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Gigantomanie

Hello, Freunde der Gigantomanie,

nur was Wachstum fördert, macht Wirtschaft stabil. Sprach Ulrich Grillo, oberster Wachstumshüter der deutschen Industrie, in einer Talk-Show bei Maybrit Illner. (Der sportlichen Dame mit dem dramaturgisch eingesetzten Zeigefinger. Nur Gorbi hatte es gewagt, den Zeigefinger zu erhaschen, um nicht mimetisch an den Pranger gestellt zu werden.)

Niemand widersprach, auch Katja Kipping nicht, Chefin der Linken. Wachstumskritische Ökologen waren abwesend. Schließlich ging es um Wissenschaft, ja, um ökonomische Naturwissenschaft, nicht um moralische Träume.

In Deutschlands öffentlich genehmigten Talkrunden herrscht Disziplinzwang. Wirtschaft ist Wirtschaft und nicht Ökologie, auch nicht angewandte Moralphilosophie. Fragen aus anderen Disziplinen werden nicht zugelassen, jede Disziplin ist autark und ruht in sich selbst.

Sie können gern moralisieren, sprach der professorale Ökonom Sinn zu Katja Kipping, als sie gerechte Löhne forderte – aber bringen wird es nichts, (sagte er natürlich nicht, aber dachte es) –, denn Wirtschaft ist keine Unterabteilung moraltriefender talking sciences, die man am besten mit Schwätzerwissenschaften übersetzt. Wirtschaft ist eine Disziplin, in der Gesetze herrschen und

keine moralischen Wunschträume.

Sollte, was ziemlich unwahrscheinlich ist, auch einmal über Degrowth oder Decroissance (oft mit „Wachstumswende, Postwachstum oder Entwachstum“ übersetzt, doch wer wird solche Wörter in den Mund nehmen, ohne schamrot zu werden?) debattiert werden – wetten, dass weder Grillo noch Sinn anwesend sein werden?

Fachdisziplin nannte man früher Fachidiotie. Arbeitsteilung wurde zur Denkteilung. Schließlich kann niemand alle Disziplinen überblicken und kompetent vertreten. Schon hier beginnt das heimtückische Meucheln der Demokratie. In einer intakten Volksherrschaft müsste jeder Demokrat sich ein sachliches Urteil über das Ganze erarbeiten können.

Heimtückisch ist das Meucheln, denn es wird nicht offen ausgesprochen, dass Pöbelherrschaft überforderter Massen in ein Chaos führen muss. Eliten müssen führen, auch in Demokratien. Die Gegenwartsprobleme sind derart komplex, dass alle, die nicht an einer Elite-Uni studiert haben, überfordert sind.

Es ist leicht, über verhungernde Kinder in der Welt Jammergesänge anzustimmen – doch ungeheuer schwer, den wachsenden Reichtum von Milliardären zu sichern, die unter allergrößter Mühe einen karitativen Obolus an Hungerleider abzweigen können – gemeinnützig, um dem Staat nicht übermäßig Steuern in den Rachen zu werfen. Illner, mit einem hochrangigen Manager liiert, weiß, was potente Männer wünschen.

Kaum sinkt die deutsche Wirtschaft um ein Nichts, treten mediale Wind- und Wettermacher mit eintrainiertem Wehegeschrei in Aktion. „Wirtschaftswunder jäh am Ende. Schock. Angst an den Börsen. Bitteres Erwachen. Deutschlands Abschied von Jubelgesängen. Wir sind wieder in der Wirklichkeit angekommen.“

Woraus wir lernen: das Wunder muss Normalmaß in Deutschland sein. („Der Schiller und der Hegel, die sind bei uns die Regel“, sagen die bescheidenen Schwaben.) Alles, was einen Fingerbreit unterhalb des Wunders liegt, ist bei uns Untergang des Abendlands. Wunder dauern etwas länger, auf Wunsch wird gehext – liest man in hiesigen Amtsstuben.

Die Deutschen – wie ihre amerikanischen und israelischen Freunde – ertragen es nicht, Fabrikware der Natur zu sein. Sie müssen die Ersten der Schöpfung sein, die Erwählten, die Lieblinge des Vaters, die Extraordinären und Genialen. Vergeblich hat Popper gegen die Seuche der Brillanz angeschrieben.

Was nicht brillant, kreativ, genial ist, sollte den Schierlingsbecher nehmen. Die Epoche des Hellenismus galt bei deutschen Gelehrten lange Zeit als degeneriert. Warum? Weil es keinen Sokrates, Platon, Demokrit und Epikur mehr gab, sondern nur noch genielose Nachahmer, Schüler, Epigonen, Synkretisten, die zu originellem philosophischen Systembau nicht fähig waren. Noch schlimmer: mangels Originalität warfen sich die hellenischen Intellektuellen auf ordinäre Moral, woraus wir entnehmen, dass die Aversion gegen Gutmenschen eine ehrwürdige Tradition besitzt.

Originalgenie – oder Nichts. Das sind die zwei Zensuren, die in Deutschland vergeben werden. Du musst auffallen. Durch Genie – oder Wahnsinn. Einstein – oder Herostrat, der einen Tempel anzündete, um berühmt zu werden: alles andere kannst du vergessen.

Diese absurde Regel hat selbst die ehemalige Proletenpartei ESSPEDEE zur Losung gemacht. Wer nicht aufsteigt, um überzufällig Hundt und Henkel in einer Hotel-Longe zu begegnen, ist eine Null der Schöpfung. Den ehrlichen Malocher wollen sie nicht emanzipieren, sie wollen ihn abschaffen. Ihre Utopie besteht nur noch aus einer Klasse, der Klasse der Aufgestiegenen und Arrivierten. Die Menschen sind nur gleich, wenn sie ungleich sind an Cleverness, Ellbogenmentalität und Eigentum mit nach oben offener Dax-Skala. Das ist der Grund der inneren Verfaultheit der Partei. Oben an der Parteispitze lauter Originalgenies wie Gabriel und Nahles, unten an der Basis lauter Schalke-Trottel, unfähig, die exzellenten Bigotterien ihrer Führer auch nur zu verstehen.

Wirtschaft muss wachsen – oder eingehen. Wohin wachsen? Bis an welche Grenze? Mein Gott, stellst du doofe Fragen. Schon was vom Gesetz des Grenzüberschreitens gehört? Ich bin bis an meine Grenzen gegangen. Ich bin ein Grenzgänger. Ich akzeptiere keine Grenzen. Ich muss jeden Tag meine Grenzen überschreiten.

Was Reinhold Messner für die Berge, ist der Milliardär für den Mammon, Lance Armstrong für die Tour de France, Putin für das Völkerrecht, Obama für die Menschenrechte. Was wären Rechte und Grenzen, wenn man sie nicht überschreiten und verletzen dürfte?

Der Mensch ist einer, der das Maß der Natur übertreten muss. Weshalb er in der Natur, dieser langweiligen und ziemlich begrenzten Tante, niemals auf seine Kosten kommen kann. Natur überschreiten: das ist die vornehmste Aufgabe der Gipfelstürmer und Naturzertrümmerer. Der Mensch muss sich seine eigene Natur schaffen, grenzenlos und unendlich. Ad infinitum.

Grenzen überschreiten, heißt ein Abenteurer sein, weshalb der englische Philosoph Whitehead die Moderne als Epoche des Abenteurers bezeichnet:

„Daher müssen wir erwarten, dass die Zukunft Gefahren enthüllen wird. Es ist die Aufgabe der Zukunft, gefährlich zu sein. Der Pessimismus der Spießer hinsichtlich der Zukunft erklärt sich aus der Verwechslung von Zivilisation mit Sicherheit. Alles in allem sind die großen Zeitalter unstabile Zeitalter gewesen.“ (Wissenschaft und die moderne Welt)

Wie hieß die Kampfparole des italienischen Faschismus? Lebe gefährlich. Das gefährliche Risikospiel der Moderne ist Faschismus gegen die Natur.

Grenzen überschreiten, heißt auf Lateinisch transcendere. Transzendenz ist die Sphäre des Gottes. Grenzen überschreiten ist die technische, körperliche oder mammonistische Form des Gottsuchens.

Abenteuer kommt von adventura, dem Ereignis, das da kommen soll. Und was soll kommen? Die Ankunft des Herrn. Der Abenteurer geht dem Herrn entgegen, weil er nicht länger warten kann. Er erträgt nicht mehr die Ungewissheit: kommt der Herr – oder kommt er nicht? Steht er bereits vor der Tür, hat er schon angeklopft? Bereitet dem Herrn alle Wege und rollt ihm den roten Teppich aus: das ist die selbstauferlegte Aufgabe des Abenteurers. Er geht dem Herrn entgegen, um ihn zu animieren, doch jetzt zu kommen und seine wartenden Schäfchen zu erlösen. Komm, Herr, ach komme bald: das ist das unausgesprochene tägliche Gebet des Abenteurers.

Es ist ein Unterschied, ob ich in der Natur lebe, die, in sich unendlich, jedem Lebewesen seine Grenzen setzt oder ob ich an den transzendenten Gott glaube und mich – dem unendlichen Gotte ähnlich – auch für unendlich halten muss. Bin ich ein begrenzter Teil der Natur oder der unbegrenzte einer so genannten Übernatur, die alles darauf anlegt, die endliche Natur zu zertrümmern, um ihre Unendlichkeit frei zu legen?

Das sind die Schicksalsfragen der Menschheit, von deren Beantwortung ihr zukünftiges Geschick abhängen wird. Religiöse und philosophische Fragen sind die existentiellen Grundfragen der Gattung Mensch, die sie bislang missachtet, um keine Verantwortung für ihr Erdendasein zu übernehmen.

Die Frage nach der Unendlichkeit hat sich in vielen Jahrtausenden in Mythen und Märchen angekündigt, bis sie im Christentum zur Religion wurde. Die alten Hebräer kannten weder Unsterblichkeit noch Unendlichkeit. Abraham starb alt und lebenssatt. Das war‘s.

Erst als die Massen der beginnenden Weltreiche nicht mehr alt und lebenssatt sterben konnten, sehnten sie sich nach gerechtem Ausgleich in einem Leben nach dem Tode. Was auf Erden nicht möglich war, musste jenseits der irdischen Grenzen erhoffte Wirklichkeit werden. Wir haben hier keine bleibende Stadt, die zukünftige suchen wir. Der Herr hatte keinen Platz, wo er sein Haupt hinlegen konnte. Also mussten die Gesetze der Natur gebrochen werden, damit die Verlierer des Diesseits zu Siegern im Jenseits werden.

„So waren auch wir, als wir unmündig waren, den Naturmächten wie Sklaven unterworfen. Jetzt aber, da ihr Gott erkannt habt, wie könnt ihr wieder zurückkehren zu den schwachen und armseligen Naturmächten, denen ihr wieder dienen wollt?“

Die Griechen waren die Anbeter der Naturmächte. Der Kosmos, die schöne Ordnung der Natur, war für sie das Göttliche. Alle Teile der Natur konnten zu Göttern erklärt werden: Baum, Strauch, Gewitter, Meer, Schönheit, Eros, Macht, Tod, Trauer und Vergänglichkeit.

Der Kosmos war unendlich, nicht aber seine Lebewesen, die ihre Grenzen hatten. Der Hybris machte sich schuldig, wer diese Grenzen nicht achtete. Selbst das Experiment war als Eingriff in den Bereich der göttlichen Natur eine Freveltat. Hybris war Grenzüberschreitung, die von den Göttern der Vergeltung heimgesucht wurde.

Die Grenzen der Natur einzuhalten, war die Fähigkeit besonnener Mäßigung und Selbstbezwingung. Apoll war Hüter der Ordnung und Rächer vermessenen Frevelmutes. Die Scheu vor der Grenzüberschreitung zeichnete den weisen und besonnenen Menschen aus. Nemesis rächte jede Überschreitung der kosmischen Grenzen.

Das war die absolute Gegenwelt gegen das im Christentum gepredigte Verlangen nach gottgleicher Unendlichkeit und Unbegrenztheit, die der minderwertigen Natur ein Ende setzen würden.

Das Programm einer selbsterfüllenden Naturzerstörung, die dem Jenseits die Pforten öffnen soll, ist die technische Agenda der Moderne. Silicon Valley ist zum Synonym für naturzerstörendes Sehnen nach Unendlichkeit, Unsterblichkeit und Grenzenlosigkeit geworden. Der Mensch ist ein minderwertiges Wesen der Natur, das durch die perfekte Maschine abgelöst werden soll.

Wenn engelgleiche vollkommene Maschinen den Menschen ersetzen, hat homo transcendens durch Selbstabschaffung und Selbstüberwindung das Reich der Himmel erschaffen.

Die Unruhe der Welt erklärte Pascal mit der Unfähigkeit des modernen Menschen, ruhig in seinem Zimmer zu bleiben. Genauer hätte er sagen müssen: ruhig in der Natur zu leben. Die Natur ist das Haus des Menschen. Wer ihre Grenzen nicht erträgt, vernichtet sie um seiner Gigantomanie willen, der Sucht nach dem Unendlichen.

Die Überlebensfähigkeit der Gattung Mensch hängt von ihrer Fähigkeit ab, ihre Begrenztheit als Enthusiasmus und Glück zu erleben. Der Mensch ist kein Ebenbild eines grenzenlosen Gottes, sondern Ebenbild aller sterblichen und begrenzten Lebewesen der Natur. Tiere, Pflanzen, Menschen: alle sind sie endliche Geschöpfe der Natur und gleichberechtigte Geschwister.

Die Natur ist nicht um des Menschen, sondern um all ihrer Geschöpfe willen da. Ja, sie ernähren sich voneinander und sollen dennoch füreinander da sein. Nur der grenzenlose Mensch vernichtet Tiere und Pflanzen, der endliche Mensch gibt der Natur zurück, was er von ihr nimmt. Das ist der elementare Urtausch, der die Erde zu einem fruchtbaren Planeten gemacht hat.

Durch seine religiöse Gigantomanie hat der Mensch seine Begrenzung geschleift und sich über alle Wesen erhoben. Klein hat er begonnen, der Mensch. Nun will er wachsen und wachsen, groß und größer werden, bis er in den Himmel gewachsen ist. Dort angekommen, glaubt er, auf Natur verzichten zu können und zerschlägt sie hinter sich. Das Natürliche ist etwas, was überwunden werden muss.

In Silicon Valley soll die Frau ihrer Natur Gewalt antun, um sich der männlichen Megalomanie unterzuordnen. Sie erhält einen Zuschuss, wenn sie ihre Eizellen einfrieren lässt, um durch unzeitige Schwangerschaft nicht das Gewinnstreben ihrer himmelsstrebenden Firma zu schädigen. Tut sie es nicht, drohen Degradierung oder Entlassung.

Ines Pohl, TAZ-Chefin, begrüßt die Wahl zwischen Pest und Cholera als weibliche Selbstbestimmung. Hier trägt sich der einst so stolze Feminismus selbst zu Grabe. Je reibungsloser die Unterordnung der weiblichen Natur unter das Diktat des männlichen Größenwahns, je selbstbestimmter fühlt sich die Frau. Die Frau ist frei, und würd‘ sie in kapitalistischen Ketten gebären.

In deutscher Illusion innerlicher Freiheit ist die Selbstbestimmung der Frau verendet. Wem hier nicht das Herz blutet.

Was ist Größenwahn? Wiki definiert: „Die betroffene Person hält sich für eine wichtige politische oder religiöse Persönlichkeit, die Reinkarnation großer Persönlichkeiten, für einen Gott, Propheten oder Ähnliches, wie zum Beispiel einen Superhelden. Ähnlich ist z. B. der sogenannte Sendungswahn („ich muss die Menschheit erlösen“).“

Die ganze christliche Religion ist demnach ein einziger männlicher Größenwahn. Die Frau ordnet sich der naturfeindlichen Grenzenlosigkeit des Mannes unter – und wähnt sich dennoch frei. Das ist der absolute Triumph des männlichen Größenwahns über die natura mater.

Männliche Gigantomanie hat die Natur so weitgehend zerstört, dass das amerikanische Militär den Klimawandel als Bedrohung für die nationale Sicherheit betrachtet. Extreme Wetterlagen könnten zunehmend zu humanitären Krisen führen. Der Verteidigungsminister Hagel:

«Der Rückgang der Gletscher wird die Wasserversorgungsituation in verschiedenen Gebieten auf unserer Welthalbkugel belasten.» Zudem könnten Zerstörungen und Verwüstungen durch Wirbelstürme Instabilität nach sich ziehen. Dürren und Missernten würden Millionen Menschen hilflos zurücklassen und Massenmigration auslösen. Es gebe beunruhigende Hinweise darauf, dass der Klimawandel die Stabilität in «unserer eigenen Hemisphäre» bedrohen könnte. Zwei der schlimmsten Dürren hätte es in Amerika bereits in den vergangenen zehn Jahren gegeben.“ (SPIEGEL Online)

Müssen wir uns sorgen, wenn selbst die Mächtigsten der Erde zu zittern beginnen?

Wohin aber gehen wir
ohne sorge sei ohne sorge
wenn es dunkel und wenn es kalt wird
sei ohne sorge
aber
mit musik
was sollen wir tun
heiter und mit musik
und denken
heiter
angesichts eines Endes
mit musik
und wohin tragen wir
am besten
unsre Fragen und den Schauer aller Jahre
in die Traumwäscherei ohne sorge sei ohne sorge
was aber geschieht
am besten wenn Totenstille eintritt.

(Ingeborg Bachmann)

Nein, keine Sorge. Mit Superraketen wird das Militär die Tsunamis bombardieren und mit Atomwaffen die Dürre beschießen.

Sollte das Militär scheitern, seid ohne Sorge. Silicon Valley wird intelligente Supermaschinen entwickeln, die Wolken an den Himmel zaubern und den ausgedörrten Boden in einen blühenden Garten Eden verwandeln.

Sollte Silicon Valley scheitern, seid ohne Sorge. Die Roboter benötigen kein Wasser, keinen Boden – und keine Menschen. Sie werden die Nachfolge der Menschen antreten und als Tote den toten Planeten perfekt beherrschen.

Bis ein Meteorit dem Spuk ein gnädiges Ende bereiten wird.