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Das Recht

Hello, Freunde des Rechts,

eine Volksherrschaft kann sehr ungerecht sein, dennoch bleibt sie ein Rechtsstaat – solange das Volk in seinem Eifer nicht erlahmt, im Namen der Rechtsnorm das bestehende Unrecht zu bekämpfen, vor den Kadi zu ziehen, Unrechtsparagrafen auszuräumen, kurz: die Wirklichkeit mit den Augen des Rechts zu betrachten und danach zu handeln.

Eine Norm ist dazu da, die Realität nach ihrem Bilde zu gestalten, sonst ist sie keine. Doch wer bestimmt die Norm?

Nur wenn das Recht vom Volk bestimmt wurde im Rahmen einer Verfassung, die sich das Volk selbst gegeben hat, kann man von einem Rechtsstaat sprechen. Jedes Recht, das dem Volk mit Gewalt und List auferlegt wird, muss als Unrecht betrachtet werden. Demokratisches Recht muss autonomes, also selbstbestimmtes Recht sein – oder es ist kein Recht.

Jedes heteronome, also fremdbestimmte Recht ist Unrecht – und sei es noch so göttlich, heilig, ehrwürdig, uralt, gelehrt und scharfsinnig. Theokratien unter der Herrschaft der Zehn Gebote, der Scharia oder einer kodifizierten Bergpredigt wären allesamt heteronome Unrechtsstaaten.

Die Mündigkeit des Demokraten besteht darin, kein anderes Recht anzuerkennen als das, was er sich selbst gibt, unter der Richtschnur der Humanität debattiert und

im Lichte der Erfahrung fortlaufend politisch verbessert.

Alles, was nicht Volksherrschaft ist: Tyrannis, Diktatur, Despotie, Faschismus, Totalitarismus, Theokratie, bleibt für immer ein Unrechtsstaat – auch wenn das bestehende Recht peinlich genau befolgt würde.

Jede Diktatur prahlt mit Ruhe, Zucht und Ordnung: Gehorsamsleistungen der Untertanen, die nur durch eine starke Faust hergestellt und garantiert werden könnten. Das stimmt nur dem öffentlichen Scheine nach, der unter der totalen Kontrolle der Diktatoren steht. Alles, was nicht Demokratie ist, bleibt Despotie, wenn das Recht nicht durch den mündigen Citoyen bestimmt worden ist.

War die DDR ein Unrechtsstaat? Typisch für deutschen Streit-Analphabetismus, dass über Begriffe gestritten wird, die jeder anders empfindet. Niemand aber umgrenzt und definiert sie probeweise, um zu klären, worüber denn gestritten werden soll. So bleibt es beim Austausch frei flottierender Emotionen.

Ex-DDRler, die sich wacker gehalten, niemanden um die Ecke gebracht und niemanden beklaut haben, fühlen sich auf den Schlips getreten, dass sie in einer anarchischen Bananenrepublik (ohne Bananen) gelebt und die einfachsten moralischen Grundsätze über den Haufen geworfen haben sollen.

Ex-BRDler sind empört, dass ihre Erkenntnisfrüchte der Vergangenheitsbewältigung – das Unterscheidenkönnen zwischen Faschismus und Demokratie – von den Ossis nicht anerkannt werden.

Gysi, sonst einer der Cleversten, wirft alle Gesetze der Logik über den Haufen und bramarbasiert wie ein esoterischer Priester, der die Weisheit der kapitalistischen Welt für Torheit vor Marx hält: „Nicht alles, was kein Rechtsstaat ist, sei schon ein Unrechtsstaat“. Solche Rabulistik beendet den Streit, bevor er begonnen hat.

Wer streitet oder – um es vornehmer zu formulieren – wer einen machtfreien Diskurs beginnt, sollte sich mit seinen Diskurspartnern erst mal einigen, mit welchen Methoden gestritten werden soll. Wenn, wie zumeist im Vaterland der Dialektik und endloser Kanzelpredigten, die Gesetze der Widerspruchsfreiheit außer Kraft gesetzt sind, wird das Palaver uferlos. Hat der Streit keine Chance, die Unterschiede der Debattanten scharf herauszuarbeiten, bleibt es ihm auch verwehrt, einen möglichen Konsens anzusteuern.

Alle öffentlich-rechtlichen Talkshows sind auf Unendlichkeit programmierte Palaver mit maximalem SQ oder Selbstgefälligkeitsquotienten. Niemand bezieht sich auf niemanden, niemand fragt nach, weil er wissen will, ob er seinen Vorredner wirklich verstanden hat. Jeder hält mit einstudierter Mimik seinen autistischen Monolog, die diktatorisch intervenierenden Moderatoren wollen ohnehin nur den Knalleffekt, um am nächsten Tag in die Gazetten zu kommen.

„Schauen Sie mir in die Augen, wenn ich mit Ihnen rede“, brillierte Plasberg beim öffentlichen Domestizieren eines dubiosen Koranverehrers, der es wagte, sich als lupenreiner Demokrat auszugeben – bis er sich als Frauenverächter entlarvte, da er keinem minderwertigen Weib die Hand geben darf. Ob dies aber ausreicht, um als Gefolgsmann der ISIS zu gelten? Interessiert doch keinen öffentlich-rechtlichen Rabulisten.

Warum wird nicht präzis gefragt: War die DDR eine Demokratie? Wüsste man, dass stabiles Recht nur in mündigen Demokratien existieren kann, hätte man die Frage nach dem Unrechtsstaat mit Verweis auf Demokratie oder Nicht-Demokratie schon beantwortet.

Warum werden Begriffe aus der deutschen Steinzeitepoche genommen, deren Herkunft und intellektuellen Nährwert niemand kennt? Ein schneller Blick in Wiki und wir erfahren:

„Der Begriff wird auf den preußischen Katholiken Peter Reichensperger zurückgeführt. Mit dem Begriff Unrechtsstaat wollte Reichensperger andeuten, dass Preußen ein solcher würde, wenn es die Rechte seiner katholischen Untertanen beschneidet.“

Reichensperger: „Ich denke, der Rechtsstaat besteht darin, dass der Obrigkeit das Schwert zum Schrecken der Bösen anvertraut ist, und zum Schutze derer, die in ihrem Recht sind, ihr Recht üben; einen Unrechtsstaat würde man dagegen meines Erachtens denjenigen zu nennen haben, welcher die Unruhestifter schützen und diejenigen bedrohen wollte, die in ihrem Rechte sind.“

Wie stets, wenn man einen kleinen Bick in den tiefen, tiefen Schacht der deutschen Geschichte wirft, ersäuft man in einer theologischen Sintflut. Hier heißt die Sintflut Bismarck‘scher Kulturkampf, geführt im Namen des deutschen Luthertums gegen die undeutschen Papisten.

Es geht nicht um säkulares Recht oder Unrecht, sondern um Protestanten gegen Katholiken und ihre – vor allem jesuitischen und bayrischen – Gefolgsleute, die es partout nicht hinnehmen wollten, dass Staat und Kirche getrennt und die Kirchen in der Politik nichts zu suchen hätten.

Doch genau genommen ging es um den ewigen Kampf zwischen Gut und Böse, zwischen Kindern des Lichts und Kindern der Finsternis. Ein deutscher Rechtsstaat ist ein Machtgebilde, um die Bösen zu bestrafen und die Guten zu belohnen.

Theologisch gesehen, wäre das eine Vorwegnahme des Jüngsten Gerichts, eine Anmaßung für alle Christen, denn ein endgültiges Gerichtsurteil ist dem Höchsten Richter vorbehalten. In Bismarcks Zeiten waren Rechts- und Unrechtspflege die Fortsetzung der Konfessionskriege mit anderen Mitteln.

Allmählich erkennen wir den emotionalen Tiefensumpf des jetzigen Streits um den Unrechtsstaat: Ossis wollen nicht die Bösen sein und unterstellen den Wessis, sie wollten allein in den Himmel kommen und – wie einst Lazarus in Abrahams Schoß auf den Reichen in der Hölle – von Oben auf sie herab spucken. Das wäre fies von den Wessis, die, wenn sie zufällig auf Ossiseite hätten leben müssen, sich keinen Deut anders verhalten hätten als ihre sozialistischen Brüder und Schwestern. Immerhin mussten die Ossis eine zweite Diktatur ertragen, während die Wessis sich schon kapitalistisch mästen durften. Wenn das nicht ungerecht ist.

„Tief ist der Brunnen der Vergangenheit“, schrieb Thomas Mann über die Geschichte „Jaakobs“ in „Josef und Seine Brüder“. Er dachte an die bibelfesten Deutschen, die auch eine heilige Geschichte haben wollten. Im Brunnen der Vergangenheit liegen alle Begriffe zerschmettert, die uns erklären können, warum der Begriff Unrechtsstaat so sinnlos ist.

a) Staat, der Lieblingsbegriff der Deutschen ist ein Monstrum der Konturlosigkeit, aber kein Wort, um eine demokratische Sachlage zu klären. Mit Staat bezeichnen die Deutschen alles, was nicht bei drei auf den Bäumen ist: Kaisertum, aufgeklärter und unaufgeklärter Absolutismus, Fürstentyrannei, theokratische Obrigkeit, Bismarcks Scheinparlamentarismus, Kaiser Willems Flottendespotismus, das arme Weimarer Pflänzchen, den NS-Totalitarismus und die geschenkte Nachkriegsdemokratie: alles soll unterschiedslos Staat sein.

Wenn der neoliberale Guru sagt: am liebsten erwarten die Deutschen alles von Väterchen Staat, welchen Staat kann er meinen? Weiß er nicht, dass es in Demokratien nur zeitlich begrenzte Volksvertreter geben kann und keine kontinuierlichen Gebilde, die auf den Zuruf Staat hören? Und wenn doch, dass diese Gebilde sofort abgeräumt werden müssten zugunsten rotierender Abgeordneter, die ihre Macht vom Volk nur geliehen und sie an dasselbe wieder zurückgeben müssen?

Wenn Demokraten etwas vom Staat erwarten, erwarten sie es von sich selbst: von der mündigen Volksversammlung und ihren repräsentativen Vertretern. In allen Nichtdemokratien gibt es einen kontinuierlichen Staat, nicht aber in einer machtgeteilten Herrschaft des Volkes.

Gibt es keinen Staat, kann es weder einen Rechts- noch einen Unrechtsstaat geben, die den Eindruck erwecken, Recht und Unrecht seien metaphysische Begriffe, die dem jeweiligen Staat von höheren Mächten aufgezwungen wurden. Alles Recht, das nicht durch die Prüfkontrolle des Volkes ging, ist Fremden-Herrschaft, aber kein Recht, in dem sich stolze Bürger wieder erkennen.

b) Weiß irgendein Deutscher, woher sein Recht kommt? Dass das jetzige BGB die geronnenen Rechtsvorstellungen Bismarck‘scher Gelehrter sind, die bis heute kaum geändert wurden? Dass die Rechtsvorstellungen dieser Professoren ein Sammelsurium verschiedenster Rechtstraditionen sind, die beim römischen Zwölftafelgesetz begannen, sich griechische Begriffe einverleibten, germanische Eigentümlichkeiten, kanonische Biblizismen (mit platonischen Anleihen), naturrechtliche und positivistische, universelle und partikulare, abstrakt erdachte und historisch gewachsene, absolute und relativistische Elemente in einer undefinierbaren Mixtur zusammenrührten?

c) Das Recht ist zur Domäne einer juristischen Klerikerkaste geworden, die sich in unverständlicher Gelehrtensprache – der Fortsetzung des Kirchenlateins – miteinander verständigt, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, den Großen Lümmel am Diskurs zu beteiligen.

Auf dem Papier sind wir eine Demokratie, somit ein Rechtsstaat. Faktisch aber ist das Recht die Flut einer trüben unbekannten Vergangenheit in den Händen einer Elite, die ihr Herrschaftswissen mit keiner ungebildeten Masse teilen will.

d) Wenn wir eine selbstbewusste Demokratie sein wollen, müssen wir das faktische Recht durch Überprüfung in normatives Recht unsrer Demokratie verwandeln. Eine echte Demokratie kann nie Unrechtsstaat sein, denn das größte Unrecht müsste in einer intakten Demokratie veränder- und reformierbar sein.

Umgekehrt gilt: jede Nichtdemokratie muss a priori ein Unrechtsstaat sein – und wäre ihr Rechtssystem noch so stabil. Wenn Recht von irgendwelchen Obrigkeiten nach Belieben verändert werden kann, ist es ein heteronomes Joch. Unter der Allmacht eines fremden Rechtswillens kann es kein demokratisches Recht geben.

Wenn Hitler, Stalin, Ulbricht das Recht nach Belieben beugen können, genügt es nicht, dass ihre Untertanen subjektiv „anständig“ bleiben. Keine gegnerische Macht könnte sie aus der Allmacht ihrer Willkürherrscher befreien. Liegt Recht uneingeschränkt in Händen von Despoten oder despotischer Systeme, müssen wir von einem Unrechtsstaat sprechen.

e) Warum ist es überhaupt zur deutschen Trennung des Rechts von den verschiedenen Staatsformen gekommen? Die Gründe liegen 200 Jahre zurück. Als die deutschen Dichter und Denker sich von ihrer Begeisterung für die Französische Revolution verabschiedeten, (weil die Franzosen zur Schreckensherrschaft der Guillotine übergegangen waren), wollten sie sich nicht völlig der apolitischen Pflege ihrer unsterblichen Seelen ergeben. Schiller zog aus der gewalttätigen Revolution den Schluss, erst müsse der Mensch sich selbst ändern, bevor er die Gesellschaft ändern könne.

Sich selbst ändern wurde zum pädagogischen Auftrag der neuen Ästhetik in Theater, Dichtung und Kunst. Erst sollte der Einzelne vor der eigenen Türe kehren und ein moralischer Mensch werden. Erst dann hätte er als homo novus eine Chance, auch das Staatswesen zu erneuern.

Die äußere Freiheit der französischen Heißsporne wurde durch die innere Freiheit der deutschen Gedankenriesen ersetzt. Wenn die inneren Gedanken frei sind, davon waren die Klassiker überzeugt, ist der ganze Mensch frei.

Politik wurde reduziert zur Moral, unpolitische Moral war der einzige pädagogische Zweck des Rechts, das die Deutschen glaubten, unabhängig von aller Weltpolitik realisieren zu können. Die Ästhetik und das Rechtssystem wurden zum Ersatz für die deutsche Unfähigkeit, das Persönliche zum Gesellschaftlichen, das Innere zum Äußeren, das Individuelle zum Staatlichen und Politischen zu erweitern. Der Rechtsstaat musste die ausgeschiedene Politik kompensieren.

Den Zusammenhang von Verfassung und Moral, von Politik und Recht haben die Deutschen bis heute nicht begriffen. Der Historiker Herbert leugnet den Sonderwegcharakter der deutschen Geschichte mit dem Argument, zwar hätten die Deutschen keine Demokratie gehabt – aber einen gut funktionierenden Rechtsstaat, der das Demokratiedefizit ausgleichen konnte:

„Ich bin nicht überzeugt, dass der Unterschied zu anderen Ländern so groß ist. Demokratiedefizit in Deutschland? Ganz bestimmt. Aber Großbritannien ist zu dieser Zeit eine brutale Klassengesellschaft, und nur eine kleine Minderheit darf überhaupt wählen. Frankreich ist tief gespalten zwischen Republikanern und Antirepublikanern. Wenn man um 1900 gewettet hätte, in welchem Land eine rabiate nationalistische Diktatur entstehen würde, hätte man wohl auf Frankreich getippt. Deutschland hatte immerhin einen Rechtsstaat, der gut funktionierte, und eine moderne Sozialpolitik.“ (ZEIT-Interview mit Ulrich Herbert)

Mit anderen Worten: wenn Armenfürsorge und Polizei funktionieren, brauchen wir keine Demokratie mehr. Wie heißt der bekannte deutsche Spruch? „Hauptsache anständig bleiben“, gleichgültig unter welchem Regiment und unter welcher Knute.

Selbst nach den Erfahrungen des Dritten Reiches, in dem die „Anständigen“ widerstandlos zuschauten, wie die Opfer der Schergen nach Auschwitz und Birkenau abtransportiert wurden, haben wir noch immer nicht den Zusammenhang von Verfassung und Recht, von Politik und Moral verstanden. Nur so ist Himmlers Geheimrede zu verstehen, dass seine SS-Eliten mitten in der Hölle anständig geblieben seien.

Historiker Herbert und die Majorität der Deutschen scheinen noch immer nicht zu wissen, wozu wir Demokratie nötig haben. Recht und Anstand allein genügen nicht, um rechtsstaatliche Demokraten zu sein. Das Recht muss vom Volk bestimmt und in eine stabile Verfassung gegossen sein.

Unrecht in einer Demokratie ist vom Unrecht einer Despotie – und mögen sie sich noch so ähnlich sein – durch Welten geschieden. Das erste hat die Chance und die Pflicht, sich durch Gerichtsverfahren und legislatorische Parlamentsarbeit in Recht zu verwandeln, das zweite bleibt auf immer der Willkür höherer Mächte ausgeliefert.

Auch Christiane Hoffmann vom SPIEGEL hat keine Ahnung vom unauflöslichen Zusammenhang von Recht und Demokratie. In bester deutscher Tradition glaubt sie, auf Demokratie verzichten zu können, wenn in einer Diktatur nur für Stabilität gesorgt ist:

„Diktatur kann erträglicher sein als Anarchie. Wenn Menschen vor der Wahl zwischen einer funktionsfähigen Diktatur und dem Chaos eines scheiternden Staates stehen, wäre die Diktatur oft das kleinere Übel.“ (Christiane Hoffmann in SPIEGEL Online)

Die Reaktion auf ihr diktatur-freundliches Plädoyer muss außerordentlich gewesen sein, weshalb sie sich genötigt sah (oder von der Chefredaktion genötigt wurde?), eine Erwiderung auf ihre Kritiker zu schreiben – die erschreckend kindisch ausfällt.

Wir wollen ihr abnehmen, dass sie bewusst keine Diktatur propagieren wollte. Das wäre ja ein skandalöser Fall für den Verfassungsschutz und der Ruin des SPIEGEL. Dennoch hat sie eine stabile Diktatur einer anarchischen Demokratie vorgezogen und damit der Volksherrschaft die Fähigkeit abgesprochen, Notzeiten mit demokratischen Mitteln zu bestehen. Ob sie will oder nicht: das ist eine systematische Misstrauenserklärung an die Demokratie und eine Flucht in die stabilere Diktatur.

Demokratie sei, erklärt sie, eine hohe Norm, die man nicht immer erfüllen könne. Besser wäre es, sich im Zweifel mit der faktischen Stabilität einer Diktatur zu begnügen. Das sei nüchternes Realitätsprinzip (würde Freud sagen), das man dem unerreichbaren Lustprinzip vorziehen müsse:

„Da geht es vor allem um den Unterschied zwischen normativ und deskriptiv. Will heißen, zwischen dem, wie die Welt sein sollte, und dem, wie sie leider nun mal ist. Gute Politik verbindet ja beides, richtet sich an der Realität aus und behält zugleich ihre Prinzipien im Blick. Wenn Politik nämlich nur auf das Normative setzt, geht das in der Regel schief. Alle möglichen Idealisten, die an der Realität vorbei regierten, haben mit besten Absichten eine Menge Unheil angerichtet. Es nützt einfach nichts, wenn wir uns die Welt schönreden. Besser sagen, was ist.“ (Christiane Hoffmann in SPIEGEL Online)

Hoffmann, typisch für deutsche Demokratieblindheit, erkennt nicht, dass ideale Norm und schnöde Realität einer Demokratie die beiden Pole innerhalb ihrer eigenen Reichweite sein müssen. Diktatur kann nicht die schlechte Wirklichkeit sein, die sich bei Verbesserung der Verhältnisse automatisch in ideale Demokratie verwandelt. Jeder Despot wird alle Hebel in Bewegung setzen, um die Verwandlung der Unfreiheit in demokratische Freiheit gewalttätig zu verhindern. Nie kann Diktatur die schlechte Wirklichkeit eines demokratischen Ideals sein.

Den Zusammenhang zwischen Recht und Politik, Moral und Verfassung, innerlicher und äußerer Freiheit müssen sich die Deutschen noch erarbeiten. Die Gedanken sind frei? Das genügt nicht. Auch politisches Handeln muss frei sein. Sonst liegen die Gedanken bald in Ketten.

Was Freiheit betrifft, haben die Deutschen das politik-ferne und ästhetisch verkümmerte Niveau ihrer Klassiker noch nicht überwunden:

„Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei, // Und würd‘ er in Ketten geboren“?

Hier irrte Schiller.

 

NB: Soeben erschien im SPIEGEL ein weiterer Debattenbeitrag zum selben Thema aus der Feder Wolfgang Ischingers, der sich zwischen Weiß und Schwarz, Demokratie und Diktatur, nicht entscheiden will. Wer die Dinge nicht grundsätzlich durchdenken will, wählt den faulen Kompromiss. Zwei links, zwei rechts, zwei fallen lassen.

Die Deutschen sollen die grauen Mäuschen der Weltpolitik werden. Nur nicht unangenehm auffallen mit prononcierten Meinungen. Man könnte zur Verantwortung gezogen werden.

„Es geht eben nicht um eine Schwarz-Weiß-Entscheidung zwischen Idealtypen. Zwischen dem Demokratiefanatiker, der am liebsten jede Diktatur mit Gewalt aus dem Weg räumen würde, und dem Realpolitiker, der mit der Unterdrückung der Freiheit kein Problem hat, solange damit wenigstens die europäische Nachbarschaft ruhig bleibt. Die politische Wirklichkeit ist nicht schwarz-weiß, sie ist eine Welt der Grautöne.“ (Wolfgang Ischinger in SPIEGEL Online)

Alle Freunde der Demokratie wissen nun, dass sie Demokratiefanatiker sind, die Diktaturen mit Gewalt aus dem Weg räumen wollen. Ischinger, ein früherer hoher Diplomat, scheint keine andere Werbemaßnahme für Demokratie zu kennen als den zwangsbeglückenden Hammer des christlichen Westens.

Wie wär‘s mit vorbildlichem demokratischem Verhalten, das unfreien Völkern Appetit auf politische Selbstbestimmung machen könnte, Herr Ischinger?