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Tagesmail

Gaucks Verantwortung

Hello, Freunde des Weghörens,

Sehen ist Wahrnehmen aus der Ferne, beim Zuhören und miteinander Reden muss man präsent sein. Fern-Sehen ist das bevorzugte Schauen der Gegenwart. Ist mir zuwider, was ich sehe, genügt ein Druck auf den Knopf.

Weghören ist schwieriger. Der Gesprächspartner merkt meine Geistesabwesenheit, wenn sein Reden ohne Antwort bleibt und ist gekränkt.

Bundespräsident Gauck will die Kultur des Wegsehens beenden, von einer Kultur des Zuhörens und miteinander Redens ist bei ihm nicht die Rede.

War die Kultur des Zusehens-mit-Gewehr in Afghanistan erfolgreich? Die westlichen Zuschauer sagen Ja, Nein, Vielleicht, Auf keinen Fall, Natürlich.

Wer urteilt über den Erfolg? Die westlichen Demokratiebeglücker oder die Zwangsbeglückten? Es ist der Westen, der allein über den Erfolg seines Tuns bestimmen will, das von niemandem in der Welt erbeten wurde.

Nicht, dass es nicht viele Menschen am Hindukusch gegeben hätte – darunter viele Frauen und Kinder –, die den Terror ihrer Männer und Väter nicht verabscheut hätten. Doch wollten sie wirklich fremde Soldaten im Land, die

Tod und Verderben wahllos über Schuldige und Unschuldige brachten?

Gaucks Rede war eine Zwei-Schwerter-Rede. Als Pastor gebietet er über das geistliche, als oberster Politiker über das weltliche Schwert. Über Kriege kann er nicht bestimmen, doch er hat die Macht des Wortes.

Jenes Wort seines Erlösers war in seinem Herzen, als er seine geistlich-weltliche Rede hielt: „Und wer kein Schwert hat, verkaufe seinen Mantel und kaufe eins.“ Deutschland geht’s gut und besitzt viele Mäntel. Wird’s nicht Zeit, nun mehr Schwerter zu kaufen?

Zehn Jahre dauerte der Krieg am Hindukusch, um Deutschlands Freiheit zu verteidigen. Wollten wir unsere Freiheit verteidigen – oder die Freiheit der fremden Unterdrückten? Wollten wir uns einen Gefallen tun – oder wollten wir Kinder und Frauen in der Ferne vor ihren Peinigern schützen? Wie können wir sie schützen, wenn wir sie zu Waisen und Witwen machen?

In Deutschland ist es Tradition, dass Pastoren die Kanonen segnen. Das geistliche Schwert sagt Ja und Amen zum weltlichen Schwert im Namen des Herrn. Kein gläubiger Soldat muss ohne seinen himmlischen Streiter ins Feld der Ehre rücken:

„Denn der Herr, euer Gott, hat selbst für euch gestritten.“

„Auf bleibet treu und haltet fest
so wird euch mehr gelingen
wer sich von Gott nicht scheiden läßt
der kann die Hölle zwingen
Der alte Gott, der deutsche Gott
läßt sich noch immer schauen
und macht des Teufels List zu Spott
und seinen Stolz zu Grauen.“

„Behüt euch Gott ihr lieben meinen
der Kaiser ruft zur Fahne mich
O Mutter, Vater, laß das Weinen
jetzt gilt es Herz und Kraft erproben
Hört, was ein deutscher Krieger spricht
Vertrauet auf den Herrn dort oben …“

Lieder von gestern? Mag sein, dass die Soldaten sie nicht mehr singen. Doch sie würden sie gerne singen, sie müssten sie singen – wenn sie auf dem Boden der Verfassung stünden. Denn der Gott der Verfassung gehört zum Tross, wenn Soldaten des christlichen Abendlands die Welt vor sich selber schützen.

Vielleicht können sie die Botschaft nicht mehr glauben, doch sie würden sie gern glauben – sie müssten sie glauben. Wenn sie ihre vaterländische Gottespflicht erledigten. Im kapitalistischen Alltag gibt’s nur Rivalen und Gegner. Freunde und Kameraden, treu bis in den Tod, gibts nur bei Streitern Gottes.

„Eine Kugel kam geflogen,

Gilt’s mir oder gilt es dir?

Ihn hat es weggerissen,

Er liegt mir vor den Füßen,

Als wär’s ein Stück von mir.

Will mir die Hand noch reichen,

Derweil ich eben lad.

Kann dir die Hand nicht geben,

Bleib du im ew’gen Leben

Mein guter Kamerad.“

Im Feld ist das wahre Leben. Da zeigt sich, wer ein Mann ist oder ein wehrhaft Weib.

Der Herr der Heerscharen wird verschwiegen, wenn’s um deutsche Glaubenskriege geht. Bei Bora-Bora wird der Glaube des Westens verteidigt. Der Gott des Wohlstands auf Kosten anderer, der Gott der Naturzerstörung auf Kosten aller.

Der Gott in der Verfassung ist nur für sakrale Parlamentsreden, sein Name soll nicht unnützlich geführet werden. Gott darf nicht erwähnt werden, wenn seine Krieger die Trompeten blasen. Er darf nur genannt werden, wenn Soldaten in Särgen nach Hause kehren – oder im Triumph mit klingendem Spiel durchs Stadttor ziehen.

Gott darf nicht erwähnt werden, wenn Deutschland mehr Verantwortung für die Welt übernehmen will. Willst du in Deutschland Kriege führen, sprich von patriotischer Verantwortung oder wiederhole in selbstergriffener Joschkastimme: Nie wieder Auschwitz.

Gauck ist Pastor, als Politiker spricht er nie von Gott. Wieso hat man nur das Gefühl, er spreche dennoch über Ihn? Über anderes spräche er überhaupt nicht? Gebet dem Kaiser, was des Kaisers und Gauck, was des Thron & Altars ist.

Thron & Altar sind Staat und Kirche. Warum reden die Deutschen ständig vom Staat? Damit nicht auffällt, dass fast alle von der Demokratie nicht viel halten. Demokratie wird zum Staat verhunzt, danach werden ihm die Leviten gelesen, als sei er nicht der Wille des Volkes. Das Volk darf nicht verärgert werden.

Nicht nur Neoliberale ziehen ständig gegen den Staat ins Feld, er sei ein unersättlicher Dummkopf. Auch Kirchen lassen am Staat kein gutes Haar. Für sie ist er ein nützlicher Idiot, gut genug zur Eindämmung von kleinen Ganoven und betrügerischen Kassiererinnen. Zu allem anderen taugt er nicht.

Ist es nicht unverschämt, dass er „unseren Kindern“ Moral und Ethik beibringen will, wo dies der Auftrag der Gottesmänner ist? Ist es nicht unverschämt, dass er die Freiheit unserer Leistungsträger einschränken, sie systematisch mit Steuern ausrauben, dem Pöbel das Rauchen verbieten und ihm einen fleischlosen Tag aufnötigen will?

Gelegentlich muss man den Staat vor seiner Trottelhaftigkeit schützen, wenn Tafelparasiten ein Leben lang auf seiner Tasche liegen wollen.

„Der Staat hat die Aufgabe, in der noch nicht erlösten Welt, in der auch die Kirche steht, nach menschlichem Ermessen für Recht und Frieden zu sorgen – notfalls unter Androhung und Ausübung von Gewalt,“ schrieb Karl Barth in der Barmer Erklärung – jener calvinistische Theologe, mit dem Martin Walser wochenlang in deutschen Redaktionsstuben hausieren ging.

Barth widersetzte sich Hitler, bei Stalin hätte er sich nicht widersetzt. Er focht gegen die lutherische Obrigkeitslehre in Römer 13, jene Klausel, hinter der sich alle Möchtegern-Widerständler versteckten, um dem gottgewollten Führer keine Kugel durch den Kopf schießen zu müssen.

Weil die Welt noch nicht erlöst ist, darf man den Staat als nützlichen Idioten betrachten. Doch die unsichtbare, komplette Kirche ist Vorschein des Reiches Gottes. Obwohl Paulus unmissverständlich schreibt, dass es keine Obrigkeiten gebe, die nicht von Gott wären – „die bestehenden aber sind von Gott eingesetzt“ –, behauptet Barth dreist: „Der Staat, den Gott „anordnet“ (Röm 13,1), sei nie identisch mit Machthabern und Staatssystemen, sondern ihre ständige „Krise“, die ihnen jede eigenmächtige Legitimation entziehe.“

Trotz Dauerkrise dürften Staatssysteme weder reformiert noch revolutioniert werden. Staaten seien nicht legitimiert, müssten dennoch akzeptiert werden.

Systeme in permanenter Krise, die nicht verändert werden dürfen, können durch Wursteln nur notdürftig verwaltet werden. Dort der Pastor und hier die Pastorentochter ergeben zusammen eine demokratisch angehauchte Theokratie. Theokratien, die Verantwortung in der Welt mit Hilfe von Soldaten übernehmen, führen heilige Kriege gegen die sündige Heidenwelt. Wenn der Gott in der Verfassung ruft, ruft keine Verteidigungsministerin. Es ruft die Vorsehung persönlich.

Hat sich der Einsatz am Hindukusch gelohnt? Wer gibt die authentische Antwort? Wer wohl, wenn nicht diejenigen, die man zum westlichen Heil befreien wollte. Hat man sie gefragt? Wie kann man fragen, wenn man nur von weitem sehen und nicht aus der Nähe zuhören kann?

Haben die Mädchen, die eine Schule von innen sahen, eine gute Meinung von ihren Wohltätern? Oder ahnen sie, dass nach Abzug der Helden alles schlimmer werden wird? Vielleicht erlebten sie eine Perspektive von Freiheit und Selbstbestimmung – doch ihre Hoffnungen und Erwartungen werden in Kürze grausam enttäuscht werden.

Wie sehen die Afghanen ihre Befreier? Nicht mal ihre Dolmetscher will Deutschland als Flüchtlinge akzeptieren und überlässt sie ungerührt den Mordtaten der Taliban.

Wer nicht hören will, ob er humane Fortschritte brachte – oder nur bringen wollte, jedoch das Gegenteil erreichte –, der will nicht wissen, was er tat. Er legt keinen Wert auf die Rückmeldung seiner Liebesobjekte. A priori ist er überzeugt, dass er ein Menschheitsbeglücker ist.

Ein smarter Franzose spricht aus, was ganz Europa denkt: Am europäischen Wesen soll die Welt genesen:

„Welchen Sinn macht Politik, wenn sie heute nicht für die großen Werte Europas steht – für Freiheit, Demokratie und Humanismus? Alle großen humanistischen Philosophen sind europäisch. Das ist unser Erbe, unsere Kultur, welche zu einer Politik geformt werden muss, wie sie der einer ökonomischen Großmacht entspricht.“ (ZEIT-Interview von Georg Blume)

Ein unfasslicher Satz, wenn man weiß, wie europäische Aufklärer die chinesische Philosophie bewunderten. Weil jene nicht human war? Nein, sie war keine formelle Demokratie, besaß aber mehr demokratische Würde-Elemente als die westliche. Weder kannte sie Kapitalismus noch technischen Fortschritt noch grenzenlose Naturzerstörung. Mit diesen drei Ungeheuern werden keine westlichen Demokratien überleben, wenn sie sich weiterhin erlauben, die humanen Inhalte anderer Kulturen zu ignorieren. Wie können sie für humanes Leben sorgen, wenn sie unfähig sind, für bloßes Überleben zu sorgen?

Wie kann man sich um die Welt kümmern, wenn man sie für minderwertig hält? Wenn niemand es nötig findet, sich die Vorzüge der Welt anzuschauen? Die Kultur des Hinschauens kann nicht nur Wahrnehmen des Schlechten sein, sondern muss auch das Gute der Anderen sehen und lernen, das wir zum Überleben bitter nötig haben.

Kennen wir die folgende Stimme aus dem wilden Osten:

„Die westliche Welt ist sich kaum dieses überwältigenden Gefühls der Demütigung bewusst, das die meisten Menschen auf der Welt empfinden. Der Westen steht vor dem Problem, dass er nicht nur herauszufinden hat, welcher Terrorist in welchem Zelt, in welcher Höhle, auf welcher Straße welcher Stadt gerade eine Bombe vorbereitet, sondern auch die arme, verachtete und „ungerechte“ Mehrheit verstehen muss, die nicht zur westlichen Welt gehört.“ (Orhan Pamuk in Pankaj Mishra: „Aus den Ruinen des Empires“)

Orhan Pamuk sprach von Verstehen. Die westliche Welt des alleinseligmachenden Wohlstands kennt dieses Wort nicht mehr. In Gaucks Wörterbuch des überheblichen Theokraten fehlt das Wort völlig. Die Welt verstehen, für die er pastorale Verantwortung übernehmen will: das kommt in seiner ganzen Schutzrede nicht vor.

Verstehen heißt bei uns verzeihen. Verzeihen ist Schwäche und darf erst gar nicht aufkommen. Oh doch, sie selbst glauben, die Welt zu verstehen. Die Welt ist ein gefährlicher Ort, weil sie nicht wie der Westen ist. Sie malocht nicht wie der Westen, sie glaubt nicht an den Fortschritt der Menschheit durch seelenlose Maschinen, sie will arbeiten, um zu leben und nicht leben, um zu arbeiten. Sie hasst die Moderne und ist eifersüchtig auf den überlegenen Westen. Dennoch unternimmt sie alles, um uns zu überholen, abzuhängen und in die Knie zu zwingen.

„Deutschlands so definiertes Kerninteresse zu verfolgen, während sich die Welt rundherum tiefgreifend verändert, das ist eine der großen Herausforderungen unserer Zeit. Wenn es in den vergangenen Jahren eine Konstante gab, so ist es die Beobachtung, dass wir die Geschwindigkeit des Wandels permanent unterschätzen. Regelmäßig wundern sich Zukunftsforscher, dass Veränderungen in der Welt deutlich schneller Wirklichkeit werden als von ihnen prognostiziert. Das hat auch Konsequenzen für unsere Sicherheit: Unvermutet schnell geraten wir hinein in eine Welt, in der sich einzelne so viel Vernichtungskraft kaufen können wie früher nur Staaten. Eine Welt, in der ökonomische und politische Macht wandert und ganze Regionen aufrüstet.“ (Gauck-Rede in der FAZ)

Alles verändert sich in rasendem Puls messianischer Endzeit. Alle Veränderungen sind gegen uns gerichtet und wollen uns vernichten. Weshalb wir ständig aufrüsten müssen, um die bösartigen Rivalen niederzukartätschen. Eine offene Welt ist ein gefährlicher Dschungel, in dem wir gegen alle konkurrieren, damit sie uns nicht zur quantite negligeable degradieren – wie wir sie seit Jahrhunderten.

Dennoch sind wir die besseren Konkurrenten. Mit der „Tauschwirtschaft“ – so die Gauck‘sche Umschreibung des menschenmordenden Kapitalismus – können wir auch Werte tauschen.

Nein, nicht tauschen. Die anderen haben keine Werte anzubieten. Werte liefern. In, mit und unter den „Tauschwaren“ liefern wir frei Haus die kostbarsten Werte. Kaufet 100 Bulldozer und Panzer und ihr kriegt ein Pfund Werte kostenlos obendrauf. Wie wär‘s mit einer Prise Nächstenliebe oder doch lieber eine volle Packung Intoleranz? Ja, wenn der Wilde Osten auch den westlichen Gott mit importieren würde, dann wäre alles im grünen Bereich. Doch verstockte Heiden können die Überlegenheit des Westens nicht würdigen.

„Deutschland ist überdurchschnittlich globalisiert und profitiert deshalb überdurchschnittlich von einer offenen Weltordnung – einer Weltordnung, die Deutschland erlaubt, Interessen mit grundlegenden Werten zu verbinden.“

Ist das nicht das Ei des Kolumbus: Interessen kann der Westen mit Werten verbinden? Bislang hieß es, Politik sei das Feld egoistischer Interessen. Mit „Bergpredigt“ könne man keine Politik machen. Anders bei unserem pastoralen Bismarck, der sündigen Mammon mit humanen Werten synthetisieren kann. Hegel würde vor Neid erblassen ob solch dialektischer Zauberstücke.

Der Westen befindet sich noch immer im Stadium kolonialer Hybris. Er allein hat das Humane erfunden, er allein kennt das Patentrezept zur Beglückung der Welt. Er allein kann auf Dialog mit seinen „Partnern“ verzichten, die keine Partner, sondern Glücksempfänger sind.

Dafür müssen sie kräftig zahlen. Westliche Verantwortung gibt’s nicht zum Nulltarif. Diverse Vorzugsbehandlungen für europäische Massenhühnchen müssen da schon herausspringen. Oder für pfeilschnelle, naturvergiftende Autos, mit denen man die Wüste Sahara in eine einzige Staubwolke verwandeln kann.

Kann der überlegene Westen auch vom Wilden Osten lernen? Soll das ein Witz sein? Hat China nicht unendliche Zeiten unbeweglich in sich geschmort?

Höret, was ein Chinese in den 20ern, als sein Land noch nicht vom Westen verwüstet war, als Vorzug einer uralten und weisen Kultur anzubieten hatte. Zang Junmai, Schüler des phänomenalen Liang Qichaos, an den menschenverachtenden Westen:

„Die Grundprinzipien, in denen unsere Nation gründet, sind Quietismus im Unterschied zum westlichen Aktivismus, spirituelle Zufriedenheit im Unterschied zum Streben nach materiellen Vorteilen, agrarische Selbstversorgung im Unterschied zum merkantilistischen Profitstreben und ein moralisches Gefühl für Brüderlichkeit statt Rassentrennung. Unsre Nation kann trotz Armut ein gewisses Maß an Gleichheit gewährleisten und trotz Knappheit den Frieden sichern.“

Meine lieben Geschwister, ist es möglich, dass nicht der Westen Verantwortung für die Welt, sondern die Welt Verantwortung für den Westen übernehmen müsste – wohlgemerkt die Welt in ihrer einstigen Unberührtheit?

Weil wir elementare Fähigkeiten des Zusammenlebens mit Mensch und Natur seit Jahrhunderten einer weltfeindlichen Religion aufopfern?