche, prahlen mit unserer doppelten Moral?

„Ich bin kein ausgeklügelt Buch,

Ich bin ein Mensch in seinem Widerspruch.“ (C F Meyer)

Noch immer plappern wir den Religionsstiftern hinterher: „Was ich will, das tue ich nicht, was ich aber nicht will, das tue ich.“ Das ist das Einfallstor der Heilande und Erlöser. Wie stolz wir sind auf das Elend unserer condition humaine, auf die Misere unserer Unverbesserlichkeit, die Sündhaftigkeit unserer Existenz, der wir nie

entkommen dürfen. Das Böse muss angeboren und radikal sein, darunter machen wir‘s nicht. Die menschliche Existenz muss ausweglos sein, darunter machen wir‘s nicht. Die Minderwertigkeit des Einzelnen muss trost- und hoffnungslos sein. In Untergang und Düsternis lassen wir uns von niemandem übertreffen.

„Der Mensch ist nur ein Schilfrohr, das schwächste der Natur, ein Dampf, ein Wassertropfen genügen, um ihn zu töten. Der Mensch ist weder Engel noch Tier, und das Unglück will es, dass, wer einen Engel aus ihm machen will, ein Tier aus ihm macht. Die Menschen sind so notwendig verrückt, dass Nicht-verrückt-Sein nur hieße, verrückt sein nach einer andern Art von Verrücktheit.“ Blaise Pascal, der Logiker unter den Frommen, ist wie berauscht von der menschlichen Niedrigkeit und Verkommenheit. Hätte er sonst glauben können?

Doch alle Teufelsmythen sind Ammenmärchen aus der PR-Hexenküche jener, die ihr Leben nicht selbständig leben können und sich ihren Mitmenschen als problemlösende Zauberer und Hexenmeister aufdrängen müssen.

Der Mensch ist ein komplettes Wesen – im Werden. Ein work in progress. Wie vieles hat er schon gelernt. Wie vieles wird er noch lernen. Trübsinn und Todessehnsucht sind Majestätsverbrechen am Leben.

Der Mensch hat Demokratie, Menschenrechte und immergültige moralische Werte entdeckt. Das war erst gestern – vor 2500 Jahren. Auf kleinen Inseln der Menschheit entwickelt, haben sich diese wunderbaren Ideen bei allen Menschen rund um den Globus herumgesprochen und eingenistet. Kein Mensch an irgendeinem Ende der Welt, der nicht Wert legte auf seine Freiheit und Selbstbestimmung. Kein Völkchen im Urwald, kein Dorf in der sibirischen Tundra, kein Eremit in der Uckermark, die nicht ungehindert ihre Meinungen äußern wollten. Das ist das Ideal.

Ein rechtes Ideal haben oder nicht haben, ist ein Unterschied wie zwischen Tag und Nacht. Wie rückwärtsgewandt und vernarrt in den Tod, das Ideal zu schelten und zu verwerfen. Da triumphieren jene, die die Schwäche der Menschen nutzen, um die Sündenkrüppel ihrer Fremdherrschaft zu unterwerfen.

Doch die Zukunft werden wir nur gewinnen, wenn wir eins mit uns werden. Man kann nicht ständig von Identität sprechen, ohne die Leitidee derselben – das Ideal – für erreichbar zu halten. Nein, perfekt ist niemand. Das Gegenteil aber noch weniger.

Noch ist der Mensch nicht fähig, seine vorausgeworfene Moral einzuholen und seine Normen mit Leben zu erfüllen. Doch in wenigen Jahrhunderten hat er schon so vieles gelernt: warum sollte er nicht noch lernen, mit sich in Einklang zu kommen? Wo – außer in menschenfeindlichen Offenbarungen – steht geschrieben, dass der Mensch sein Leben verfehlen muss?

Auch die Miserabilität des Menschen war nur ein „Ideal“, das sich der Mensch in mühsam erlernter Brutalität eintrainieren musste. Als der Mensch seine uralte Stammesmoral verlor, erwünschtes und unerwünschtes Verhalten ganz neu suchen und in bewusster Schärfe bestimmen musste, war er fasziniert von den guten – und bösen Perspektiven, die sich ihm eröffneten. Die folgenden Jahrhunderte gehörten der Selbsterfahrung der neu definierten Tugenden und Untugenden.

Wie verführerisch, Gott oder Teufel zu sein. Teufel hätte es nicht gegeben, wenn es Gott nicht gegeben hätte. Das Selbstverständliche, durch Reflexion in extrem Gutes und verwerflich Böses gespalten, machte sich auf die Suche, seine neue Erfahrung mit beiden Extremen zu erproben.

Kann es sein, dass die Epoche der extremen Selbsterfahrung heute vorüber geht?

Wir kennen zur Genüge das Gute und Böse in athletischer Spitzenleistung. Martin Luther King, Albert Schweitzer, Mahatma Gandhi, Gorbi und Mandela (vorbildliche Mütter und Frauen werden noch immer nicht in die Annalen der Geschichte vorgelassen): wir wissen, was das Gute sein kann. Hitler, Stalin und sonstige Despoten und Menschenschlächter: wir wissen, welche Dimensionen das Böse erreichen kann. Der Mensch ist nicht mehr das unbekannte Tier. Er ist das durch und durch bekannte gut-böse Doppelwesen.

Im Verlauf seiner Geschichte hat sich der Mensch entfaltet, er hat sich kenntlich gemacht. Nie hat er sich völlig neu erfunden, nie wird er sich gänzlich neu erfinden. Das Neue ist nur eine Fata Morgana, um den selbst-zufriedenen Menschen aus seiner Lebensfreude zu vertreiben und automatischen Geschichtsprozessen zu unterwerfen, die von selbsternannten Erwählten dominiert werden.

Lebensfreude ist weder fort- noch rückschrittlich, sondern präsentisch. Weder vergötzt sie Vergangenheit noch die Zukunft, sondern lebt mit allen Sinnen und wachem Verstand im erfüllten Jetzt. Sie langweilt sich nicht, wenn futurische Illusionen ebenso fehlen wie Verklärungen des Vergangenen.

Seine quälende Diskrepanz zwischen Norm und Realität beginnt der Mensch selbstkritisch wahrzunehmen und nicht länger als irreversibles Schicksal hinzunehmen. Das ist das Signum der revoltierenden Gärung rund um den Globus. Muss er sich wirklich damit abfinden, seine Identität – die Übereinstimmung zwischen Sollen und Sein – ewig zu verfehlen?

Nein. Wer von Menschenrechten spricht, wird ab jetzt beim Wort genommen. Das ist der geheime Motor der Flüchtlingsbewegungen. Früher hätten die Völker sich fatalistisch erobern oder ausrotten lassen. Inschallah, im Namen Gottes, Deus lo volt. Der Virus der Selbstbestimmung und des trotzigen Widerstands gegen alle Fremdbestimmung hat jetzt jene Völker erfasst, die jahrtausendelang zur duldsamen Ergebung erzogen worden waren.

Das ist das Erregende der neuen, vor uns liegenden Epoche: der Mensch will mit sich identisch werden. Die Furcht vor der Gottheit, die öden Rechtfertigungen eitler Schwächen: lasst fahren dahin, sie habens kein Gewinn, die Zuversicht in den Menschen muss uns doch bleiben. Das Wahre soll real und nicht länger als unerreichbares Ideal verhöhnt und abgeräumt werden. Ausgerechnet die „zurückgebliebenen“ Völker sind es, die den „fortschrittlichen“ Völkern ihre Rückständigkeit zurückspiegeln, wenn diese ihre Leitideen von Demokratie und Menschenrechten in die Welt posaunen, aber nicht in überprüfbare Wirklichkeit umzusetzen gedenken.

Die Flüchtlinge sind es, die die politisch ach so überlegenen Europäer beim Wort nehmen und sagen: nun zeigt, was ihr könnt. Seid ihr nur Heuchler, deren Worte und Taten nie übereinstimmen – oder wollt ihr die Kluft zwischen euren Edelphrasen und hässlichen Taten endlich zu schließen beginnen?

Die Schwachen erziehen die Starken, die Zurückgebliebenen sind die Fortgeschrittenen, die Opfer des Westens erheben sich zu Akteuren, die ihre imperialen Eroberer zur Eigentlichkeit und Wahrhaftigkeit aufrufen: werdet endlich, was ihr bislang nur demonstriert und deklamiert habt. Seid Menschen, die alle Mitmenschen auf Erden Menschen sein lassen.

Die ganze Welt ist ein Dorf? Kein Dorf kann sich maßlose Ungerechtigkeiten und hasserfüllte Verbrechen erlauben, wenn es nicht untergehen will.

Global denken, regional handeln. Die versprochene wirtschaftliche Einheit der Nationen war Lug und Trug. Unter dem Deckmantel gleicher Bedingungen saugten die ökonomisch Starken die Schwachen bis auf die Knochen aus. Sie nannten Entwicklungshilfe, was Bestechung der Eliten war, um Vorteile für die „Helfer“ herauszuholen und einheimische Produkte in den Boden zu stampfen. Sie nannten gleiche Bedingungen, was den Übermächtigen Tür und Tor öffneten, um die Ohnmächtigen an die Wand zu fahren.

Solange die Starken schwach waren, schützten sie sich mit Protektionsmaßnahmen. Als sie Weltmächte waren, traten sie den Schwachen die Türen ein, um sie im eigenen Land zu überfahren. Deren Bodenschätze wurden geraubt, deren Wirtschaft mit subventionierten Waren niedergewalzt, deren zaghafte demokratische Versuche als hybride Versuche lächerlich gemacht. Mit Despoten ist einfacher zu verhandeln als mit dezentralen Parlamenten und selbstbewussten BürgerInnen.

In seinem nicht genug zu rühmenden Buch „Reich und Arm“ schreibt der US-Ökonom Joseph Stiglitz: „Leider sind unsere Handelsabkommen so unausgewogen, dass sich die Effekte verschlimmern, die zu mehr Ungleichheit führen. Wenn in den wirtschaftlich starken Ländern höhere Löhne gefordert werden, kann der Arbeitgeber einfach damit drohen, die Fabrik ins Ausland zu verlagern, in dem Wissen, dass es keine Schranken für die Verlagerung seiner Firma gibt. Dies schwächt zweifellos die Löhne. Handelsabkommen schaffen mit hoher Wahrscheinlichkeit keine neuen Arbeitsplätze, ihre eigentlichen Auswirkungen liegen auf anderen Feldern. Einer dieser Effekte ist die Verschlimmerung der ohnehin schon hohen Ungleichheit innerhalb und zwischen den Staaten. Die neuen Handelsabkommen sind Ausweichmanöver von Konzerninteressen, um über die Abkommen ein regulatorisches Regime durchzusetzen, das sie unter den Bedingungen einer offenen demokratischen Debatte niemals durchsetzen könnten. Die Abkommen sollen Schutzgarantien unterlaufen, die in den letzten fünfzig Jahren eingeführt wurden. Zudem enthalten diese Handelsabkommen nachteilige Bestimmungen über geistiges Eigentum. Sie dienen nicht der Förderung des wissenschaftlichen Fortschritts. Vielmehr sollen sie die Kassen der Konzerne füllen, insbesondere in der Pharma- und der Unterhaltungsbranche. Tatsächlich ist zu befürchten, dass die gegenwärtigen Bestimmungen den wissenschaftlichen Fortschritt bremsen.“

Von geheimen Schiedsgerichten ganz zu schweigen, die die unabhängige Justiz der Staaten zur Makulatur erklären. Mit Handelsabkommen soll die bestehende Ungleichheit der Nationen noch ungleicher werden. Unter dem Deckmantel gleicher und fairer Bedingungen wächst die Kluft zwischen unterentwickelten und hochentwickelten Staaten ins Grenzenlose.

So werden potentielle Ströme von Flüchtenden geschaffen, die nur eines bestimmten Anlasses bedürfen, um ihre Kinder auf die Schultern zu nehmen und 1000e von Kilometern ins vermeintliche El Dorado der reichen Länder zu ziehen. Es sind nicht abstrakte Notleidende, denen wir zu helfen haben, es sind unsere Opfer in fernen Ländern, die unseren bigotten „Entwicklungshilfen“ und freien Handelsbedingungen die Quittung präsentieren.

Von den exportierten Kriegsursachen haben wir noch nicht gesprochen. In der gestrigen Jauch-Runde forderte der Musiker Grönemeyer die Urheber des Irakkrieges, Dabbelju Bush und Blair, vor den Gerichtshof in den Haag, worüber die FAZ heute sehr erbost war. Doch Grönemeyer wird von den US-Autoren Oliver Stone und Peter Kuznick in ihrer rabiat selbstkritischen Geschichte Amerikas – „Amerikas ungeschriebene Geschichte“ – bestätigt.

Unterstützt von einer obszön unkritischen Presse, die alle Lügenbeweise für angebliche Massenvernichtungswaffen Saddam Husseins für „unwiderlegbar“ hielt, konnten Bush und Blair ihren kriminellen Krieg beginnen.

„Die USA bewegten sich ohne Resolution des Weltsicherheitsrates unaufhaltsam auf den Krieg zu. In Wahrheit waren die Pläne der Regierung noch weitaus finsterer, denn der Irak war für Bush nur die Vorspeise. Für die Zeit nach dem Sieg hatten die Neokonservativen schon den Hauptgang ins Auge gefasst: Pentagon-Beamte sahen einen fünfjährigen Feldzug gegen insgesamt sieben Länder vor, erst gegen den Irak, dann gegen Syrien, den Libanon, Libyen, Somalia, den Sudan und als größten Happen den Iran. Dieser Krieg sollte die Welt nach den Wünschen der Neokonservativen umgestalten. Am 5. Januar 2003 titelte das Sonntags-Magazin der New York Times: »Das Amerikanische Imperium – gewöhnt euch daran.«“ (Aus: „Amerikas ungeschriebene Geschichte“)

Das waren zwei Beispiele für westliche Antagonismen zwischen Wort und Tat. Unter dem Vorzeichen altruistischer Demokratisierung wird die Welt mit Kriegen überzogen und erdrosselt. Wie kann man mit ferngelenkten Drohnen, todspeienden Flugzeugen und Hass gegen einen falschen Glauben demokratische Verhältnisse installieren?

Es gibt nur eine Methode, die Herrschaft der Gleichen und Freien angemessen weiterzugeben: mit dem Sog der eigenen Vorbildlichkeit. Demokratien kann man nicht aus dem Boden stampfen wie Militärlager und Raketenabschussbasen.

Seit ihren historischen Anfängen oszillieren die USA zwischen demokratisch beeindruckendem Furor und totalitärer christlicher Zwangsbeglückung. Seit Reagans Übergang zum Neoliberalismus hat der Glaube die amerikanische Demokratie überwältigt. Dennoch: es gibt eine beeindruckende oppositionelle Minderheit aus Whistleblowern und Intellektuellen, deren Aktionen, Bücher, Filme die deutsche Szenerie an Klarheit und Mut weit übertreffen.

Es gärt in der Welt. Die Zellen zerlegen sich. Was ist Gärung?

Nach einer älteren Definition die „erkennbare Veränderung biotischer (von Lebewesen gebildeter) Stoffe ohne Entstehung von Fäulnisgerüchen.“ Diese Definition ist nicht mehr brauchbar. Die Veränderung der Welt produziert Fäulnisgerüche. Es stinkt in der Welt. Die uralten verwesenden Stoffe der Religionen und bigotter Ideologien erzeugen einen impertinenten Gestank, der rund um den Globus zieht. Nur wenn zum Himmel stinkende Übel den Menschen die Sinne rauben, werden sie zur Gegenwehr schreiten.

Dies geschieht. In der größten geistlichen Despotie der Welt – der katholischen Kirche – zeigen sich klaffende Risse, die sich nicht mehr verheimlichen lassen. Während der Papst sich nach außen locker und undogmatisch zeigt, regiert er nach innen autokratisch und unduldsam. Eine Horde familienfeindlicher Popen will der Erde zeigen, dass „die Kirche mit der Familie beginnt“, wie ein Bischof kokett formulierte. Dann müsste die Kirche dort enden, wo die Familienlosigkeit beginnt: bei den Popen selbst.

Die bissigsten Kritiker Merkels sind ihre eigenen Leute aus CDU und CSU. In den meisten nationalen und internationalen Institutionen kommen die schärfsten Ankläger aus den eigenen Reihen.

Die neue deutsche Flüchtlingspolitik war nicht das primäre Werk Merkels, sondern die Wirkung einer phänomenalen Solidarität des Souveräns, der demokratischen Massen.

Merkel betreibt keine rational berechenbare Politik, sondern situationistische Bekehrungspolitik. Das macht sie unwiderstehlich. Für überraschende Wendungen im langweiligen Wirtschaftswachstums-Tremolo ist trefflich gesorgt. PR-Experten würden vom charismatischen Eventcharakter Merkel‘scher Schwärmereien sprechen. Mit überraschenden Erleuchtungen erweist sie sich als Magd Gottes, die jeden Tag wie frisch aus dem Ei gepellt vor ihren Fans erscheint, um ihnen zu geben, was sie dringend benötigen: Stabilität von Oben in labilen und unsicheren Zeiten.

Die Deutschen wollen keine säkulare Republik, sondern eine quasidemokratische Theokratie, die in Gottes Hand ruht. Die Trennung von Kirche und Staat wurde längst zur Mesalliance der beiden Partner, die schon lange in abendländischer Unzucht beieinander liegen.

Mit dem Satz: wir schaffen das, habe die Kanzlerin endlich einmal unmissverständlich Stellung bezogen, erklärte ein deutscher Tagesbeobachter im Internationalen Frühschoppen. (Der immer nur dann gesendet wird, wenn der Presseclub wichtigen Sportereignissen oder sonstigem Tand weichen muss. Das Internationale ist bei uns die Ausnahme, die die Regel des Nationalen bestätigen muss.) Nein, das Fremde ist bei uns gewöhnungsbedürftig.

Ich hab einen Fremden wohl bei mir,
Der lauert unten auf der Wacht,
Der bittet schön dich um Quartier,
Verschlafnes Kind, nimm dich in acht!“ (Eichendorff)

Welche Flüchtlinge stellen eigentlich das Grundgesetz in Frage, dass deutsche Politiker sich ständig genötigt fühlen, die „deutsche Leitkultur“ bombastisch zu verteidigen? Ja, was denn sonst? Deshalb kommen die Flüchtlinge doch nach Deutschland, weil sie den Schutz ihrer unantastbaren Menschenrechte suchen.

Natürlich wird es mit Flüchtlingen Probleme geben. Ohne sie aber wird es noch mehr geben. Gleichwohl kommen die Fremden nicht mit leeren Händen. Sie bringen menschliche Qualitäten mit, die die der Deutschen in Vielem überragen und die hiesige Gesellschaft bereichern werden. Georg Diez weist in seinem SPIEGEL-Kommentar auf die absurde Einseitigkeit der Integrationsforderung hin:

„Flüchtlinge und Deutsche wachsen nicht zusammen, was ja gegenseitige Veränderung bedeuten würde und gegenseitiges Vertrauen – Flüchtlinge müssen sich „integrieren“, ein Leerbegriff aus dem Satzbaukasten der Gesellschaftstechnokraten.“

Die Welt verdankt Athen die Demokratie. Doch jede Demokratie ist gefährdet, sie erfordert den ständigen Einsatz jedes einzelnen Demokraten. Welche Eigenschaften müssen einen Citoyen auszeichnen, um ihn zu einem förderlichen Mitglied der Polis zu machen?

Das war eine Grundfrage der griechischen Philosophie. Das ganze Lebenswerk des Sokrates war dieser Frage in Wort und Tat gewidmet. Seine Antwort, mit der er in den Tod ging: Man muss dem Gesetz – oder der Moral – mehr gehorchen als täglichen Machtinteressen lautstarker Mehrheiten oder elitärer Minderheiten. Die Regeln der Demokratie müssen sich an einer Moral messen lassen, die überprüfbar sein muss durch humane Logik einer generellen Vernunft.

Der sokratische Widerstand war keine Ablehnung der Demokratie, wie apolitische deutsche Gelehrte zu konstatieren pflegen. Im Gegenteil: Indem er mit seiner Gesprächskunst die Bürger zu aufrechten Demokraten verführen wollte, war er ein Fels in der Brandung gegen alle demokratiefeindlichen Umtriebe. Eine lebendige Demokratie lebt von Mitgliedern, die an ihrer demokratischen Weisheit und Unerschütterlichkeit täglich arbeiten.

Die Menschheit schickt sich an, die weltweite Einheit von politischem Tun und moralischem Reden einzufordern. Das wäre die Utopie der Identität, ohne die der homo sapiens keine Überlebenschance besitzt.