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Antagonistische Gesellschaft

Hello, Freunde der antagonistischen Gesellschaft,

Steuerhinterziehen, die anderen über den Tisch ziehen, lügen, betrügen: je mehr Unmoralisches nach oben kommt, je moralischer wird die Gesellschaft.

Der Mörder auf der Couch muss seine Tötungsgedanken offen legen, wenn er sie in den Griff kriegen will. Offen legen, heißt Probehandeln im Kopf, nicht in realen Werken. Je freier ich in Gedanken werde, je weniger muss ich meine Obsessionen in Taten umsetzen. Die Gesellschaft wird moralischer, weil ihre Unmoralität ans Licht kommt.

Wie passt das zur wachsenden Bereitschaft, den Wohlstand der Deutschen militaristisch in aller Welt zu verteidigen? Was sich entwickelt, entwickelt sich in Widersprüchen. Hegel hat aus dieser Beobachtung ein ehernes Gesetz gemacht: die Dialektik mit den drei Stufen: Satz, Gegensatz und finale Harmonie oder Versöhnung. Am Ende wird alles gut.

Selbst in der Natur rattert die Entwicklung im unaufhörlichen Dreiertakt. In der göttlichen Dreieinigkeit geht’s auch nicht ohne Widersprüche. Gott ist am Anfang, da war alles sehr gut. Dann war doch nicht alles gut, sondern besonders schlecht und der Sohn musste für seinen Vater die Kohlen aus dem Feuer holen, nicht ohne erhebliches Bauchgrimmen: Vater, lass diesen Kelch an mir vorüber gehen. Zu einem richtigen Konflikt durfte es aber nicht kommen – doch dein Wille geschehe –, sonst wären drei Götter entstanden, aber keine Drei-Einigkeit.

Der Urgedanke der Dialektik ist die Erfahrung, dass ohne Streiten nichts geht. Im Streit enthüllen sich unterschiedliche Meinungen, die miteinander kämpfen müssen, damit der Prozess der Wahrheitsfindung voranschreiten kann. Empedokles sprach

vom Streiten und Lieben der Elemente.

„Nicht von Anfang an zeigten die Götter den Sterblichen alles, Sondern sie finden das Bessere suchend im Laufe der Zeiten.“ So dichtete Xenophanes, der Lieblings-Vorsokratiker Poppers. Wahrheit muss man suchen, sie fällt niemandem in den Schoss, sie will erarbeitet, erstritten und erkämpft werden.

Der Held des Evangeliums knüpft an die Erfahrungen der Heiden an, garantiert aber ein gutes Ende – vorausgesetzt, der Suchende findet den Erlöser, der alle Suche beendet, weil Er die ungeteilte Wahrheit besitzt: Suchet, so werdet ihr finden, klopfet an, so wird euch aufgetan. Wer das Wahrheitssuchen aufgibt und beim Allwissenden kapituliert, dem wird Allwissenheit als Dank für seine Unterwerfung geschenkt.

Menschen suchen, Gott findet – das ist Religion. Menschen suchen, vielleicht finden sie, vielleicht gehen sie in die Irre oder gar ins Verhängnis – das ist Philosophie.

Garantien gibt’s nur in der Religion – auf der Ebene des Glaubens. Die Frommen müssen glauben, dass sie im Vollbesitz der Wahrheit sind, sonst könnten sie den Verstockten nicht guten Gewissens mit dem weltlichen Schwert den Kopf abschlagen. Religion ist absolute Garantie und Versöhnung aller Widersprüche und Konflikte – im Himmel. Für den, der sich unterwirft und seine eigene Suche einstellt.

Religiöse Menschen halten die Spannungen des Suchens ohne garantiertes Finden nicht aus. Sie sind allergisch gegen Ungewissheiten und wollen das Ei des Kolumbus schon hier und jetzt. Dass sie ein Leben lang suchen und am Ende nichts finden könnten, dieses Risiko vermeiden sie wie die Pest.

Wie kommt es aber, dass ausgerechnet religiöse Menschen die Risiken des Geldsuchens willig auf sich nehmen? Weil bei ihnen das Risiko der absoluten Sinnsuche gelöst ist. Neocalvinisten stehen mit dem Rücken zur Wand, sie sind sich ihres Heils gewiss. Also können sie sich den kleinen Nervenkitzel beim Zocken und Fuggern mit links leisten. Ist Gott für sie, wer kann wider sie sein?

Die tollkühnsten Streiter und Gotteskrieger sind diejenigen, die sich eins fühlen mit der Vorsehung, der Geschichte, der Evolution oder den Gesetzen der Ökonomie. Wer identisch ist mit den Riesenmächten der Welt, der kann auf Unterstützung unbesiegbarer Kohorten vertrauen. Das können Mehrheiten sein, auserwählte Minderheiten, der Zeitgeist, Wissen, Geld oder militärische Macht. Wer auf der rechten Seite der Geschichte steht, den lässt sie nicht im Stich.

Wenn doch, hat er den Zweiten Weltkrieg verloren, Bankrott gemacht oder ist vom Glauben abgefallen. Und endet als Völkerverbrecher oder in der Bedeutungslosigkeit, als gescheiterter Glücksritter, Fantast oder muss sich am Ende seines verpfuschten Lebens ins Messer stürzen.

Widersprüche und Konflikte sind die besten Such-Mittel nach der Wahrheit. Kann es etwas Erregenderes geben als bei diametralen Positionen die Frage zu stellen: welche Meinung hat Recht?

Gesellschaften in Widersprüchen sind lebendige Gesellschaften, sofern sie die Widersprüche nicht unter den Teppich einer vorgeschriebenen Elitenwahrheit kehren. In totalitären Gesellschaften ist die Suche nach der Wahrheit mit einem Machtspruch von Oben beendet. Roma locuta, causa finita: Rom hat gesprochen, die Sache ist beendet.

(Momentan wird von sexuell unerfahrenen Männern in Rom eine neue Sexualmoral ausgedacht, die sie ihren Schäfchen verordnen. Ob die sich dran halten oder nicht, den Glauben an nicht irren könnende erleuchtete Männer wollen Milliarden Menschen auf der Welt nicht missen. Wenn sie schon selbst fehlbar sind, wollen sie wenigstens eine unfehlbare Instanz im Rücken haben, der sie bedingungslos vertrauen können.)

Oder: die Gesetze der Ökonomie sagen uns, dass die Hartz4-Empfänger viel zu viel Geld kassieren und schuld sind am geringen Wachstum unsrer Wirtschaft. (Nebenbei: nicht die Deklassierung der Schwächsten in Sozialempfänger, sondern die Tüchtigkeit der Industrie hat der deutschen Wirtschaft ihren Spitzenplatz beschert.)

Oder: der Zentralrat der Partei ist zusammengetreten und hat beschlossen. Ergo gibt’s keine öffentlichen Debatten mehr.

Heilige Schriften, fromme Männer, unfehlbare Parteien und Kirchen, aber auch platonische Philosophen, die den vollkommenen Staat regieren: sie alle haben Macht und Kompetenz, das Suchen mit einem Donnerspruch zu beenden. Wer dagegen aufmuckt, sollte George Orwells 1984 lesen, um zu ahnen, was passieren kann, wenn man einer irrtumslosen Institution widerspricht.

Auch in neoliberalen Demokratien beginnt der Virus zu wirken, wenn Pofalla vor der Presse die Debatte um die NSA für beendet erklärt. Pofalla locuta, NSA finita. Noch darf man in westlichen Demokratien widersprechen, sogar einem TV-Hanswurst wie Markus Lanz – obgleich der seine Gäste rigoros unterbricht, wenn sie „wieder das Geläufige“ reden.

Doch der Widerspruch wird bereits in die Vorhölle verbannt, wenn Josef Joffe die Lanz-Kritiker mit Nazis vergleicht. In ähnlichem Brustton der Unfehlbarkeit hat ein amerikanischer Milliardär alle Kritiker des Kapitalismus prophylaktisch zu Nazis erklärt. Wer den Neoliberalismus nicht als göttliches System anbetet, muss ein Höllenhund sein.

Je ehrlicher die Gesellschaft auf der einen Seite wird, je reaktionärer und faschistoider wird sie auf der anderen. Wenn Lichtgestalten wie Beckenbauer und fast der gesamte Sport Menschenopfer in Katar und Brutalitäten in Sotschi ungerührt hinnehmen, wenn TV-Anstalten Pseudokritik üben, aber jeden Furz übertragen und jeden Sieger bejubeln, dann verroht die Gesellschaft in der Diagonalen und wird zum Echoraum der Erfolgreichen um jeden Preis.

Die Gesellschaft wird antagonistisch. Solange sie ihre Widersprüche wahrnehmen und debattieren kann, solange ist sie lebendig. Doch die Tendenz geht immer mehr in Richtung Ruhigstellung der niederen Horden, der Netzgemeinde, des Pöbels, der Überflüssigen.

Der patriarchalische Ton wird immer ungeduldiger: Kritik ja – oh Danke! – aber nicht in diesem Ton. In welchem Ton? Haben wir keine Gesetze, die bestimmte Schmäh-Tonarten verbieten? Was nicht verboten ist, ist erlaubt, Herrgott Sakrament. Wir brauchen keine Gouvernanten, die uns sagen: Scheiße sagt man nicht.

Shit happens, also her mit den Shitstorms. Spontane Meinungen sind wenigstens ehrlich und erfüllen die Funktion einer kollektiven Selbsttherapie. Wann durfte das deutsche Volk je ungehindert seine Meinungen sagen und seine Gefühle zeigen?

Sind die Oberen ehrlicher, wenn sie sich einer facon de parler unterwerfen oder einer Höflichkeit, die nach Schopenhauer kollektive Doppelzüngigkeit ist?

Das Volk hatte früher gar nicht die technischen Möglichkeiten, just in time sein Herz zu offenbaren. Wie empfindlich die Öhrchen der Oberen und ihrer medialen Knechte sind, wenn sie einmal à la Luther heruntergeputzt werden. Waren sie auf Luther nicht stolz?

Man sollte sich mal seine Schriften wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern anschauen, um zu erkennen, dass deutsche Ehrlichkeit eine Umschreibung für Grobianismus, ja für messianischen Hass war, was niemand vorbildlich nennen kann. Doch antilutherische Säuselkunst ist auch nicht der Gipfel öffentlicher Katharsis.

Die Medien gerieren sich als selbsterwählte Maitres de Plaisir, weil sie als bürgerliche Bürschchen mit den Schmuddelkindern nicht spielen und deren obszöne Lieder nicht singen durften. Aus Rache erheben sie den Zeigefinger und sagen kühn zum Volk: Du, Du, das sagt man nicht.

Kein Wunder, dass dieselben Sensibelchen dem Metzgersohn Stefan Raab den Grimmepreis nachwerfen wollen, weil er – in einer der unwürdigsten und schmachvollsten Sendungen der letzten 100 Jahre – bei Steinbrück und Merkel einmal sein Riesengebiss fletschte.

Die deutsche Sprache ist zu jener französischen geworden, der einst die Stürmer und Dränger vorwarfen, sie diene allein der Heuchelei und Doppeldeutigkeit, aber nicht der Deutlichkeit und Wahrheit.

Die Gesellschaft wird ehrlicher und verlogener, freier und reaktionärer. Ihre humanen Chancen vergrößern sich wie ihre faschistoiden Gefahren. Je freier das Wort, umso mächtiger die unsichtbaren Lauscher aller Geheimdienste dieser Welt, die dich zum Vaterlandsverräter machen, weil du ein patriotischer Demokrat bist, der noch an jene Werte glaubt, die den Speiern und Spähern gar nicht mehr geläufig sind. Wer seine Demokratie davor bewahren will, sich in Despotie zu verwandeln, dem wird Mord und Totschlag angedroht. Unser freiheitsliebender Bundespräsident beschreibt diesen Vorgang: da haben unsere besten Verbündeten ein wenig übertrieben.

Was sind die Peanuts von Hoeneß und Schwarzer gegen Merkels und Gaucks Verstöße gegen ihren Amtseid, Schaden vom Volk zu wenden?

Aus purer Angst vor dem Großen Bruder jenseits des Atlantiks verhökern die Eliten das Volk an die Wallstreet-Haie, Chlorhühnchen-Fabrikanten und Guantanamo-Wächter. Das war, halten zu Gnaden, eine pro-amerikanische Liebesäußerung. Wahre amerikanische Patrioten sehen das keinen Deut anders.

Die Deutschen wagen kaum noch zu atmen. Ihr vorauseilender Gehorsam stinkt in den Fernsehstudios, den Hinterstuben der Macht, in den Redaktionen der Ohrenbläser gen Himmel. Ihre Scheren im Kopf haben ihre Vorderhirnlappen schon zu Mus gemacht. Warum zitieren sie so genüsslich die jeweiligen Jugendsprachen? Weil sie vulgär sein dürfen, ohne einen Rüffel zu erwarten.

Es ist eine Schande, dass Medien in den Medien nie in Frage gestellt werden. Wie reagieren Medien, wenn sie angegriffen werden? „Ja natürlich, wir Medien sind an allem schuld.“ Das war‘s. Im ganzen bildungsbeauftragten öffentlich-rechtlichen Fernsehen gibt’s keine einzige Sendung mit einem sinnvollen Dialog. (Herr Voss zählt nicht, er stellt Intendanten-Fragen, die man in dem Moment vergessen hat, in dem er sie stellte.)

Vor vielen Dekaden gab es einen Günter Gaus, der noch wusste, wie man ein spannendes Gespräch führen kann. Einen Nachfolger hat er nie gefunden. Deutschland ist in jene geistige Wüste zurückgekehrt, die sich nach dem 30-jährigen Krieg 100 Jahre lang über die toten Provinzen ausbreitete. Heute verbietet uns kein Krieg das Denken, sondern die Alleinherrschaft der Ökonomie, die nichts gelten lässt außer Rendite, Profit und Luxusyachten.

Eine Sendung wie Die Goldene Kamera hätte Dieter Hildebrandt sich nicht mal als Satire vorstellen können, aus Angst vor maßloser Übertreibung. Keine deutschen Mandelas könnten höher gepriesen werden als Köche mit Schnauzbärten oder sonstige Granaten der seichten Volkserheiterung. Der Unterhaltungssektor, der sich als vergnügliche Abteilung des Journalismus definiert, besabbert sich mehrmals im Jahr vom Bambi über die Goldene Kamera mit unerträglichem Selbstlob, immer in PR-Diensten der Burda-Familie oder sonstiger Dynastien.

(Maria Furtwängler, Frau des Herrn Burda und Nicht-Schauspielerin, ist rein zufällig die beliebteste Tatort-Kommissarin des BILD- und Hörzu-Publikums. Kann die Korruption in Berlusconi-Italien größer sein?)

Es versteht sich von selbst, dass der Presseclub tagelangen öden Sportveranstaltungen weichen muss. Desgleichen, dass ausländische Journalisten nur zur Debatte geladen werden, wenn der Presseclub ausfällt.

Es versteht sich, dass in den Talkshows immer dieselben 40 bis 50 Hanseln sitzen, deren Meinungen man auswendig kennt. Sieht man, wer in der Runde sitzt, könnte man apriorische Gesprächsverläufe entwerfen und das sich das Zusehen ersparen.

Aus einem Aufklärungsinstrument wurde das Fernsehen zur Seifenoper in Permanenz – den Operettenfilmen eines Propagandaminsters namens Goebbels vergleichbar –, die von der misslichen Realität der Ausgebrannten und Depressiven abzulenken hat. Die Eliten segnen alles ab, solange das Volk mit Brot und Dschungelspielen anästhesiert wird.

Wie sagte Warren Buffett? Wir Reichen haben den Armen den Krieg erklärt, den werden wir gewinnen. So offen und ehrlich sind deutsche Eliten nicht. Unter sich – Vorsicht, Verschwörungstheorie – gelobten sie sich, das Volk solange zu narkotisieren, bis es ohne Murren die protestantische Malocherethik zur Vollendung bringt und ihre freie Zeit mit der Familie als Sünde wider den Heiligen Geist betrachtet.

In wenigen Tagen beginnt Sotschi. Nachdem die kritischen Pflichtsendungen in den Nachtprogrammen begraben wurden, werden die deutschen Bildungssender alles unternehmen, um zu Ehren Putins jeden Athleten zu illuminieren und ins rechte Licht zu rücken. Wie lange haben sie trainiert, diese stählernen Körper und elastischen Gehirne, nun sollten ihre Mühen wegen demokratischer Verblasenheiten umsonst gewesen sein? (DIE WELT: ARD und ZDF feiern einen Rekord in Sotschi)

Widerstandslos ist das Land der Neugermanen zur hinterwälderischen Provinz Amerikas geworden. Sie singen ihre Lieder, imitieren ihre Wirtschaft, kopieren ihren Glamour, buckeln vor ihren Stars, knien vor Silicon-Valley und lassen sich von ihnen bis ins Schlafzimmer ausspähen.

„Thank you, Mister President, daß Sie uns in Ihrem allwissenden Auge bewahren. Stolz können wir sagen: Von Gott und Amerika werden wir beobachtet – also sind wir.