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Herrschaftsfreier Diskurs

Hello, Freunde des herrschaftsfreien Diskurses,

woran kann man bemerken, dass man mit bestimmten Menschen nicht reden kann? Daran, dass sie in störrischem Trotz, in depressiver Stummheit, in traumatischer Verstörtheit nicht reden können. Oder in wütender Enttäuschung, aggressiver Rachestimmung nicht reden wollen und einem die Faust vor die Nase halten: halts Maul und zieh Leine – oder es passiert was.

In welche Kategorie gehören die Pegadisten und ihre bundesweiten Ableger?

Mit welchen Leuten man reden kann oder nicht, ist aus der Entfernung nicht feststellbar. Man muss es probiert haben. Apriorische Menschenkenntnisse sind Vorurteile, echte Menschenkenntnisse beruhen auf Erfahrungen.

Wofür rächen sich die Aggressiven? Dafür, dass sie sich benachteiligt fühlen. Zu Recht? Wer bestimmt über das Recht eines Gefühls? Diejenigen, die sich benachteiligt – oder diejenigen, die sich angegriffen fühlen?

In Deutschland diejenigen, die sich angegriffen fühlen, weil sie den – unausgesprochenen – Vorwurf heraushören, sie hätten ihre Fürsorgepflicht vernachlässigt und diesen Vorwurf wollen sie nicht auf sich sitzen lassen. Sie, die als die Starken gelten, wollen ein reines Gewissen haben.

Was haben sie mit Menschen zu schaffen, die sie nie sahen? Sorgen sie nicht getreulich für die eigene Familie? Gehen sie nicht zuverlässig wie ein Uhrwerk zur täglichen Maloche? Zahlen sie nicht Steuern, um die viel zu vielen Parasiten durchzufüttern?

Diejenigen, die sich zu Unrecht angegriffen fühlen, gelten in Deutschland – ja, im ganzen kapitalistischen Westen – als die Erfolgreichen; die anderen, welche sie

mit unberechtigten und irrationalen Gefühlen behelligen, als Nieten und Versager.

Stehen die Gewinner des täglichen Überlebenskampfes in der Schuld der erfolglosen Verlierer? Nicht nach der Logik des Kapitalismus. Im Gegenteil: die tägliche Konkurrenz soll die gottgegebene – oder naturgegebene? – Ungleichheit der Menschen ans Tageslicht bringen.

(Um ihren Gott aus der Schusslinie zu ziehen, sprechen Gottgläubige gern von der Natur. Heidnische Natur muss für die Sünden des christlichen Gottes büßen.)

Die abendländische Schuldkultur ist bis zum Überdruss ausgereizt. Es könnte zu den hoffnungsvollsten Zeichen der Gegenwart gehören, wenn die Jahrtausende-Opfer schuldzuweisender, schuldverschreibender Priester nicht länger schuldig zu sein begehren und die klerikal verordneten Schuldenlasten energisch von ihren Schultern werfen wollen. Die gedemütigten Sündenkrüppel wollen endlich frei sein, ohne himmlisch verordnete Hypotheken ihr Leben in unbelasteter Autonomie gestalten. Die Erniedrigten erheben sich zum aufrechten Gang. Der Beginn der europäischen Freiheitsbewegung war zugleich der Beginn der europäischen Neuzeit.

Vergleichen wir Luther, den Deutschen, mit dem Franzosen Descartes. Beide wollten die Last der Vergangenheit abwerfen. Luther die Last der Popen, die sich zwischen den einzelnen Gläubigen und Gott stellten; Descartes den intellektuellen Wust scholastischer Worte-Verdreher und Begriffe-Verwirrer.

Luthers germanischer Aufschrei gegen den ausländischen Papst endete in vollständiger Unterwerfung unter die weltliche und göttliche Obrigkeit, niedergeschrieben in der unfehlbaren Heiligen Schrift. Zwei Schritte vor, drei zurück: das deutsche Fortschrittsprinzip beendete die vatikanische Reglementierung mit der totalen Reglementierung des göttlich gewollten Staates.

Die Revolution der Bauern wurde auf liebende Empfehlung des Reformators in Blutbädern erdrosselt. Der einzige, nennenswerte Versuch einer deutschen Revolution wurde lutherisch gepfählt und gehäutet. Alle folgenden Versuche standen unter dem Fluch der Obrigkeit, der kein Deutscher zu widerstehen wagte, wenn er sein ewiges Heil nicht gefährden wollte.

Viele Gründe, um Luthers Reformationsjubiläum in zwei Jahren unter den Augen von Gauck, Merkel und Göring-Eckardt mit himmlischen Drommeten zu feiern. Festredner mindestens ein Oldie der Dritten Gewalt, die sich hierzulande frömmer gibt als die Kirche. Wie wär‘s mit Udo di Fabio?

Descartes reinigte das erwachte neuzeitliche Individuum von allem intellektuellen Gerümpel des Mittelalters und traute sich, den Menschen auf sein rationales Ich zu gründen: Ich denke, also bin Ich. Wer nicht selbst denkt, ist nicht – oder kann nicht sein. Nicht-denkende Wesen können keine reifen und erwachsenen Menschen sein.

Gewiss, auch Descartes gelang es nicht, den Gott aus dem Ich zu entfernen. Doch DER musste Vernunft annehmen und sich der Raison des Menschen beugen: am Horizont zeigte sich die aufgehende Sonne der Aufklärung, die kaum anderthalb Jahrhunderte benötigte, um der göttlichen Obrigkeit in Versailles den Star zu stechen.

Nein, auch Frankreich ist nicht ideal, Ministerpräsident Manuel Valls sprach vom französischen Apartheidssystem. Nein, auch die Aufklärung hatte noch zu viele Elemente jener Heilsgeschichte in sich, die sie mit Verve bekämpfte.

Die unvollendete Aufklärung müssen wir weiter über sich selbst aufklären, sie von allen angsterfüllten Rückversicherungsresten, furchtsamen Demutsüberbleibseln und sich automatisch erfüllenden Zukunftsverheißungen tiefenreinigen.

Dennoch: bereits zu Beginn der Neuzeit entschieden sich die feurigen Gallier für den Voltaire‘schen Charlie Hebdo – ihre rechten Waldnachbarn hingegen gegen den hedonistischen und undeutschen Laizismus ihrer Nachbarn zur Linken.

Bei uns ist die Lästerung eines Nichts namens Gott das schlimmste aller Verbrechen. Der tägliche Angriff gegen Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit hingegen bleibt für die sanftmütige Hirtin der Deutschen ein Wort mit x: nix.

Die Deutschen lassen sich ihre demokratie-erhaltenden Werte von Gott persönlich liefern, den mündigen Menschen ihres Aufklärers Kant halten sie für eine mephistophelische Finte. Regelmäßig lassen sich die deutschen Schafe von ihrer betenden Obrigkeit absegnen, damit sie den erbarmungslosen wirtschaftlichen Wettkampf der Nationen mit Bravour bestehen. Der Gott der Deutschen ist Fleisch geworden, indem er sich ökonomisch qualifizierte und mammonistisch quantifizierte.

(Seine berühmte Montagsdebatte soll der SPIEGEL – nach geheimen Insiderberichten – durch eine ökumenische Morgenandacht ersetzt haben, damit das Magazin nicht als werte-loses Sondergut verende. Auf Antrag von Christiane Hoffmann und Augstein junior soll der SPIEGEL demnächst in ANTLITZ umbenannt werden. Gemäß 1.Kor. 13,12: „Denn wir sehen jetzt nur mittels eines SPIEGELs in rätselhafter Gestalt, dann aber von ANGESICHT zu ANGESICHT.)

Das Christentum ist eine Religion der Selektion: die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen. Auf soziologisch: die Priester erschufen – mit freundlicher Unterstützung des Adels – ein Zweiklassensystem. Oben die elitäre GROKO aus Adel & Popen, unten der unheilige Rest des Volkes oder die heidnische Masse des Populus. Versteht man allmählich, warum „Populismus“ zum Lieblingsschimpfwort derer wurde, die sich als Eliten gebärden?

Als die Macht der Kirchen durch den unermüdlichen Angriff der europäischen Aufklärer allmählich zurückging, verschwanden die zwei Klassen mitnichten. Sie wechselten nur ihr weltliches Kostüm. Dem Adel&Klerus entschlüpften die Kapitalisten, den davongejagten und enteigneten Bauern – die gottlosen Proleten.

Kam Prophete Marx – der sich irrtümlicherweise für einen Gottlosen hielt – und dozierte im Stil eines naturwissenschaftlichen Prognostikers, dass mit seiner bescheidenen Person die Parusie des Messias gekommen sei, um die Revolution am Ende aller Zeiten zu verkünden, wonach der Prolet „alle Verhältnisse umwerfen werde, in denen der Mensch ein erniedrigtes, geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.“

Luthers Donnerschläge an die Wittenberger Schlosskirche hatten Deutschland gespalten, Marxens Donnerschläge spalteten die Welt in das Reich der kapitalistischen Guten und das der sozialistischen Bösen. Natürlich mussten die Guten den Kampf um die Weltherrschaft gewinnen, schließlich sind sie die Erwählten der Heilsgeschichte. (War Gorbis Feuermal nicht das Brandzeichen des Satans?)

Für die stets arm- und zurückgebliebenen Deutschen war das Evangelium eine tröstliche Botschaft für die Armen. Für die reichen angelsächsischen Welteroberer war dieselbe Botschaft Verheißung und Aufruf, die vorherbestimmte Erwählung durch Zeichen des weltlichen Erfolgs zu verifizieren.

Wer hat Recht? Die deutschen Herz-Jesu-Marxisten oder die Neucalvinisten in Manchester und in der Wallstreet? Die letzteren.

Die Seligpreisung der Armen ist eine Selig-preisung, also ewige Seligkeit als Lohn des Glaubens. Eine Umwandlung der Welt durch „linke“ oder „revolutionäre“ Politik ist nirgendwo vorgesehen. Selbst Sklaven sollen Sklaven bleiben, denn morgen kommt der Herr, der alles umstülpen wird. Selig sind die Armen im Geiste, denn ihrer ist das Reich der Himmel. Vom irdischen Reich ist nirgendwo die Rede.

Im Jakobusbrief klingt‘s deutlicher: „Höret, meine geliebten Brüder (so viel zur Emanzipation der Frau im Christentum)! Hat nicht Gott die, welche vor der Welt arm sind, dazu erwählt, dass sie im Glauben reich seien, und Erben des Reichs, das er jenen verheißen hat, die ihn lieben?“.

Verheißungen beziehen sich immer auf den neuen Himmel und die neue Erde. Nicht die Armen an sich werden selig gesprochen, sondern die Armen im Geiste. Geist stand für den griechischen Geist des vernünftigen Erkennens. Nur wer seinen irdischen Verstand in der Sakristei zurückgab, war ein würdiger Kandidat des Jenseits. Soviel zu den Armen im Geiste.

Wie das Christentum die wirklichen Armen auf Erden beurteilte, zeigte die Dissertation eines englischen Theologen namens J. Townsend, den Marx persönlich zur Brust genommen hatte. In seiner Schrift „Über das Armenrecht, von einem Menschenfreund verfasst“ hatte Townsend geschrieben:

„Der Hunger ist nicht nur ein friedlicher, stiller, unablässiger Druck, sondern er ruft auch als natürlicher Antrieb zu Fleiß und Arbeit die mächtigsten Anstrengungen hervor. Es scheint ein Naturgesetz zu sein, dass die Armen immer in einem gewissen Grad leichtsinnig sind, sodass es immer jemand gibt, der die niedrigsten, schmutzigsten und gemeinsten Dienste in der Gemeinschaft leistet. Der Vorrat an menschlicher Glückseligkeit wird dadurch sehr vermehrt … Den mehr „Delikaten“ (den Kapitalisten) steht es frei, ohne Unterbrechung denjenigen Berufungen nachzugehen, die zu ihren verschiedenen Anlagen passen.“

Der „delikate Priestersykophant“, wie ihn Marx nennt, fügte hinzu, dass jedes Armenrecht, welches den Hungrigen helfe, „die Harmonie und Schönheit, die Symmetrie und Ordnung zu zerstören trachtet, die Gott und die Natur in der Welt errichtet haben.“ Alles hänge davon ab, wie Marx feststellte, dass man den Hunger in der Arbeiterklasse zu einer Dauererscheinung mache.

Den ökonomischen Pastor Malthus wollen wir nicht vergessen, der Armut für eine gottgewollte pädagogische Maßnahme hielt, um das Rammeln der Proleten wie die Karnickel (in der Sprache des heutigen Papstes, des Malthus der Gegenwart) zu zähmen. Man benötigt keine teuflischen Kondömli und Antibabypillen, um den Armen das Kinderzeugen theologisch korrekt zu vergällen: christliches Verhungern tut‘s auch.

Versteht sich, dass die fromm gewordene deutsche Proletenpartei SPD schon längst den Geist der Armutsverachtung übernommen hat und alle GenossInnen bestraft, die den Fehler begehen, das Karriere-Treppchen nach oben zu verschmähen und sich nicht als Gewinner des Darwin‘schen Überlebenskampfs zu erweisen. Die wahre Sicht auf die selbstverschuldete Armut der Loser hat Schröder passenderweise von seinem englischen Kollegen Blair übernommen. Und nun ratet, von wem die folgenden Zeilen stammen:

„Der Mangel an Vermögen, die Armut, erweckt an und für sich wenig Mitleid. Ihre Klagen pflegen nur allzu leicht eher Verachtung als Mitgefühl zu erwecken. Wir verachten den Bettler und mag uns seine Zudringlichkeit auch ein Almosen abnötigen, wir werden doch kaum jemals ein ernstliches Mitleid mit ihm fühlen. Dagegen wird der Sturz aus Reichtum in Armut, da er ja gewöhnlich auch für den, der dieses Schicksal erleidet, das größte Elend mit sich bringt, selten ermangeln, in dem Zuschauer tiefes und aufrichtiges Mitleid hervorzurufen.“

Verachtung für die Armen, Mitleid und Erbarmen für die Reichen, wenn sie ausnahmsweise abstürzen: das schrieb der ehrenwerte Begründer des Kapitalismus, der Schotte Adam Smith.

Inzwischen besitzt Warren Buffett mehr als ein Drittel der Weltbevölkerung und die EINPROZENT der weltweiten Milliardäre besitzt demnächst mehr als der Rest der globalen Versager zusammen. Gibt es einen sichtbareren Gottesbeweis als die immer größer werdende Kluft zwischen Erwählten und Verworfenen? Keine Magd Angela wird auch nur einen Finger rühren, um den Gottesbeweis zu verwässern oder gar zu widerlegen.

Wir sind noch immer bei den beiden Klassen des Kapitalismus, die sich unaufhörlich voneinander entfernen. Die Abgehängten wissen sich nicht anders zu helfen, als in Dresden und sonstwo auf die Straße zu gehen, um ihren Zorn und Unmut auf noch Schwächere zu werfen. Die Letzten beißen die Hunde, das sind die Flüchtlinge aus aller Welt, die es wagen, in einem der reichsten Länder der Welt Hilfe und Unterschlupf zu suchen.

(Wer allergisch gegen Verstehen des Verwerflichen ist, jetzt nicht mehr weiterlesen.)

Verstehen ist für Deutsche identisch mit Billigen. Wer Verständnis für Ehrenrühriges aufbringt, der muss ein Kollaborateur des Bösen sein. Dass man jemanden verstehen und ihm dennoch die Meinung geigen kann, ist für deutsche Parteipolitiker und schreibende Intelligenzler schlechthin verschlossen.

Es ist nicht einfach, seine Gefühle zu diagnostizieren, zumal in Deutschland Gefühle unterdrückt – oder heilig gesprochen werden. Die „dumpfen“ (Lieblingswort derer, die solche Dumpfbacken niedermachen) Pegida-Massen können es nicht. Die Eliten können es noch weniger. Die Gründe ihrer Verachtung der „Kruden und Dumpfen“ ist ihnen schlechthin unbekannt. Ihnen genügt es, sich als die sichtbarlich von Gott Erwählten zu fühlen, dann dürfen sie mit reinem Gewissen jene verachten, deren gerechter Lohn das höllische Feuer sein wird.

Es ist unsinnig, den Dresdner Dumpfbacken vorzuwerfen, ihnen ging‘s doch viel zu gut, um sich ausgebeutet und vernachlässigt zu fühlen. Oder sie würden kaum Muslime kennen, um das Recht zu haben, gegen jene zu hetzen.

Hier zeigt sich die unterirdische emotionale Verblödung der Deutschen, die unter Politik die absolute Abwesenheit alles „Psychischen“ verstehen. Politik hat für sie mit Seele nichts zu tun. Wobei sie an die unsterbliche Seele denken, nicht an das natürliche Gefühlszentrum jedes Menschen.

Kein Mensch fühlt für sich allein. Der Verworfenste noch hat Gerechtigkeitsgefühle und Empathie für seine Mitmenschen. Gerade seine Brutalität könnte ein – zwar falsch verstandener, aber – nachvollziehbarer Versuch sein, mit Gewaltmitteln die ungerechten Weltverhältnisse zu korrigieren.

Wer tut, als seien solche Gefühle extraterrestrisch, kennt weder den Kern seiner Erlösungsreligion, noch weiß er das Geringste über Faschismus und Totalitarismus. Woher kommen die muslimischen Terroristen in unserer Gesellschaft? Aus dem christlichen Humus derselben. Das Gefühl des eigenen Versagens verwandeln sie in den zornigen Willen, die ungerechte Benachteiligung aller Versager durch eine heldenhafte Gewalttat zu heilen.

Die brachiale Wut ihrer Zwangsbeglückung will die Schuldigen an der Misere vertilgen und die Unschuldigen retten. Totalitäres Auftrumpfen ist heilende Frömmigkeit in nuce. Für Anbeter Jesu, ihres Heilands, der am Kreuz keine Niederlage, sondern seinen größten Triumph erlebte, den Sieg über Tod und Teufel, müssen solche Erkenntnisse unzumutbar sein.

Jeder Mensch ist von jedem Menschen verstehbar und wenn nicht, sollte Mensch sich fragen, ob er sein Menschsein verschüttet hat.

Jan Fleischhauer, exzellenter Kenner der menschlichen Psyche, besonders der beschädigten, kann keine gesellschaftlich bedingten biografischen Ursachen im Lebenslauf der terroristischen Übeltäter erkennen:

„Der aufgeklärten Öffentlichkeit fällt es ungemein schwer, den Nihilismus des terroristischen Gewaltverbrechers als Erklärung zu akzeptieren. Deshalb flüchtet sie in Sozialpädagogik. Man stochert im Leben der Attentäter nach Hinweisen, warum sie ihr geordnetes Leben gegen den bewaffneten Kampf eingetauscht haben. Aber alles, was man in der Regel findet, sind Lebensläufe, die Tausenden anderen gleichen.“ (Jan Fleischhauer in SPIEGEL Online)

Oh Hamburger Anti-Freud: gleich scheinende Biografien sind noch lange keine gleichen. Individuum est ineffabile oder jeder Mensch ist eine Welt für sich, wie Freud-Konkurrent Adler (der psychologische Lehrer des jungen Popper) trefflich zu bemerken pflegte.

Der normale Mensch sieht, was vor Augen ist, doch Fleischhauer sieht das Herz an. Er muss Radaraugen für das Innerste der Menschen besitzen. Wo selbst er nichts sieht, kann es keine Gründe für das Bestialische geben.

Was bleibt dann zur Erklärung? Das Böse. Das Böse ist satanischen, also unerklärlichen Ursprungs. Mit dem Bösen hat sich der SPIEGEL aus seinem einstigen Revier der aufgeklärten Ratio verabschiedet und sich vollends der Magie des Erlösungsmythos hingegeben. Die Gnade des Herrn sei mit euch allen, ihr regredierten Hamburger, die ihr das Andenken eures Begründers systematisch schändet. Gottlob ist Rudolf A. tot, um eure Schandtaten nicht mehr zu sehen.

Fleischhauer ist sich einig mit fast allen Parteien: mit Bösen spricht man nicht. Man könnte sich ja durch Debattieren anstecken! Totschweigen ist die Maxime jener, die vermutlich oft genug über den „herrschaftsfreien Diskurs“ der Demokraten geschwallt haben. Offensichtlich diskurriert man in höheren Kreisen nur mit Gleich-oder Ähnlichgesinnten. Nicht mit dem Geschmeiß der Menschheit. Das Böse ist nicht satisfaktionsfähig.

Welche Partei sprach jahrzehntelang von der „Ausländerschwemme, Entspannungsillusionisten und „terroristenfreundlicher Sicherheitspolitik“? Die CSU und ein Großteil der CDU. Jetzt ist ihr Ungeist abgewandert ins empfängliche, aber kritiklose Volk. Der ideale Sündenbock ist aus dem Boden gestampft. Das Volk wird nun geprügelt für das, was Eliten seit Dekaden als fremdenfeindliche Politik exekutieren.

Mit dem Finger zeigen sie auf andere und schreien: Haltet den Dieb, um von ihrer eigenen Schuld abzulenken:

„Totschweigen. Volker Kauder hält das für das Beste. Der CDU/CSU-Fraktionschef verweist auf seine gute Erfahrung, Erfahrung übrigens aus dem Umgang mit jener Neuen Rechten, die bereits Strauß störte. Drei Legislaturperioden hätten die Republikaner im baden-württembergischen Landtag gesessen und nur, weil sich die CDU mit denen nicht abgab, seien sie dann irgendwann doch wieder rausgeflogen, meint Kauder, der damals Landesgeneralsekretär in Stuttgart war.“ Schrieb Wulf Schmiese in CICERO.

Demokratie lebt vom Streit auf der Agora. Das haben alle Parteien vergessen. Mit politisch Unkorrekten reden sie nicht, um durch verhöhnende Abgrenzung ihre eigene Überlegenheit zu glorifizieren. Das ist der fortschreitende Niedergang der deutschen Demokratie, in der die Mächtigen und Reichen sich in gated Communities, exklusiven Zirkeln ihrer Macht zurückziehen, um ihre elitären Wagenburgen hinter sich zu schließen.

Wenn man mit Bösewichten nicht mehr spricht, sollte man auch a) alle Gerichte schließen und b) alle Gefängnisse abreißen, denn dort wird mit dem kriminellen Abschaum gesprochen. Man sollte auch c) alle psychiatrischen Anstalten dem Erdboden gleichmachen, denn dort wird mit seelisch Kranken geredet.

Kann man mit Eliten, die ihre Gegner totschweigen, noch ein einziges sinnvolles Wörtchen reden? Vielleicht dies: habt ihr sie noch alle?

Die Schwächsten der Gesellschaft sind die Empfindsamsten, hatte noch Erich Fromm gewusst. Mit rüpelhaftem Verhalten spiegeln die Verlierer den Starken und Erfolgreichen die kränkenden Ungerechtigkeiten der Gesellschaft zurück. Nicht anders, als eine Krankheit dem Menschen in Symptomen zurückmeldet, dass er ein verborgenes Problem haben muss.

Wer Gesellschaft wie eine gefühllose Maschine traktiert, hat sich alles Psychische aus dem Herzen gerissen und einen maschinenförmigen Charakter angenommen. Wer sich diesem Roboterweg in die Zukunft verweigert, muss sich fragen, was in der Gesellschaft falsch gelaufen sein muss, dass „dumpfe und krude“ Elemente, die wie menschenähnliche Wesen aussehen, die Straßen der Republik unsicher machen.

Wenn die Deutschen sich nicht darauf besinnen, mitfühlende und mitleidende, gleichwohl kritische und klar sehende Menschen zu sein, müsste Silicon Valley keine Roboter mehr entwickeln. Die deutsche Gesellschaft wäre zur perfekten Roboterrepublik verkommen.

In seiner süditalienischen Festung ließ der mittelalterliche Kaiser Friedrich II. ein Experiment mit Neugeborenen durchführen, um zu erfahren, welche Sprache wohl die Ursprache der Menschheit sei. Die Babys würden, so seine Erwartung, ohne Beeinflussung ihrer Bezugspersonen die verlorene Ursprache von selbst entwickeln und zu Gehör bringen. Die Kleinen wurden bestens genährt und verpflegt, nur sprechen durften die WärterInnen kein einziges Wort mit ihnen.

Das Ende des grausamen Experiments: alle Kinder starben. Man hatte sie totgeschwiegen.