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Geistig-moralische Wende

Hello, Freunde der geistig-moralischen Wende,

über die Günter Jauch in der ARD partout nicht debattieren wollte, als er die Frage nach Kohls Vermächtnis nutzte, um seine journalistische Impotenz durch Blendraketen – belanglose juristische Fragen und eine ganz und gar verlogene Versöhnungschoreografie – vergessen zu machen.

Er hatte die Willy-Brandt-Witwe eingeladen, um Willys Motto: es muss zusammenwachsen, was zusammengehört, als geheime Leitdevise seiner Moderation am Ende der Talk-Show zu offenbaren.

Den schlauen Trick hatte seine Redaktion ausgebrütet, um das erbarmenswürdige Palaver für den öffentlich-rechtlichen Star hieb- und stichfest zu machen. Wäre das hybride, weil unrealistische Unternehmen geglückt – welch ein Triumph für den nie aus der Kutte geschlüpften Ex-Ministranten. Würde es – wie realistisch nicht anders zu erwarten – in die Hose gehen, welcher vernünftige Mensch hätte ihm für die löbliche Absicht Vorwürfe gemacht?

Jeder Bauernstadl ist ein Vorbild an psychologischer Vitalität, verglichen mit dem Schmierentheater aus dem Gasometer. Doch ging es um Kohls Vermächtnis? Vordergründig nicht. Es hätte darum aber gehen müssen, damit das juristische Geplänkel

als Übergang zur entscheidenden Frage hätte benutzt werden können: sind Kohls Memoiren politischer oder privater Natur?

Seltsam, wie können die Erinnerungen eines derartigen homo politicus nur private sein? Hat er Merkel, Thierse, Wulff, Blüm, Scheel oder Schäuble auf einer internen Familienfeier kennengelernt?

Die Deutschen haben die Vergangenheit abgeschafft, sie glotzen nur noch per Algorithmen in die Zukunft einer avisierten Unsterblichkeit, von der Jaron Lanier in seiner Paulskirchenrede behauptete, sie sei zur neuen Religion geworden.

Religion ist richtig, neu ist falsch: es ist die alte christliche Sehnsucht, nach dem Tode unsterblich und selig zu werden – nur neu verpackt in technischen Glitter. Die zweite technische Natur soll die natürliche Natur abschaffen, denn sie ist alt und minderwertig. Techniker tun nichts anderes, als einen neuen Himmel und eine neue Erde aus ihren stählernen Rippen zu schwitzen.

Gedenket nicht des Vergangenen: das ist zum Dogma einer Gesellschaft geworden, deren Medien sich nur dem Tag verpflichtet fühlen, weshalb sie sich Tages-Skribenten nennen. Journalismus – abgeleitet von Jour, dem Tag – war eine Erfindung jener Hektiker, die jeden Tag die Realität ablichten, ohne ständig den lästigen Rattenschwanz der Vergangenheit zu bemühen.

Historiker verstehen nichts vom Tag, die Tagträumer – pardon, die schreibenden Eintagsfliegen – nichts von der Vergangenheit. Eine weise Arbeitsteilung.

Historiker wollen nicht mal Vergangenheit verstehen, nur dicke Bücher über vermoderte Akten und diplomatische Noten zusammenschreiben. Versteht sich, dass man aus der Vergangenheit nichts lernen kann, wenn man sie nicht verstehen darf. Würde man verstehen, könnte man ja draus lernen, sonst dürfte man von Verständnis gar nicht reden.

Für Historiker ist Geschichte ein mystischer Ort, auf dem Somnambule ständig im Kreis herumirren, um sich unter Siegesgeheul gegenseitig in den nahen Abgrund zu stürzen. Sollte in einer Demokratie der mündige Mensch sein Schicksal selbst gestalten, müsste Historikern und Tagesschreibern in sanften, aber eindringlichen Worten nahe gelegt werden, ihren Beruf freiwillig an den Nagel zu hängen.

(Nehmt‘s auf keinen Fall unpersönlich, ihr tintenklecksenden Unmündigkeitsprediger, schon lange spielt ihr den Klerus der postdemokratischen Verelendung. Wie sang Jacques Brel gestern in ARTE? Wer vernünftig sein will, muss asexuell sein. In triebgesteuerter Vernunftverweigerung seid ihr längst omni-potent.

Euer früheres Flaggschiff, der SPIEGEL, propagierte in der letzten Woche sein zeitgeistaffines neues Motto: im Zweifel – Diktatur. Diktatur sei das Realitätsprinzip des unerreichbaren Lustprinzips „Demokratie“.

Als danach heftige Kritik aufbrandete, reagierte das Blatt in nicht zu übertreffender Kindischkeit: reingelegt, haben wir gar nicht so gemeint.

Dass die demokratievergessenen Augsteinerben – der Gründer würde sich im Grabe umdrehen – nichts verstanden haben, bewies der Beitrag eines Ex-Diplomaten, den sie für abdruckenswert hielten. Herr Ischinger wollte auf beiden Seiten ein bisschen schwanger sein: ein bisschen mit einem diktatorischen Balg und ein bisschen mit einem grauen demokratischen Mäuschen. Solche lebensunfähigen Bastardzwillinge sollen die Vorzüge der Demokratie in aller Welt verkündigen.)

Was hätte Dompteur Jauch in seiner Gesprächsrunde thematisieren müssen? Er hätte die Frage stellen müssen: Hat die Epoche Kohl der demokratischen Entwicklung der Deutschen mehr genützt oder mehr geschadet?

Schon vor zwei Jahren hat die TAZ zum Thema Kohl einige bemerkenswerte Punkte gefunden.

Was ist aus heutiger Sicht von seiner einstmals vollmundig angekündigten geistig-moralischen Wende zu halten?

„Im Rückblick aufs „System Kohl“ schien es dem Hamburger Psychotherapeuten Karl-Rüdiger Hagelberg so, „als wenn die Öffentlichkeit selbst in der lähmenden Unzugänglichkeit Kohls etwas wiedererkannte, was mit ’Vaterschaft‘ zu tun hatte“. Helmut Kohl, der symbolische Vater von Generationen.“

Kann Kohl, der mit seiner ganzen Familie in Unfrieden lebt, eine veritable Vaterfigur der Nation sein? Kann ein Politiker, der die christliche „Famillje“ als Fundament des Abendlandes rühmte, auf seiner eigenen Familie aber wie ein Dinosaurier herumtrampelte, ein echter pater familias der Nation sein?

Hat Kohl nicht auf die Vorbildlichkeit christlicher Politiker gesetzt? Wie können seine familiären Defizite unpolitisch sein, wenn er öffentlich Wasser predigt und privat Wein säuft?

(Als Horst Seehofers Ehebruch bekannt wurde, stürzte sich die ganze Medienmeute auf den sinnenfrohen Bayern. Wie kann ein Politiker, der das hohe C rühmt, glaubwürdig sein, wenn er seines Nächsten Weib begehrt – auch wenn dieses noch nicht verheiratet war?)

Hatte Kohl unter der geistig-moralischen Wende nicht die Rückkehr bürgerlicher – christlicher – Tugenden verstanden, die durch die aufmüpfige 68er-Rebellion in Verruf geraten waren?

Aus einer seiner vielen Reden:

„Geistige Führung, das heißt für uns, Maßstäbe und Kriterien des eigenen Handelns zustimmungsfähig zu machen. Jetzt wird sichtbar, wie wichtig, wie unverzichtbar Tugenden sind wie: Redlichkeit und Augenmaß, Treue zu Gesetzen, Menschlichkeit und Toleranz, Pflichtgefühl und Fleiß, Sparsamkeit und Gemeinsinn, Selbstdisziplin und Eigeninitiative. Mit diesem großartigen moralischen Kapital unseres Volkes sind die Sozialisten genauso dilettantisch umgegangen wie mit den öffentlichen Finanzen des Landes.“ (Helmut Kohl)

War Kohls Ehrenwort in einer unehrenhaften Parteispendenaffäre ein Beispiel für „Redlichkeit“ und „Treue zu Gesetzen“? Sind seine von Hass und Verachtung erfüllten Beleidigungen gegen politische Freunde und Gegner, die er allesamt als Verräter, Nullen und charakterlose Gesellen, giftige Zicken und Dreckschleudern bezeichnete, Beweise für „Augenmaß, Menschlichkeit und Toleranz“?

BILD-Schreiber Müller-Vogg, selbst Kurpfälzer, erklärte in einer Phönix-Debatte, wie solche Entgleisungen in pfälzisch rauher Schale zu verstehen sind: als spontane Eruptionen eines ehrlichen Cholerikers. Anfänglich müsse man schlucken, bis man bemerken würde, dass ein wahrer Friesenheimer gern knurrt und bellt, aber selten beißt.

Das nennt man Verharmlosung eines Berserkers, der für sein Elefantengedächtnis berühmt ist. Wer es einmal gewagt hat, sich ihm in den Weg zu stellen, der sollte ohne biblische Rache nicht davonkommen.

Dass Merkel nicht mit Messer und Gabel umgehen kann, ist belanglos (hat man über die BIRNE anfänglich nicht dasselbe behauptet?). Dass sie aber keinen Charakter habe, das ist keine Petitesse.

Erleben wir nicht oft genug, dass sie nicht hält, was sie verspricht – ohne ihren Gesinnungswandel zu begründen? Dass sie in machtgesteuertem Schweigen ihre autokratischen Bahnen einsam und selbstherrlich über Krethi und Plethi zieht? Dass sie es nicht für nötig hält, sich vor „ihrem Volk“ für ihre immer altersstarrer gewordene Zickzackpolitik zu rechtfertigen?

Kohl war keine Vaterfigur. Allzuoft war er ein amoklaufender älterer Bruder, der alle Väter aus dem Sessel jagt – und dennoch die väterlichen Tugenden in aller Welt predigt. Vor allem attackierte er jene, die nicht vor dem himmlischen Vater die Knie beugten. Die dauerkritischen gottlosen Marxisten unter den Studenten hasste er mit der Inbrunst eines Savonarola.

„Richtig ist aber auch, daß man diesen jungen Leuten falsche Maßstäbe gegeben hat. So sagte man, der Konflikt sei der Vater aller Dinge, Disziplin sei überflüssig, Leistungswille ein Kennzeichen der Ellenbogenmentalität. Viele haben sich daran orientiert und sind enttäuscht worden. Auch die neue Schule hat keinen ‚Spaß gemacht‘, und Selbstdisziplin und Fleiß werden im Leben halt doch verlangt, weil sie unverzichtbar sind.“

Während die Studenten der 68er-Bewegung lernten, zu Autoritäten Nein zu sagen, um nie mehr angepasste Mitläufer zu sein und um die NS-Vergangenheit zu durchforsten, auch wenn‘s den eigenen Eltern weh tat, wollte Kohl zurück in die formierte Gesellschaft seines Parteigenossen Ludwig Erhard. Konflikte meiden, den faulen Konsens suchen, die malochende Harmonie des neuen Wohlstands über die Nachkriegsgesellschaft kippen, das waren die Retro-Tugenden eines papistischen Zöglings, der Unterwerfung forderte, wenn er mit massiger Gestalt die Bühne betrat.

Die Verdienste der deutschen Jugend um den Aufbau einer demokratischen Vorbildgesellschaft hat Kohl in seiner provinziellen Borniertheit nie verstanden. Gewiss, er war ein guter Europäer. Doch welches Europa wollte er? Das katholische Europa des Novalis, der sich ins heilige Mittelalter unter der Knute des Vatikans zurücksehnte.

Als er noch jung und hübsch und in Mainz Ministerpräsident war, berief er tatsächlich die regsten Geister der damaligen CDU. Unter ihnen Heiner Geißler und Richard von Weizsäcker. Das allerdings ist „artentypische“ deutsche Psychogenese. In jungen Jahren gönnen sich die deutschen Jünglinge einen scheinkritischen Aufbruch, doch spätestens nach ihrem 33. Geburtstag – dem Todestag ihres Heilands und Erlösers – werden die säkularen Ausreißversuche eingestellt und die Kirche im Dorf gelassen.

Christen, die als prinzipielle Feinde des heidnischen Staates begannen, haben sich nach der Konstantinischen Wende zu konservativen Bewahrern ihrer gottgegebenen Obrigkeitsmacht entwickelt. Sie wollen keine Werte bewahren – Christen sind bekennende Antinomer – sondern die Macht der Kirchen und ihrer gläubigen Politiker.

In der TAZ spricht der Psychotherapeut Hagelberg von der „‘Unerreichbarkeit der Väter‘ in ihrem narzisstischen System“. „Das heißt: Wer von seiner Gefolgschaft als eine Art Vater gesehen wird, um dessen rare Zuneigung gebuhlt werden muss, der erhält große Macht. Dieser psychische Mechanismus beeinflusste auch Kohls Gegner. Darunter waren viele, die in ihrer Kindheit ähnliche Erfahrungen mit ihren Vätern gemacht hatten, aber andere Schlüsse daraus zogen: offenen Groll, Wut, Hass.“

Für seine eigenen Söhne war Kohl unerreichbar. Gilt das auch für die Studenten, die ihn aufs schärfste kritisierten?

O ja, auch die „systemkritischen“ Jugendlichen wollten für ihre mühsam erworbenen neuen Fähigkeiten des aufrechten Gangs auch von jenen anerkannt werden, die sie ins Visier nahmen. Der ich-schwache und selbst Anerkennung suchende Problembär Kohl hat ihnen die Anerkennung auf der ganzen Linie mit geradezu sadistischer Lust verweigert.

In dieser Hinsicht war Kohl kein Vater. Ein in sich ruhender souveräner Vater stellt sich der Rebellion seiner Kinder. Es gibt in der internationalen Politik der letzten Jahre wenige echte Väterfiguren. Unter ihnen ausgerechnet jener Gorbatschow, den Kohl mit dem Satz verhöhnt:

„Gorbatschow ging über die Bücher und musste erkennen, dass er am Arsch des Propheten war und das Regime nicht halten konnte“.

In seiner Autobiografie hat Gorbi nicht den geringsten Hehl aus seinem Erschrecken über die desolate Situation der Sowjetunion gemacht. Die ernüchternde Erkenntnis einer menschenfeindlichen Gesellschaft war für ihn der Anlass zur grundsätzlichen Konversion vom sozialistischen Unrechts- und Versagerstaat zu demokratischer Perestroika.

Ihm zu unterstellen, er hätte diese Remedur kaschiert, um unlautere Sprüche zu machen, ist nicht nur eine Frechheit. Es zeigt exemplarisch die Unaufrichtigkeit der westlichen Politik gegen das heutige Russland, das vom besten Willen beseelt war, sich in die Reihen der demokratischen Völker zu integrieren.

Doch der Westen machte nur gute Miene zum Spiel, solange er sich gewisse Vorteile von Russland versprach. Kohl wollte unbedingt die Deutsche Einheit, um sich einen Platz in den Geschichtsbüchern zu ergattern. Als er das erreicht hatte, erlosch über Nacht die Neigung, auf gleicher Höhe mit den Russen umzugehen.

Amerika vor allem wollte das Reich des Bösen auf keinen Fall verlieren. Also reizte der Westen Moskau so lange bis aufs Blut, bis Gorbis übernächster Nachfolger Putin sich zur Vollbremsung entschloss und dem Westen in gleicher Münze zurückzahlte.

Der geistig und moralisch hochstehende Kohl hatte es an Redlichkeit und gleichberechtigter Toleranz nicht wenig fehlen lassen.

Nur Gorbatschow und Mandela kann man als echte Vorbilder und Väterfiguren der letzten Dekaden gelten lassen. Alles andere waren spätpubertierende Kraftfiguren wie Dabbelju und Schröder, oder an sich selbst berauschte Heilandsfiguren wie Obama, die schnell ihre Aura verloren und in ordinäre Heuchelpolitik abstürzten.

Christianisierte Politiker können keine Väter sein, sie müssen gehorsame Söhne darstellen, die dem gütigen Vater im Himmel ihre Reverenz erweisen.

Das Gleichnis vom verlorenen Sohn ist für die meisten Christen das emotionale Zentrum ihres Glaubens. Eine kurze Zeit dürfen sie sich mit den Säuen wälzen, doch dann wird’s Zeit, sich reuig zu zeigen und zum echten Vater zurück zu kriechen. Der himmlische Vater duldet keine Konkurrenz von irdischen Möchtegernvätern.

Solange ein westlicher Politiker sich jesuanisch definiert, solange muss er den Sohn in allen Variationen spielen, vom verlorenen über den reuigen bis zum gehorsamen Sohn, den es zu den Fleischtöpfen des Vaters zurückzieht.

Kohls Tagebücher entlarven eine Jüngerfigur, die in machiavellistischer Zerrissenheit Deutschland und Europa unter das Joch eines intoleranten Gottes zurückbringen muss. Der Pfälzer ist ein Getriebener, der den aufgeschlossenen, warmherzigen und verlässlichen Biedermann spielt, obgleich er allzu oft den hinterwäldlerisch-bigotten Brandstifter darstellte.

Wie alle ehrgeizigen katholischen Sprösslinge besitzt er eine zweipolige Charakterstruktur. Sein Über-Ich ist dominant papistisch und fordert bedingungslose Unterwerfung, sein unterentwickeltes Ich bleibt lebenslang auf der Stufe eines geduckten, wenn auch vorlauten Messdieners. Just so hat der Politikwissenschaftler Dolf Sternberger, bei dem Kohl in Heidelberg studierte, den auftrumpfenden Jungpolitiker aus Ludwigshafen erlebt.

Hätte Kohl nicht das zufällige Glück des Zusammenbruchs der Sowjetunion erlebt und mit ihm die Chance der deutschen Wiedervereinigung erhalten: Kohl wäre ein namenloser Kanzler der deutschen Geschichte geblieben.

Bis heute kann er nicht glauben, dass sein himmlischer Vater ihm und nur ihm die Gunst der Wiedervereinigung gewährte. Ob er die Gnade der synchronen Kanzlerschaft zu Recht erhielt – oder nur als unverdientes Geschenk?

Das Grübeln über diese quälende Frage wird ihn bis an sein Lebensende nicht verlassen.