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Europäische Schlafwandler

Hello, Freunde der flüchtigen Milliardäre,

es war schon immer etwas teurer, exquisit abzuleben. Man kann sich Mausoleen oder Cheopspyramiden bauen lassen, als Kaiser in Kyffhäusern überwintern, sich als Erlöser kreuzigen lassen, um die Lizenz zur Himmelfahrt zu erleiden – oder seine Milliarden für eine Reise ohne Wiederkehr zum lieblichen Mars nutzen.

Da wir hienieden nur 700 Milliardäre haben, die das Weltvermögen fürsorglich unter ihre Fittiche nehmen, scheint das Problem lösbar, sie in nächster Zukunft per Flug in den Weltraum loszuwerden. Wo sind Tycoons vor dem Neid des Pöbels am sichersten? In der Tiefe des Weltraums.

Superreiche haben Besseres verdient als ordinäres Vermodern in irdischer Erde. Bei Temperaturen bis zu -133 Grad dürfen sternensüchtige Abenteurer den Vorgeschmack ewiger Seligkeit erwarten. Also up up and away. Hebt ab, guys, damit die Erdengesellschaft sich von euch reinigen möge. (Gerhard Hegmann in der WELT)

Was den Reichen die postmortale Segregation, ist den Losern die „soziale Aktivierung“ des angeschlagenen Selbstbewusstseins durch einen Marathonlauf (42,195 km). Ein durchtrainierter Gesundheitsexperte: „Körperliche Fitness stärkt das Selbstbewusstsein. Arbeitslose für sportliche Aktivitäten zu motivieren, hilft, um wieder fit für den Arbeitsmarkt zu werden. Dazu gehört z.B. auch Lauf-Training für einen Marathon.“

Das Leben in selbstverschuldeten Hartz4-Verhältnissen ist nicht nur diskriminierend, sondern auch gesundheitsschädlich. „Anhaltende Arbeitslosigkeit ist ein großes gesundheitliches Risiko, gleichzeitig würden kranke Erwerbslose kaum

einen Job finden. Arbeitslose sollen durch die Kooperation motiviert werden, an gesundheitsfördernden Maßnahmen wie etwa Bewegungs- oder Stressbewältigungskurse teilzunehmen.“ (BILD)

Natürlich ist auch ein SPD-Beschämungs-, pardon Gesundheitsexperte ein spontaner Befürworter der national notwendigen Erziehungsmaßnahme aller Überflüssigen. Er hört auf den Namen Edgar Franke. Eine echte Volksertüchtigungsidee nach dem bekannten Schema Kraft durch Freude!

Ein Gespenst geht um in Deutschland, vielleicht in ganz Europa: die Angst vor der Wiederholung des Ersten Weltkrieges. In seinem Bestseller „Die Schlafwandler“ stellt der australische Historiker Christopher Clark die „deutsche Schuld am Ersten Weltkrieg in Frage“. „Der Kriegsausbruch folgte keinem Automatismus, er hätte vermieden werden können.“

Wenn der Professor aus Cambridge die deutsche Schuld in Frage stellt, wie passt dazu sein Satz: „Das Buch stellt der deutschen Außenpolitik keinen Freispruch aus, überhaupt nicht.“?

Wie sich das für die heutige Debattenkultur gehört, ist von dem deutschen Historiker Fritz Fischer – der die Deutschen als Hauptschuldige am Krieg bezeichnet hatte – nicht die Rede. Es ist ein Aufatmen im deutschen Blätterwald zu vernehmen, wenn ein objektiver Wahlengländer die Deutschen von ihrer übermäßigen Schuld entlastet. Clarks Buch steht an der Spitze der Bestsellerlisten: endlich stehen wir Deutschen nicht mehr allein am Pranger.

Merkwürdigerweise steht die Entlastung im Zusammenhang mit einer plötzlich aufkommenden Furcht vor einer Wiederholung des Krieges. Auch im Fernen Osten spricht man von wachsendem Imperialismus beim Streit zwischen Japan und China. Der Nahe Osten wird derweilen von Kerrys Tour de Force anästhetisiert. Wird, was ziemlich wahrscheinlich ist, seine Holzhammertherapie demnächst scheitern, werden die Folgen schrecklich sein.

Genügt die Klimakatastrophe noch nicht? Braucht die Menschheit einen Krieg, um sich von den Folgen eines allzu langen und lähmenden Friedens zu befreien? Frieden ist gut für die Wirtschaftsentwicklung, doch zieht er sich in die Länge, wird Frieden kontraproduktiv. Viele Völker sind übersättigt und luxuriös überschwemmt.

Es muss wieder für gesunde Nachfrage gesorgt werden. Wenn nicht anders, müssen die überquellenden Läger durch Gewalt geräumt werden, damit die Produktion immer mehr angeheizt werden kann. Frieden kann ätzend wachstumsfeindlich sein. Der Mensch will Eintracht, die Ökonomie weiß es besser, sie will Zwietracht, damit die Motivation nicht einschläft. Es muss eine gesunde Schrapnell-Spannung in der Luft liegen, damit die Konkurrenten sich gegenseitig zu immer neuen Höchstleistungen an-feuern (das war keine Metapher).

Die längste friedliche Epoche der Weltgeschichte – jedenfalls zwischen den relevanten Staaten der Welt – schlägt den Friedensgeschädigten allmählich aufs Gemüt. Für dauerhaften Frieden ist der homo sapiens einfach nicht geschaffen. Soll er verhaustieren, verbiedermännern, verspießern, verdomestizieren, verübervernünfteln, vergehirnen, am Ende gar klug und weise werden? Sollen Friede, Freude, Eierkuchen die Summa einer redlich-militaristischen Menschheitsgeschichte sein?

So weit kommt‘s noch. Das wäre so was von unfair dem Geschlecht gegenüber, das aus dem Dunkel ins Helle strebt. Nun muss es zurück in die wohltuend abgedunkelte Höhle des Platon oder in die vertraute Hölle der Jesuaner. Die Sonne bringt alles an den Tag – also weg mit der verräterischen Offenbarerin der conditio inhumana.

Den Völkern gelüstet es nicht nach Krieg. Sie wollen – einfältig, wie sie sind – nichts als Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Doch die Eliten wollen Remmidemmi, damit das Blut in den Adern zirkuliert und fruchtbare Zerstörung in die Bude kommt, wie der österreichische Ökonom Schumpeter den wurmstichigen Menschen genau kannte. (Götz Aly wusste von vorneherein, dass Araber zur Freiheit untauglich und ihr arabischer Frühling ein bloßes Illusionstheater in der Wüste ist.)

Der Kapitalismus lebt von Schaffen und Vernichten. „Der Herr tötet und macht lebendig; er stößt in die Grube und führt herauf. Der Herr macht arm und macht reich, er erniedrigt und erhöht – denn der Mensch vermag nichts aus eigener Kraft. Des Herrn Widersacher werden zerschlagen und der Höchste im Himmel zerschmettert sie.“

(Dazu die hemmungslose Standard-Lüge in Wiki im Artikel über den Krieg: „Darum ist der tätige Einsatz für weltweiten Frieden für Christen wie für Juden integraler Bestandteil ihres Glaubens.“)

Der Kurs der Welteliten steht nicht auf Frieden und Verständigung. Die Vorbildphase der Nachkriegszeit, in der die Menschheit durch unermesslichen Schaden klug werden wollte, scheint in den oberen Etagen vorbei. Von West bis Ost sind humane Visionen verboten. Das orthodoxe Russland, das evangelikale Amerika: die Gegner im Kalten Krieg wollen Weltmacht Nummer eins werden oder bleiben.

Putin küsst den Ring des Moskauer Metropoliten, Obamas Rhetorik ist apokalyptische Predigtsprache. Im Namen amerikanischer Heiligkeit tötet Obama ungläubige Muslime persönlich mit geistgesteuerten Drohnen. Wie lange dauert es noch, bis er Gottlose im eigenen Land ausrotten wird? Putin bedroht alle Regimegegner mit dem Tod. (Und nur ein einziger deutscher Athlet – Neureuther – protestiert gegen Sotschi.)

Während Hollywood in entente cordiale mit der NSA und dem Pentagon das angesteuerte Armageddon mit Blut-, Tränen- und Weltuntergangsfilmen bebildert die Welt überflutet und zum Endkrieg aller gegen alle präpariert, werden rationale und friedliche Zielvorstellungen von fast allen Intellektuellen als Blauäugigkeit niedergebügelt. Ja, vor ihnen wird gewarnt. Die Schwächsten, die Friedlichsten sind die Gefährlichsten (Götz Aly). Sie sind Wölfe im Schafspelz. Wölfe im Wolfspelz sind den Gelehrten unbekannt.

Was ist geschehen? Vor zwei bis drei Jahrzehnten sollte eine enthemmte Globalwirtschaft den potentesten Westnationen die uneingeschränkte Weltherrschaft sichern. Das Ziel wurde verfehlt, die unterentwickelten Staaten holten auf. China, Indien und Brasilien sind dabei, die ausgebrannten Europäer und übergeschnappten Amerikaner einzuholen. Bald werden sie an der Spitze der Weltwirtschaft stehen. Die Rangliste der reichsten Männer der Welt – Frauen gibt es nur wenige – umfasst alle Riesenstaaten des Globus.

(Ein dreister Chinese will sich sogar die New York Times unter den Nagel reißen; wenn das kein veritabler Grund ist, einige Flugzeugträger ins Chinesische Meer zu schicken, um diesem Neureichen die rote Karte zu zeigen.)

Trotz Wallstreet und gezielten Weltwirtschaftskrisen – um die Geldströme in allergrößtem Format nach oben zu leiten und die Völker auszubluten –, ist es dem christlichen Westen nicht gelungen, den Rest der Welt neokolonial an die Kette zu legen. Wenn kein Wunder geschieht, droht eine baldige Vorherrschaft der Konfuzianer, Hinduisten und Candomble-Götter über die Monotheisten.

Also muss ein Wunder geschehen. Rüstet auf, ihr heiligen Krieger. Man weiß nie, wozu Raketenabwehrmaßnahmen gut sein können.

Die Deutschen kennen die kreativen Vorzüge schnuckliger Kriege. „Im Krieg zeigt sich die Kraft des Zusammenhangs aller mit dem Ganzen. Krieg ist der Geist und die Form, worin das wesentliche Moment der sittlichen Substanz vorhanden ist. Nationen gewinnen durch Kriege nach außen Ruhe im Innern.“ (Hegel)

Selbst Kant, der als einer der Ersten an die Möglichkeit eines Ewigen Friedens glaubte, ist kein grundsätzlicher Gegner des Krieges:

„Selbst der Krieg, wenn er mit Ordnung und Heiligachtung der bürgerlichen Rechte geführt wird, hat etwas Erhabenes an sich und macht zugleich die Denkungsart des Volks, welches ihn auf diese Art führt, nur um desto erhabener, je mehreren Gefahren es ausgesetzt war und sich mutig darunter hat behaupten können: da hingegen ein langer Frieden den bloßen Handelsgeist, mit ihm aber den niedrigen Eigennutz, Feigheit und Weichlichkeit herrschend zu machen und die Denkungsart des Volks zu erniedrigen pflegt.“

Just in dieser Gefahr der Verweichlichung, des Eigennutzes und der Feigheit durch unbegrenztes Wirtschaften befinden wir uns. Wenn die Börsen unfähig sind, die Vorherrschaft der Erwählten zu befestigen – müssen die Torpedos entsichert werden.

Was will Clark? Um den freien Willen der Menschen zu beweisen, hätte er Kant studieren sollen, aber nicht die Verflechtungen eines Krieges, die ohnehin nichts beweisen. Der freie Wille ist – nach Kant – theoretisch unbeweisbar. Weder, dass es ihn gibt, noch, dass es ihn nicht gibt. Man muss sein dickes Buch nicht gelesen haben, um zu sagen – vorausgesetzt, man glaubt an den Freien Willen –, dass es in der gesamten Geschichte keine Automatismen des Menschen gibt.

Noch nie waren Menschen bloße Maschinen. Zwar stehen sie unter psychischen, religiösen, politischen und sonstigen Zwängen. Was aber nicht bedeutet, dass sie ihre Zwänge nicht mit Einsicht und selbstkritischer Reflexion erkennen und überwinden könnten. Muss man unendlich viele Akten und Bücher gelesen haben, um festzustellen, was jedes freie Kind weiß – dass es frei ist?

Clark nennt die Europäer Schlafwandler. Schlafwandeln – Somnambulismus – ist eine Krankheit, die den Willen der Betroffenen erheblich einschränkt. „Am nächsten Morgen können sich die Betroffenen in der Regel nicht an ihre nächtlichen Aktivitäten erinnern (retrograde Amnesie).“ Macht Clark nicht selbst Erinnerungsarbeit? Ist er der einzige wache Mensch unter Schlafmützen? Wessen Willen eingeschränkt ist, dessen Schuldfähigkeit ist nicht vorhanden.

Einerseits will Clark die Schuld unter allen europäischen Großmächten gerecht aufteilen – und nicht einseitig Deutschland anklagen –, andererseits streicht er alle Schuldfähigkeit der Nationen, indem er sie aufs Krankenlager verlegt.

Erstaunlich, wie Historiker an Erkenntnissen anderer Fakultäten vorübergehen und die Wald- und Wiesenpsychologie ihrer bürgerlichen Umgebung für ausreichend halten, um „komplexe Weltereignisse“ zu erklären. „Alles, was 1914 geschah, folgte keinem Automatismus, es waren Entscheidungen aus freien Stücken. Jeder Entscheidungsträger hatte Optionen. Aber sie waren überzeugt, unter Zwang zu handeln. Damit haben sie sich quasi zu Automaten hinabgedacht.“

Freud war Zeitgenosse dieser Ereignisse – an anderer Stelle wird er sogar zitiert – doch seine grundlegenden Erkenntnisse werden von Clark ignoriert. Wo Es war, soll Ich werden. Das Es ist das Ensemble aller menschlichen Zwänge, die durch die anamnestische Kraft des Ich überwunden werden können.

Das Buch will die Schuldfrage neu beantworten. Dennoch ist das Buch „nicht primär an der Frage der Schuld interessiert“?

Was ist überhaupt Schuld für den Autor? Ein willkürliches Urteil ohne empirische Grundlage? Das wäre theologische Schuld und hätte in einer Wissenschaft nichts zu suchen. Schuld ist causa. Wer am meisten verursacht, der ist am meisten schuld. Kausalitäten müssen nachgewiesen werden, keine Gottesurteile.

Es ist ein Verdienst Clarks, auf den gruppendynamischen Prozess der Kausalitäten hingewiesen zu haben. In einem uralten, eng verflochtenen Gruppenverband wäre es merkwürdig, wenn nur einer die Schuld hätte. Da schaukelt sich vieles bewusst oder unbewusst gegenseitig hoch. Was aber nicht bedeutet, dass es keine Hauptübeltäter geben kann, die strenger mit sich ins Gericht gehen müssten als ihre weniger schuldigen Nachbarn. (Interview mit Christopher Clark in der WELT)

In einer TV-Debatte mit dem Freiburger Historiker Wolfram Wette, der auf die kriegsfeindliche, ja fast pazifistische Atmospäre im damaligen Frankreich verwies, hatte Clark keine Gegenargumente. Nicht nur Bismarcks Blut- und Eisen-Politik, die ganze deutsche Sonderweg-Mentalität des Heiligen Krieges gegen den dekadenten Westen blieb unerwähnt. Auch über die Kontroverse „1914 gegen 1789“, in der fast alle deutschen Gelehrten martialische Bücher gegen die dekadenten demokratisch-menschenrechtlichen Weststaaten schrieben, fiel kein Wörtchen.

Geschichte besteht nicht nur aus Schlachten und diplomatischen Noten. Sie ist die Gesamtsumme aller biografischen Gedanken, Gefühle und Ereignisse, von Kunst und Philosophie, von allerheiligster Religion und schnöden Wirtschaftszahlen.

Clark bezweifelt, dass es im wilhelminischen Deutschland einen kriegerischen Enthusiasmus gegeben habe, der durch die militärische Niederlage und den Versailler Vertrag – den Keynes gnadenlos kritisiert hatte – in den Staub getreten wurde. Ohne die Vorgeschichte der Schmach ist das Heraufkommen der NS-Schergen unverständlich. Den Zusammenhang von Erstem und Zweitem Weltkrieg hat Clark nicht im Geringsten verstanden.

Die Dinge wiederholen sich nicht in der Geschichte, sagte er seinem Kontrahenten Wette. Deshalb könne man aus der Geschichte nichts lernen.

Da fasst man sich an den Kopf. Ein Gelehrter verfasst ein gewichtiges Werk nur zu archivarischen Zwecken, ohne für die Gegenwart Schlussfolgerungen zu ziehen? (Zur heutigen Europakrise habe er nichts zu sagen, meinte er in der TV-Debatte.)

Nach Freud wiederholt sich alles, was nicht erinnert und durchgearbeitet wurde. Was wurde bislang von der europäischen Geschichte verstanden? Vieles wiederholt sich nicht nur, das Meiste bleibt sich gleich.

Gibt es nicht die ehernen Konstanten des Kampfes um die Vorherrschaft, der Rivalität um den ersten Platz in Europa, des Ehrgeizes, die fortgeschrittenste und wirtschaftlich erfolgreichste Nation in Europa zu sein, die klügsten Denker zu haben, die listigsten und rücksichtslosesten Politiker, die überragendsten Erfinder und profundesten Wissenschaftler?

Man müsste die Frage auf den Kopf stellen: Was hat sich denn in den letzten 500 Jahren verändert – außer, dass alles schneller und größer wurde?

Die Geschichte Europas ist eine monomane, sich ständig wiederholende Zwangstragödie – weshalb die Europäer so gern von Neuem sprechen, weil sie Neues kaum zustande bringen. Quantitative Fortschritte sind zumeist von demselben alten qualitativen Quark. Viel Wortgeklingel, neue Popanzbegriffe für das ewig Uralte und Haschen nach Wind.

Eine Wissenschaft, die stolz darauf ist, dass der Mensch aus ihr nichts lernen kann, ist ein überflüssiges Mandarinentum. Aus allem Menschlichen kann der Mensch lernen.

Clarks Werk ist ein wirres Buch für eine wirre Nation, die sich erleichtert zeigt, dass ihr ein Fremder sagt: so schlimm, wie alle Welt meint, seid ihr Germans doch gar nicht.

Gut gemeint, Mr. Clark. Doch gut gemeint ist auch daneben.