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Tagesmail

Aufbruch

Hello, Freunde des Aufbruchs,

„Komm! ins Offene, Freund! zwar glänzt ein Weniges heute
Nur herunter und eng schließet der Himmel uns ein.
Weder die Berge sind noch aufgegangen des Waldes
Gipfel nach Wunsch und leer ruht von Gesange die Luft.
Trüb ists heut, es schlummern die Gäng und die Gassen und fast will
Mir es scheinen, es sei, als in der bleiernen Zeit.“

Hölderlin, du schwäbischer Edelmacho, du hast die Freundin vergessen: Komm auch du ins Offene, o holde Freundin – und lass dich nicht immer anbetteln. Worauf wartest du und forderst nicht selbst zum Aufbruch? Wo das Offene ist? Bestimmt nicht in unserer bleiernen Zeit.

Ja, schlummert denn heute alles? Unsere bleierne Zeit schlummert nie. Sie ist flink, beweglich, beschleunigt und rast – und tritt doch auf der Stelle. Sie rast auf der Stelle? Ja: sie dreht durch. Streng genommen fährt sie sogar rückwärts, der Rückstoß ihrer Beschleunigung hat sie nach hinten geschleudert. Wir waren schon mal weiter.

Wohin sollen wir aufbrechen? 

„Denn nicht Mächtiges ists, zum Leben aber gehört es,
Was wir wollen, und scheint schicklich und freudig zugleich.

Daß sie kosten und schaun das Schönste, die Fülle des Landes,
Daß, wie das Herz es wünscht, offen, dem Geiste gemäß
Mahl und Tanz und Gesang und Stuttgarts Freude gekrönt sei.“

Es muss ja nicht Stuttgart sein oder: Stuttgart ist überall. Das Offene ist des Herzens Wunsch: das freudige Leben. Nichts mit Aufstieg, Karriere und Macht. Leben! Nur wenn die Menschheit leben kann, wird sie über-leben.

„Süßes Leben! Schöne freundliche Gewohnheit des Daseins und Wirkens.“

Gewohnheit? War Goethe heimlicher Spießer? Leben soll Gewohnheit sein? Da dreht sich jenen Spießern der Magen um, die vor dem Leben in freudiger Gewohnheit warnen. Wer zuerst vor dem Spießer warnt, glaubt, keiner zu sein.

Wie wär‘s, wenn die größten Spießer am meisten vor dem freudigen Leben warnen? Weil sie nicht leben können. Weil ihnen freudige Gewohnheiten fremd sind. Weil sie hassen, was ihnen als Kinder Freude bereitet hat – die Wiederholung des Vertrauten und Beglückenden?

Erzähl einem Kind das Märchen in immer neuerfundener Form: empört wird es auf genauer Wiederholung bestehen. Die schönste Freude ist die Wiederholung des erfreulichen Alten. Siehe, das Alte ist nicht vergangen und darf nicht vergehen. Es muss bewahrt werden, denn es hat sich bewährt.

Konservative bewahren nichts – außer ihrer Macht. Auch sie wollen das Kreativ-Neue, das ihnen den Säckel füllt. Doch das Neue ist nur legitim, wenn das Alte verrottet und verfault ist.

In der Physik gilt als vorläufig wahr, was sich im Experiment bewährt hat. Im Leben gilt als spießig, was sich bewährt. Was sich nicht bewährt, weil es sich gar nicht bewähren kann, da es unbekannt und neu ist, das muss wahr sein.

Pardon, natürlich nicht wahr, denn Wahrheit gilt bei Neuigkeitsfanatikern nichts. Neu muss wahr sein, nicht weil es gut, sondern weil es neu ist. Alt muss schlecht sein, nicht weil es schlecht, sondern weil es alt ist. Die herrschende Zeitphilosophie ist progressiv meschugge – oder: sie ist am Arsch.

Was ist ein Spießer? „Als Spießbürger oder Spießer werden in abwertender Weise engstirnige Personen bezeichnet, die sich durch geistige Unbeweglichkeit, ausgeprägte Konformität mit gesellschaftlichen Normen und Abneigung gegen Veränderungen der gewohnten Lebensumgebung auszeichnen.“

Wenn diese Definition zutrifft, ist der Unbewegliche, dem Zeitgeist Angepasste – allergisch gegen Veränderung sinnloser Veränderungen – der perfekte Spießer.

a) Bornierte Fortschrittsgläubige, die nicht sehen wollen, dass blinder Fortschritt den Untergang bringt.

b) Hartnäckige Verteidiger des Kapitalismus, die alles verändern wollen, nur den Kapitalismus nicht.

c) Neoliberalismus-Konforme, unfähig, das Absurde einer menschen- und naturfeindlichen Wirtschaftsweise zu durchschauen und zu verändern.

Spießer sollen Angst vor der Veränderung haben? Stimmt. Echte Spießer wollen keine Veränderung des Mammonismus und fortschreitender Naturzerstörung. Das soll so bleiben, wie es schon immer war. Die Reichen sollen reich, die Armen arm bleiben. Warum? Weil es immer so war. Die Mächtigen sollen die Ohnmächtigen in den Schwitzkasten nehmen – weil es immer so war.

Wer also sind die richtigen Spießer? Die Zukunftspropheten und Futurologen, die die Gegenwart aufgeben – und wäre sie noch so bewährt –, nur um das Neue um des Neuen willen anzubeten.

Nein, diese Futur- und Fortschrittsspießer sind keine Kritiker der Gegenwart. Die Gegenwart interessiert sie nicht. Es genügt ihnen, zu wissen, dass Gegenwart das Alte ist, also muss sie zerstört werden. Sie sind auch keine Kenner des Neuen, sie kennen es nicht. Und doch wissen sie a priori, dass das unbekannte Neue das einzig Wahre ist.

Jede neue Erfindung ist das Gelbe vom Ei. Vor Jahrzehnten war es die wunderbare atomare Erfindung, die alle Energieprobleme der Welt mit links lösen würde. Vor kurzem war‘s die Erfindung des Digitalen, die der Welt unbegrenzte Freiheit, technischen Fortschritt und wirtschaftlichen Daueraufschwung bringen würde.

Das Atom wurde zur Geißel der Welt, das Digitale wurde zum allwissenden Despotenauge Gottes, vor dem kein Mensch sich schützen kann. „Dass die Augen des Herrn tausendmal besser sind als die Sonne, dass sie auf alle Wege der Menschen blicken und in die verborgensten Winkel hineinschauen. Alle Dinge sind ihm bekannt gewesen, ehe sie geschaffen wurden und ebenso ist es, nachdem sie vollendet sind.“ (Sirach)

Den Fortschrittsspießern geht’s nicht um überprüfbare Qualität des Lebens. Von Überprüfen halten sie nullkommanichts. Sie wissen, weil sie glauben. Sie wissen von vorneherein – oder glauben –, dass jedes Neue besser ist als das Alte.

Beweise? Seit wann können religiöse Glaubensbekenntnisse bewiesen oder widerlegt werden? Dann wären es ja naturwissenschaftliche Hypothesen und keine Dogmen, die man glauben muss. Würden Kapitalismus- und Fortschrittsspießer etwas von empirischem Überprüfen halten, müssten sie die Menschen befragen, ob sie mit ihrem Leben zufrieden sind oder nicht.

Den Teufel werden sie tun. Zufriedene Menschen sind für sie die allergrößten Spießer. Womit sie zu erkennen geben, dass dogmatische Unzufriedenheit der Beharrungskern ihrer Veränderungsunwilligkeit ist. Alles soll unbeweglich kapitalistisch und fortschrittsgläubig bleiben. Und wenn ihnen die Immobilität den Kragen kosten sollte.

Mit Schaum vor dem Mund und Brett vor dem Gehirn brüllen sie in die Welt: her mit dem Neuen, das Neue erlöst uns. Weg mit dem Alten, verflucht sei das Alte.

Wir leben in einer Demokratie, in der das Volk die Grundlagen seines Daseins nicht bestimmen darf. Es kann entscheiden, ob es links- oder rechtsdrehenden Joghurt kauft. Alles andere wird von ehernen Gesetzen bestimmt.

Hat ein Volk jemals über seine Wirtschaftsweise abstimmen dürfen? Über Fortschritt, gerechte Verteilung des gemeinsam erwirtschafteten Reichtums? Über das Maß der Erwerbsarbeit, über die Fähigkeit, sein Leben nach seiner Facon einzurichten?

Das ganze Leben wird bestimmt von Gesetzen der Mächtigen. Nicht nur im Leben, sondern auch im Tod. In der Antike wurde das Recht zum selbstbestimmten Tod von niemandem angezweifelt. Seit klerikale Schlüsselbesitzer des Himmels das Kommando übernommen haben, regieren sie die Menschen von der Wiege bis zur Bahre.

Die Würde des Menschen sehen sie darin, dass sie ihm die Art des Sterbens vorschreiben. Sterben wird dem Programm der Selbstoptimierung einverleibt. Wo kämen wir hin, wenn jeder Mensch über sich selbst bestimmte? Darf er schon sein Leben nicht autonom gestalten, wie erst seinen Tod? „Sterben kann gelingen“, sagte der vorbildliche Aufsteiger Müntefering. Wie er seine Karriere managte, so den Tod seiner Frau: optimal. Der Tote starb mit Auszeichnung. Note eins plus, mit Stern für die Überlebenden. (FAZ.NET)

In der Epoche des ausgeprägtesten Individualismus ist der Wille des Individuums kaum was wert. Man stelle sich vor, ein Volk entschlösse sich, die Last der Zivilisation à la Rousseau abzuschütteln und leben zu wollen wie ein Indiovolk am Amazonas – na sagen wir: plus solarbetriebener Espressomaschine, ein Hauch von Luxus möcht schon sein. Die Nachbarn würden noch am selbigen Tage die verrückten Hinterwäldler aus dem Buch der Geschichte tilgen.

Gesetze, Gesetze. Gesetze der Wirtschaft, Gesetze des Fortschritts, Gesetze der Evolution, Gesetze der Macht. Nimmt man alles zusammen, erkennt man Gesetze der Heilsgeschichte, Gesetze Gottes, die der auserwählte Westen dem Rest der Welt aufoktroyiert.

Das Neue ist das Messianisch-Heilige, das die Menschheit zu jeder Tages- und Nachtzeit erwartet. Das Alte ist das Irdisch-Menschliche, das als Sünde vertilgt werden muss. Die Gesetze des Gottes haben die Welt überwunden. Nun regieren sie, bis der Messias kommt – oder der ganze Schwindel auffliegt. Also letzteres.

Das kann dauern. Der weltbeherrschende Westen hat sich auf Glauben festgelegt. Da helfen keine Pillen. Aber Aufklärung.

Die Priesterkaste hat sich per Zellteilung wundersam vermehrt. Je mehr Gesetze es gibt, je mehr Priesterkasten haben sich gebildet. Priester der Wirtschaftsgesetze – die Ökonomen; Priester des Fortschrittsschwindels – die Techniker und Naturwissenschaftler, die längst nicht mehr Natur entziffern wollen, sondern nur noch an wissensgestützter Macht interessiert sind. Priester der Heilsgeschichte – die apokalyptischen Biblizisten, die längst wissen, dass die Gattung untergehen muss, damit ihre Verheißungen zu Erfüllungen werden.

Womit wir nun die wahren Spießer aufspießen können. Spießer sind untergeordnete, angepasste, veränderungsunwillige Vollstrecker heiliger Gesetze, die unter dem Zwang stehen, per göttlichem Erneuerungswahn die alte Erde zu eliminieren, damit ihre spießigen Zukunftsprophetien schreckliche Wirklichkeit werden.

Um die Gesetze der Heilsgeschichte zu erfüllen, muss Natur peu à peu abgeräumt werden. Das geschieht durch Künste des Einfrierens:

Hindern dich, o Weib, deine Eizellen, am profitorientierten Einschleimen bei den Bimbes-Männern, lass sie einfrieren, bis sie hoffnungslos veraltet sind und du dich mit Schreibälgern nicht mehr rumärgern musst.

Hindert euch, oh technische Bubis, euer noch halbwegs intaktes Gehirn beim Exekutieren des Fortschritts, lasst eure Vorderhirnlappen einfrieren, bis ihr sie endgültig nicht mehr benötigt.

Hindert euch, o todesängstliche Menschlein, euer armseliger leiblicher Madensack beim Unsterblich werden, lasst ihn einfrieren, bis Silicon Valley euch paradiesisch enteisen wird.

Hindert euch, oh vernagelte Gattung Mensch, der Klimawandel am Überleben auf dem veralteten Planeten, lasst das Klima einfrieren – dann könnt ihr das ökologische Problem für immer für beendet erklären. Der absolute Herr der Natur wird ein Eisklumpen sein – oder er wird nicht sein.

O kommet ins Offene, meine Schwestern und Brüder, die ihr euer Herz noch nicht habt erkalten lassen. Wo ist das Offene? Warum nicht hier?

„Aber schön ist der Ort, wenn in Feiertagen des Frühlings
Aufgegangen das Tal, wenn mit dem Neckar herab
Weiden grünend und Wald und all die grünenden Bäume
Zahllos, blühend weiß, wallen in wiegender Luft,
Aber mit Wölkchen bedeckt an Bergen herunter der Weinstock
Dämmert und wächst und erwarmt unter dem sonnigen Duft.“

Wir müssen aufbrechen – indem wir bleiben. Natur ist unsere einzige Wohnung, die wir hegen und pflegen müssen. Wir müssen nicht ins Unbekannte aufbrechen, sondern ins Bekannte und Vertraute.

Der wahre Spießer ist der Unzufriedene, der sich in der Natur nicht wohlfühlen darf. Mit seiner irdischen Heimat darf er keinen Frieden schließen.

Wir müssen aufbrechen, aber nicht ins Offene eines messianisch Neuen, sondern ins Offene eines Alten, das wir ganz neu kennen und schätzen lernen müssen.

Der christliche Westen definiert sich als wanderndes Volk Gottes, das ständig ins Neue aufbrechen muss: ins Neue eines Messias, der – käme er wirklich – unsere Erde in unüberbietbarer Grausamkeit schleifen, das Alte vernichten, einen neuen Himmel und eine neue Erde aus dem Hut zaubern würde.

Wir müssen aufbrechen und zur Besinnung kommen, dass wir uralte, intelligente, lernfähige, gelegentlich sogar liebenswerte Geschöpfe der Natur sind und keine missratenen Sündenkrüppel einer wildgewordenen Macho-Phantasie.

Ulrike Herrmann spricht von einer „Sondergalaxie für Männer“ – die mit der schönen Gewohnheit des irdischen Lebens keine Berührung mehr haben kann.

Der Westen folgt den Spuren seines auferstandenen Herrn und Meister. Der sagt seinem Jünger Petrus:

„Als du jung warst, hast du dir selbst den Gürtel umgebunden und bist gegangen, wohin du wolltest. Im Alter aber wirst du deine Hände ausstrecken; ein anderer wird dir den Gürtel darumbinden und dich dorthin führen, wo du nicht hingehen willst.

Das also ist die Freiheit der Christenmenschen: sie müssen dorthin, wohin sie nicht wollen. Der Aufbruch in die Zukunft ist sklavisches Erwarten des finalen Richters über alle Lebendigen und Toten. Dem, der da kommen soll, müssen sie in Angst und Schrecken entgegen gehen. Das ist die Offenheit des Gangs zur Guillotine.

Hölderlins Aufbruch ist der selbstbestimmte Gang des Menschen in ein freudiges Dasein – auf Erden. Woran erkennt man einen wahrhaft offenen Menschen? Dass er ahnt, fühlt und weiß, wohin er will.

Sein Wille ist sein Herzensbedürfnis und seine Einsicht. Kein Erlöser muss es ihm sagen. Kein Erlöser darf es ihm sagen.

„Alles prüfe der Mensch, sagen die Himmlischen,
Daß er, kräftig genährt, danken für Alles lern,
Und verstehe die Freiheit,
Aufzubrechen, wohin er will.“