Hello, Freunde des Gesprächs,
mit Putin reden? Sonst geht’s dir noch Danke? Putin will den Westen zerlegen und ein eurasisches Reich errichten, inklusive Ungarn, Rumänien, Serbien. Also den ganzen Balkan kassieren, Griechenland inbegriffen.
Mit Obama reden? Bist du meschugge? Obama hat den amerikanischen Rechtsstaat zertrümmert, lässt die ganze Welt überwachen, Menschen foltern, kritische Journalisten einschüchtern, Whistleblowers verfolgen und einkerkern. Zudem hofiert er totalitäre Regimes wie die wahabitischen Saudis.
Mit dem Peking-Regime reden? Die chinesische Führung drangsaliert Kritiker, huldigt der Todesstrafe, kennt keine Menschenrechte, will die USA überflügeln, um die Welt mit totalitären Methoden in den Würgegriff zu nehmen.
Mit den Iranis reden? Die Ajatollas unterdrücken ihre Bevölkerung, wollen die Atombombe, hassen Israel und den ganzen Westen. Mit afrikanischen Despoten reden, die alle Gelder aus dem Ausland in die eigene Tasche stecken und ihre Völker verrecken lassen? Mit ISIS reden, die grausamer sind als Hunnen und Nazis zusammen? Mit dem syrischen Tyrannen Assad reden, der sein eigenes Volk ausrottet?
Mit jugendlichen Muslimen reden, die mit ISIS kokettieren? Mit Breivik, der ein rechter Massenmörder ist? Mit Gefangenen, die Verbrecher sind? Mit Pegadisten, die den Islam und alle Flüchtlinge hassen? Mit deutschen Edelschreibern, die Pegadisten hassen und das Gespräch mit ihnen verweigern? Mit deutschen Linken, die sich von griechischen Linken nicht distanzieren, welche mit rechten Putinfreunden und Judenhassern eine Koalition eingehen? Mit Christen, die die heidnische Welt und alle Ungläubigen verfluchen und es nicht erwarten können, bis das Irdische in Rauch und Asche aufgeht und sie als Erwählte im Himmelreich über die Verworfenen in der Hölle Triumphgesänge anstimmen? Mit dem 8-jährigen französischen Knaben, der …
… Sympathie mit den Attentätern bekundete?
Mit Kanzlerin Merkel, die noch nie die Menschenrechtsverbrechen ihrer amerikanischen und israelischen Freunde attackierte, flüchtlingsfeindliche Frontex-Methoden an der europäischen Grenze finanziert, ökonomisch schwache Länder wie Griechenland in Not und Elend stürzt, ihre eigene Bevölkerung nicht vor der NSA schützt, in doppelter Moral Sündenböcke für Taten verurteilt, die sie selbst begeht?
Mit EU-Politikern, die mittels TTIP die Souveränität der europäischen Demokratien für 30 Silberlinge verkaufen? Mit Silicon Valley-Tycoons, die Rechtsstaaten hassen und mit totalitären Algorithmen die Welt beherrschen wollen?
Ha, hab ich sie alle weggeputzt, diese minderwertige Satansbrut von der globalen Tenne gefegt? Endlich bin Ich mit Mir allein: Ich bin der einzige würdige Partner eines kongenialen Gesprächs – mit MIR selbst. Ich konstituiere Mich durch Mich. Ich setze die Welt – und niemand außer Mir. Ich stehe auf dem Olymp der deutschen Philosophie. Knie nieder, Gewürm der Welt – und bete Mich an. Mein Name ist Johann Gottlieb Fichte:
„Das – natürlich deutsche – Ich setzt sich selbst, und es ist, vermöge dieses bloßen Setzens durch sich selbst; und umgekehrt: Das Ich ist, und es setzt sein Seyn, vermöge seines bloßen Seyns. – Es ist zugleich das Handelnde, und das Produkt der Handlung; das Thätige, und das, was durch die Thätigkeit hervorgebracht wird; Handlung, und That sind Eins und dasselbe; und daher ist das: Ich bin, Ausdruck einer Thathandlung.“
Die Tathandlung des Menschen ist die Schöpfung aus Nichts. Das gottgleiche deutsche ICH hat sich nicht nur selbst erschaffen, es erlöst auch die Welt in messianischer Ichheit. Mit wem soll Ich reden, der Mir gleich käme? Götter können nur Selbstgespräche führen. Ich bin, der Ich allein mit Mir reden kann. Aseität gebührt nur Mir, dem Gott:
„Unter Aseität (von lat. a se, von sich, aus sich selbst; aseitas) versteht man das Aus-sich-Sein, das Von-sich-selbst-sein, also etwas, das sein Sein nicht von anderswoher empfangen hat.“
Ein Virus grassiert in Deutschland: das Gespräch mit Minderwertigen und Ungleichen. Nicht irgendein Gespräch, sondern das therapeutische. Hier müssen alle Sirenen schrillen. Das therapeutische Gespräch – der Versuch, den Mitmenschen zu verstehen, den Andersdenkenden zu erfassen – ist der Untergang des christlichen Abendlands.
Der deutsche Pöbel lehnt untermenschliche Fremde ab, die deutschen Eliten lehnen den untermenschlichen Pöbel ab. Ein Rechter mit Bärtchen ist kein harmloser Narr, er ist eine Ausgeburt der Hölle. Vor Jahrzehnten haben sie die Schergen in Fleisch und Blut nicht erkannt, ja mit Jubel begrüßt. Heute dämonisieren sie verwirrte und desorientierte Spießer zu teuflischen Schergen.
Haben sie nicht gewaltig aus der Geschichte gelernt? Ihre Rekognition des deutschen Bösen demonstrieren sie durch exkludierende Gesprächsverweigerung und höhnende Abgrenzung. Das waren noch Zeiten im deutschen Hinterland, als Gott persönlich mit Mephisto sprach:
„Von Zeit zu Zeit seh ich den Alten gern,
Und hüte mich, mit ihm zu brechen.
Es ist gar hübsch von einem großen Herrn,
So menschlich mit dem Teufel selbst zu sprechen.“
Von Faust gar nicht zu sprechen. Hätte der sich geweigert, mit dem Teufel über Gott und die Welt zu schwatzen, hätte Goethe sein Weltendrama gar nicht protokollieren können.
Die modernen Fäustlinge, als da sind Sozialpsychologen, SPIEGEL-Kolumnisten und sonstige wortmächtige Herren (Frauen sind noch zu gutmütig-kitschig), schmoren lieber im eigenen Herrensaft: dort sind sie unter sich und haben immer Recht. Würde ZEIT-Schreiber Lenz Jacobsen ein modernes Faust-Drama schreiben, dürfte sein deutscher Held nur mit sich selbst reden. (Das digitale Selbstgespräch üben die Deutschen bereits auf allen Straßen und Gassen; den Schein erweckend, als wären sie mit anderen Solipsisten dauer-vernetzt):
„Das widerstandslose Pegida-Zuhören mancher Politiker ist nur das jüngste Beispiel eines viel größeren Wandels: Die politische Öffentlichkeit wird zur Therapiesitzung.“ (Lenz Jacobsen in ZEIT Online)
Was, um Freuds willen, hat der ZEIT-Schreiber gegen Therapie? Wie Angela Merkel tut, als führe sie Diskurse, die sie tatsächlich nicht führt, so
„simulieren jetzt Tillich und andere Freude darüber, sich die Unbedachtheiten der Pegida-Anhänger anzuhören. In der Hoffnung, sie bereits durch widerstandsloses Zuhören zu besänftigen. Doch so tragen sie nicht zum Abbau der Gefühle bei, sondern veredeln diese zum politischen Beitrag. Wer Behauptungen nicht widerspricht, legitimiert sie. Ein Teil der deutschen Politik und Medien will offensichtlich nicht mit Pegida streiten, sondern sie therapieren. Hier kommt eine Strategie zur Anwendung, die sich in den vergangenen Jahren zum Modus vivendi im Umgang deutscher Politik mit ihren Wählern zu etablieren scheint. Sie beugen sich hinunter und halten ihr Ohr an die Volksmünder, oder sie legen den Kopf schief und reden ihnen gut zu. Wir haben verstanden. Es wird alles gut. Das Gespräch wird zum Selbstzweck und an die Stelle des rationalen Streits rückt Gefühlshaushaltspolitik.“
Hat der Schreiber etwa eine unglückliche Gesprächstherapie absolviert, in der – nach Erfinder Rogers – der Therapeut nur wiederholt, was der Patient von sich gab? (Der leitende Gedanke von Rogers war: wer echomäßig von einem anderen hört, was er selbst geäußert hat, kann das Eigene in Distanz durchdenken, als wäre es ein Fremdes.) Oder woher weiß er, dass Therapieren nur gütiges und stummes Absegnen ist?
(Nur nebenbei: wie kommt es, dass Popper den entgegengesetzten Eindruck von der freudianischen Psychoanalyse hatte? Für den ZEIT-Schreiber ist der Therapeut alles gutheißend und wortlos billigend, für Popper ist er unfehlbar-autoritär, weil er jede Kritik an der Methode oder an seiner Person mit dem „Gegenargument“ niederbügelt, der Patient habe seinen Ödipus-Komplex, seine Vatermord-Phantasien oder sonstige liebliche Triebregungen seiner Neurose noch nicht durchgearbeitet: „Der Psychoanalytiker kann jeden Einwand hinwegerklären, indem er zeigt, dass er das Werk der Verdrängung des Kritikers ist.“ (Die Offene Gesellschaft, Bd. II)
Von seinen Patienten verlangte Freud für die ganze Zeit der Behandlung, auf lebenswichtige Entscheidungen zu verzichten. Wer mitten in seiner Kindheit stecke, könne nur neurotische Willensentschlüsse treffen. Ist das alles absegnend, alles billigend?
Was die klassische Freud-Analyse betrifft, hat Popper Recht. Freudianer kennen kein Streitgespräch auf gleicher Augenhöhe, sie verwerfen jeden Einwurf des Patienten – der abgewandten Gesichtes auf der Couch liegt wie der Priesteraspirant bäuchlings vor seinem segnenden Bischof – als Murks einer noch nicht durchgearbeiteten Seele.
Warum ist die einst hoch renommierte Psychotherapieszenerie in einem seelsorgerlichen und apolitischen Mauseloch verschwunden? Weil sie nicht debattieren kann und auf die hohe Warte des immunisierten und unfehlbaren Therapeuten nicht verzichten will.)
Die meisten Therapien sind patriarchalisch-autoritär. Analysiert wird wenig, Zeit und Geld sind knapp, die Nächsten warten bereits auf einen Therapieplatz. An die Stelle ausreifenden Verstehens ist das Reglementieren getreten: tun Sie dies, tun Sie das. Wie wollen Sie weiter kommen, wenn Sie meine Ratschläge nicht befolgen?
Die durchschnittliche Therapie ist das Gegenteil von Jacobsens Befund: wenig Zuhören, noch weniger Verstehen und beschleunigtes Verändern auf pädagogischen Zuruf, sonst gibt’s Probleme mit den gestrengen und ungeduldigen Seelen-führern.
Der Autor merkt seinen eigenen Widerspruch nicht. Wer nur zuhört, führt kein Gespräch. Er nimmt eine religiöse Ohrenbeichte ab. Ein Gespräch beginnt, wenn Rede und Gegenrede aufeinanderfolgen. Was Jacobsen beschreibt, ist die religiöse Karikatur eines Dialogs.
Es kann nicht verwundern, wenn in Zeiten despotischer Talkshows – die einer vorgeschriebenen Choreographie folgen, nicht der Logik der Gedanken – niemand weiß, was ein Gespräch überhaupt ist. Das kann man nur in platonischen Frühdialogen lernen, in denen Platon noch seinen Lehrer Sokrates in authentischer Aktion nachzeichnete. Der „Sokrates“ des mittleren und späten Platon ist die Maske des Autors.
In den Talks wird jeder Streit systematisch verhindert, jeder Teilnehmer erhält seine separate Frage. Kommt es dennoch zum Getümmel, wird es sofort gestoppt: Spezialfragen oder Einzelheiten könne man hier nicht besprechen.
Ein echtes Gespräch verkraftet keinen Dritten als Moderator. Würde dieser die Materie besser durchblicken als die Debattanten, müsste er selbst gegen einen Gegner in den Ring steigen. Vor allem müsste er seinen eigenen Standpunkt kenntlich machen, verteidigen und seinen Streitpartner auf eigene Rechnung in Bedrängnis bringen. Ein Versteckspiel der zitierenden Art – „Kritiker behaupten, dass…“ – wäre ein schaler Scherz. Positionen abwesender Personen können seriös weder verteidigt noch widerlegt werden.
Nur im Schweizer TV gibt es noch Gespräche zwischen Einzelnen auf gleicher Augenhöhe. Im deutschen Fernsehen gibt es nur unzusammenhängende Monologe, die von der Zuchtrute der Moderatorin zusammengehalten werden.
Gipfel der Verblödung sind die finalen „Streitgespräche“ der politischen Kandidaten im Wahlkampf. Wie bei sabbernden Pawlow‘schen Hunden werfen Quotenfänger rivalisierender Kanäle den Kontrahenten allbekannte Stichworte vor die Füße, die von jenen in auswendig gelernter Manier „beantwortet“ werden. Günter Gaus war der letzte Deutsche, der sich um einen echten TV-Dialog bemühte.
Hat das Gespräch überhaupt einen „Sitz im Leben“ einer funktionierenden Demokratie? Ohne Streiten keine Demokratie. Je höher die Qualität der Streitkultur, je stabiler die Demokratie.
Hat aber das therapeutische Gespräch seinen Platz auf der Agora? Jeder echte Dialog ist ein therapeutisches Gespräch.
Im Mittelpunkt der sokratischen Gespräche und der freudianischen Psychoanalyse steht die biografische Anamnese. Bei Sokrates stand die Erinnerung der logischen Begriffe im Vordergrund, bei Freud die Erinnerung der Gefühle, – die aber der Kontrolle der Begriffe übergeben werden sollten. Wo Es war, soll Ich werden. Die unbewussten Gefühle sollten ans Tageslicht, damit sie der Kontrolle des rationalen Ichs unterstellt werden.
Hier blieb die Freud’sche Methode unvollständig – und letztlich apolitisch. Das erstarkte Ich hätte mit anderen Ichs in den Clinch der erinnerten Begriffe gehen müssen. Das bloße Aufarbeiten der Gefühle genügt nicht, um zur gediegenen Beurteilung der politischen Prozesse zu gelangen. So wurde der anamnestische Prozess bei Freud auf halber Strecke gestoppt: er blieb autistisch und scheute den öffentlichen Wettbewerb um die Wahrheit.
Die sokratische Methode ihrerseits benötigte keine gesonderte Aufarbeitung des unbewussten Es, ein solches war im triebfreundlichen und nichtklerikalen Griechenland nicht möglich. Das Unbewusste ist der in 2000 Jahren akkumulierte Kollateralschaden oder die verleugnete seelische Müllkippe des christlichen Über-Ichs. Ein Über-Ich als Stimme eines göttlichen Gewissens war in einer autonomen Kultur schlechthin unmöglich.
Homer, das „heilige Buch“ der Griechen wurde von den Philosophen angstfrei unter die Lupe genommen und radikal kritisiert. Denken und Therapieren waren in Athen identisch. Die Demokratie selbst ist eine kollektive Selbsttherapie. Die Auseinandersetzungen auf der Agora sind Erweiterung und Verallgemeinerung der einsamen Selbstbesinnung zum agonalen Dialog in der Öffentlichkei.
Auf heutigen Foren findet man weder Dialoge noch logisch-emotionale Anamnesen. Die Medien definieren sich als Matadore des flüchtigen Augenblicks, dem keine erinnernswerte Vergangenheit zugebilligt wird. Sich historische Sachkenntnisse erarbeiten ist für Edelschreiber eine Beleidigung ihrer Intelligenz. Sie orientieren sich am deutschen Geniebegriff, der mühsames Erlernen der Realität verschmäht und ohnehin vom diskursiven gesunden Menschenverstand nicht erfasst werden kann. Dementsprechend willkürlich sind die Impressionen und Assoziationen der sich täglich neu erfindenden Kommentare.
Die deutsche Presse ist ein Forum verkannter Genies, die aus erhabenen Logen das ordinäre Geschehen der Politabläufe beobachten. Das Gleiche gilt für akademische Soziologen und Politologen, die ihre Objektivität durch interesselose Unparteilichkeit unter Beweis stellen müssen. Der Dresdener Politologe Patzelt, der sich durch „teilnehmende Beobachtung“ ein Bild von Pegida machte, wird von seinen Kollegen und Studenten wegen mangelnder Objektivität gemobbt und unter Beschuss genommen. Und das in einer Demokratie, in der jeder Bürger ein Citoyen zu sein hätte. (SPIEGEL Online)
Nur eine wache Demokratie als kollektive Selbsttherapie hat die Chance, sich aus den bewussten und unbewussten Irrationalitäten ihrer Tradition peu à peu herauszuarbeiten.
Emotionales miteinander Reden und Verstehen sind für den ZEIT-Autoren ein Gräuel. Nicht nur, dass Defektes und Gefährliches gebilligt wird, der emotional Beteiligte kommt um in den aufgewühlten Gefühlsprozessen:
„Alle, die Pegida inhaltlich auf keinen Fall entgegenkommen wollen und sich trotzdem in deren Gefühlsausbrüche begeben haben, drohen – politisch gesprochen – darin umzukommen. In der Absicht, kein Schäfchen für die Demokratie verloren zu geben, haben sie deren Gefühle durch ihre Aufmerksamkeit politisch legitimiert, ohne eine richtige Antwort darauf zu haben. Was kann es darauf auch für eine Antwort geben? Eine rationale jedenfalls nicht. Wer traurig ist und wütend, möchte nicht belehrt werden. Gefühle sind ja per Definition irrational.“
Wer hier nicht weint, weint nimmermehr. Gefühle sind nur irrational, wenn sie durch Erkennen und Denken nicht rationalisiert werden. Gefühle sind seismografische Wiedergaben realer Weltempfindungen. Werden sie bewusst wahrgenommen und von der Vernunft beurteilt, können sie durchsichtig und rational werden.
Vernünftige Menschen haben vernünftige Gefühle. Wirrköpfe und Journalisten haben dunkle und irrationale Gefühlskomplexe. Gefühle, die von der Ratio an die Hand genommen werden, können zu erfahrungsgesättigten Instinkten werden, die zwar nicht unfehlbar sind, auf deren Stimme man aber hören kann, wenn man sie oft genug als verlässliche erleben konnte. (Man denke an den sokratischen Daimon.)
Der Mensch ist eine Einheit aus Denken, Fühlen und Wollen. Eine von der Vernunft abgeschnürte emotionale Schicht kann nur entstehen, wenn der Mensch seine Gefühle als sündige Werkzeuge des Teufels verleugnen und abschnüren muss.
Warum sind Gefühle an sich irrational? Jacobsen: „Lange Zeit wurden Gefühle möglichst herausgehalten aus der deutschen Politik. Größtmögliche Nüchternheit schien die einzig mögliche Antwort auf den Rausch des Nationalsozialismus, der ja absichtlich alle Grenzen eingerissen hatte zwischen Emotion und Politik.“
Hier verschlägt‘s einem den Atem. Ausgerechnet nationalsozialistische Verbrecher sollen das Monopol der Gefühle besessen haben? Die Schergen hatten eschatologische Herrschaftsgefühle, aber keine Gefühle an sich, die es nicht gibt.
Jeder Mensch hat die Gefühle, die er sich erarbeitet hat. Gefühle sind kein Schicksal, sondern lernfähige und veränderbare Empfindungen. Dass Demokratie eine gefühllose Maschine sein soll, ist der helle Wahn. Es gibt demokratische Gefühle, die man durch demokratisches Tun erwerben und – weitergeben kann.
Unsere Demokratie ist deshalb so defekt, weil in Schulen und Kinderstuben demokratisches Verhalten unterdrückt wird. Demokratische Urgefühle sind selbstbestimmter Stolz, autonome Souveränität und geschwisterliche Solidarität. Wenn Kinder diese Gefühle nicht kennen lernen, können sie keine verlässlichen Demokraten werden.
Im Unterschied zu Frankreich und den USA, die eine emotionale Teilhabe an ihrem politischen Leben pflegen, hätte Deutschland eine liberale Tradition, in der es nicht um Gefühle, sondern um „rationale Abwägungen“ ginge, so Jacobsen. Nur Wehner, Strauß und Joschka Fischer seien die Ausnahmen von der Regel gewesen. Stellvertretend für alle hätten sie Emotionen gezeigt. Hier wird’s unterirdisch. Da wir überwiegend in einer rationalen Wissensgesellschaft lebten, fehle es uns an gefühltem Vertrauen ins Gemeinwesen. Diese Lücke machten sich die AfD und Pegida zunutze. Da die Parteien der Mitte mit ihren therapeutischen Interventionen das Gefühlfass geöffnet hätten, wären die Gefühlsschmarotzer vom rechten Rand die hinterlistigen Gewinner.
„Das ist der Stand nach diesen merkwürdigen Pegida-Dialogversuchen: Die Parteien der Mitte haben eine Gefühlspolitik mitbetrieben, von deren Mechanismen vor allem ihre Gegner am radikalen Rand profitieren.“
Die deutsche Gesellschaft ist auf der Stufe einer pflichtgemäßen Über-Ich-Demokratie stehen geblieben. Sie denkt nicht, weil sie nicht fühlen darf. Sie ist monologisch, weil sie nicht reden darf. Sie ist gefühllos, weil sie nicht verstehen darf. Sie ist unzuverlässig und ohne Selbstbewusstsein, weil sie weder beurteilen noch streiten darf. Sie vertraut nicht ihrer demokratischen Vernunft, weil diese seit 200 Jahren durch deutsche Eliten verleumdet wird.
Wenige Tage nach dem Attentat auf die französischen Karikaturisten ist ihre Solidarität wieder abgeflaut. Sang- und klanglos hat der Kölner Karneval einen Motivwagen für Charlie Hebdo gestrichen. Im Schatten der New York Times rühmen sich deutsche Gazetten, ihren eigenen Weg zu gehen: den Sonderweg der Feigheit.
Was der englische Gigant Bertrand Russell über Rationalität und Wahrheit zu sagen hat, bleibt deutschen Denkverächtern und Gefühlsfeinden verschlossen:
„Rationalität im Sinne eines Appells an einen universellen und unpersönlichen Maßstab der Wahrheit ist von höchster Bedeutung … nicht nur in Zeiten, in denen sie leicht die Oberhand gewinnt, sondern insbesondere auch in jenen weniger glücklichen Zeiten, in denen sie verachtet und abgelehnt wird.“