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Erinnerung

Hello, Freunde der Erinnerung,

am 8. Mai 1945, als der Frühling sich anschickte, im geschändeten Europa die Natur zu erneuern, verendete die von Gott eingesetzte deutsche Obrigkeit der Schlächter und Henker. Bis heute wurde der Gott nicht zur Rechenschaft gezogen.

Vierzig Jahre danach, am 8. Mai 1985, schickte Gott seinen edlen Jünger Richard von Weizsäcker, um die Erinnerung an die Verbrechen in die babylonische Gefangenschaft des christlichen Glaubens zu führen und dem sündenfreien Vergessen zu übergeben.

„Gedenket nicht des Früheren und des Vergangenen achtet nicht.

Siehe, ich wirke ein Neues, jetzt sprosst es, merkt ihr es nicht?

Ja, in der Wüste schaffe ich einen Weg.“

Die Deutschen erinnern sich, indem sie vergessen. Sie vergessen durch ritualisiertes Erinnern. Ihre Religion gestattet ihnen die Illusion, ihre grauenhafte Vergangenheit durch himmlische Gnade ungeschehen zu machen. Nicht, dass die Verbrechen nicht geschehen wären: den Tätern werden sie nur nicht mehr zugerechnet. Wer seine Sünden bereut, dessen Sünden sind abgewaschen. Der alte Mensch ist tot, der neue beginnt von vorne. „Das Alte ist vergangen, siehe, ich mache alles neu“. Lots Frau schaute in die Vergangenheit und erstarrte zur Salzsäule.

Wer dem Gott vertraut, dessen übergroße Schuld ist getilgt, dessen Vergangenheit gelöscht, dessen Sünden sind abgewaschen. Das neoliberale Starren in die Zukunft ist eine christogene Disziplin.

„Entsündige mich mit Ysop, dass ich rein werde;

wasche mich, dass ich weißer werde als Schnee.“

„Ihr habt euch in der Taufe abwaschen lassen, ihr seid heilig worden.“

Wären Deutsche tiefgläubige Christen, wären sie von aller Schuld gereinigt. Mögen ihre Opfer ihnen auch tausendfach vergeben – wenn Gott ihnen nicht vergibt, bleiben sie auf ewig schuldig. Sind sie aber noch schuldig, können sie

keine erlösten Christen sein. Was also sind sie?

Büßend und bereuend wird der Gläubige zum neuen Wesen. In täglicher Erneuerung schaut er nicht zurück, sondern in die Zukunft, woher sein Erlöser kommen wird, zu richten alle Unbußfertigen und Heiden – die sich ihre sündige Vergangenheit nicht nehmen lassen, denn sie kennen keine Sünden. Sie kennen nur verstehbare Irrtümer, nachvollziehbare Torheiten und erklärbare Verfehlungen, die dem Diktat der Wiederholung entzogen werden können – und seien sie noch so schreckenerregend.

Fehler können korrigiert werden durch Einsicht in die Entstehung des Bösen, das kein angeborenes, irreparables und schicksalhaftes Defizit ist, sondern heillose Verstrickung endloser Verfehlungen. Das ist der Fluch der unverstandenen, verhängnisvollen ersten Tat, dass sie fortzeugend immer Böses muss gebären.

Was den Frommen Heil und Erlösung, ist den Heiden Selbstbesinnung und Erkennen der menschlichen Natur in ihren Irrungen und Wirrungen. Ein Böses, gegen das wir machtlos wären, gibt es nicht. Das Böse ist die Erfindung der Erlöserreligionen, die den Menschen zum irreparablen Diabolo verstümmeln, damit nur ein Gott den Satansbraten erretten kann.

Was ist Erinnerung für den Sohn jenes Ernst von Weizsäcker, des früheren Staatssekretärs unter Ribbentrop und Brigadeführers der allgemeinen SS? Den der Sohn sein ganzes Leben lang mit dem Argument verteidigte, der tiefgläubige Vater habe sich den Nationalsozialisten nur angeschlossen, um Schlimmes zu verhüten?

Die Schuld seiner eigenen Großfamilie erwähnte der Festredner mit keinem Wort. Seine Rede galt nur den verführbaren Horden der Deutschen. Auch sein berühmter älterer Bruder, der Atomphysiker Friedrich von Weizsäcker, war ein glühender Hitlerianer gewesen, der im Dritten Reich das Wehen des Heiligen Geistes gespürt hatte – und das Kunststück fertig brachte, in der Nachkriegszeit die Rolle der ethisch reinen Autorität für die Versöhnung aller Religionen zu spielen. Das ist der diskrete Charme der höchsten Bourgeoisie, dass sie in allen Regimes an der Spitze mit zu schwimmen versteht.

„Die Erinnerung ist die Erfahrung vom Wirken Gottes in der Geschichte. Sie ist die Quelle des Glaubens an die Erlösung. Diese Erfahrung schafft Hoffnung, sie schafft Glauben an Erlösung, an Wiedervereinigung des Getrennten, an Versöhnung. Wer sie vergißt, verliert den Glauben.“ (Richard von Weizsäcker)

Für Richard von Weizsäcker ist Erinnerung ein Akt des Glaubens. Wer den Glauben nicht teilt, ist nicht nur unfähig, sich angemessen zu erinnern, er bleibt ein politischer Irrläufer, der nichts dazu beiträgt, die Last der Vergangenheit zu durchdringen. „Es geht nicht darum, Vergangenheit zu bewältigen. Das kann man gar nicht.“ Warum kann man sie nicht bewältigen? Weil „Bewältigen“ der Versuch wäre, die Vergangenheit ohne Religion zu verstehen. Ungläubiges Erinnern ist überheblich, gefährlich und völlig vergeblich.

Es ist doch unser Tun umsonst.

Auch in dem besten Leben.

Vor dir niemand sich rühmen kann.

Des muß dich fürchten jedermann.

Und deiner Gnade leben“.

Wer sich recht erinnern will, muss glauben. Weizsäckers berühmte Rede ist eine hinterlistige Verpflichtung zum rechten Glauben. Für ihn ist ein geschichtsvergessener unpatriotischer Geselle, wer Erinnerung nicht im Geist des alleinseligmachenden Glaubens zelebriert. Erinnern ist Gottesdienst. Nicht nur Versöhnung der Opfer mit den Tätern, sondern des Judentums mit dem Christentum.

Erinnerung ist die Erfahrung vom Wirken Gottes in der Geschichte? Was hat Gott mit den Verbrechen der Nationalsozialisten zu tun? Hat denn Gott die Verbrechen erwirkt? Nicht die Menschen? Oder die Menschen als Werkzeuge Gottes?

Dass Gott in der Geschichte wirkt, war das Credo der Deutschen Christen, jener 99,9% der deutschen Untertanen, die Hitler als Gesandten Gottes und Sohn der Vorsehung jubelnd empfingen. Wenn die Geschichte eine fortlaufende Offenbarung Gottes ist, muss alles historische Geschehen Gottes Willen beweisen. Da Gott all seine Feinde besiegen wird, sind die Erfolgreichen die Lieblinge Gottes. Ecclesia triumphans erweist sich im Triumph siegreicher Geschichtsmächte.

Da Hitler einen fulminanten Siegesprozess vor der staunenden Öffentlichkeit absolvierte, musste er ein göttliches Ereignis in der Geschichte sein. Für Paul Althaus, einen der führenden lutherischen Dogmatiker, hatten die Ereignisse von 1933 religiöse Bedeutung. Wie schon im August 1914 – der Mobilmachung für den Ersten Weltkrieg – würden die Menschen wieder ein Gefühl „von Einheit, Berufung, von Gehorsam und eines mächtigen Lebenssinns erleben“. Diese Empfindungen seien religiöser Natur. Die Kirche sollte diese religiöse Bedeutung nicht ablehnen, sondern sich die Worte des Paulus zu eigen machen: „Nun verkünde ich euch denselben, dem ihr unwissend Gottesdienst tut.“ Dies sei ein Beispiel, wie Gott die Geschichte als Lehrmittel benutze. „Wir Christen wissen uns durch Gottes Willen gebunden an die Förderung des Nationalsozialismus, dass alle Glieder und Stände des Volkes zum Dienst und Opfer bereit seien.“ (R. Ericksen, Theologen unter Hitler)

Zeigt Gott sich in der Geschichte, dann besonders im Siegeslauf der Erfolgreichen. Wir sehen: kein Unterschied zum Darwinismus der Neoliberalen. Mit der winzigen Ausnahme, dass die Panzer der erwählten Arier ersetzt werden durch die Hedgefonds und Aktien der erwählten Neocalvinisten.

(Der lutherischen Geschichtstheologie widersetzte sich Karl Barth mit dem Barmer Bekenntnis, das den Nationalsozialismus aber keineswegs in toto ablehnte. Wolfgang Gerlach beschrieb Barths feindliches Verhältnis zu den Juden in seiner Dissertation „Als die Zeugen schwiegen, Bekennende Kirche und die Juden“. Jahrzehntelang wurde dieser Arbeit von zuständigen evangelischen Theologen die Anerkennung verweigert.)

Weizsäckers Theologie ist identisch mit der nationalsozialistischen Geschichtstheologie des Paul Althaus und fast aller evangelischen und katholischen Dogmatiker. Wenn wir uns beim Erinnern geschichtlicher Vorgänge des Gottes erinnern, muss Gott sich in der Geschichte offenbaren. Das ist die Theologie der Deutschen Christen, die Hitler als den verheißenen Messias des 1000-jährigen Reiches empfingen.

Doch was, wenn Gott eine Chimäre ist? Woher nimmt Weizsäcker die Impertinenz, auch Atheisten und Agnostiker dazu zu verpflichten, in irdischen Geschehnissen Gottes Fingerzeige zu entdecken?

Weizsäcker zitiert den jüdischen Spruch: „Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.“ Erlösung ist ein Akt des Glaubens. In der Politik hat er nichts zu suchen. Weizsäcker missachtet Demokraten, die weder dem christlichen noch dem jüdischen Glauben anhängen. Wer nicht einem monotheistischen Glauben folgt, der kann kein guter und verlässlicher Demokrat sein.

Im Vergleich zu Weizsäcker ist Böckenfördes Diktum – dass ohne christliche Grundwerte keine Demokratie bestehen könne – eine Petitesse. Wer sich dem jüdischen Satz von der Erinnerung als dem Geheimnis der Erlösung verweigere, der wäre nicht nur „unmenschlich“. Er würde vor allem „dem Glauben der überlebenden Juden zu nahe treten, und den Ansatz zur Versöhnung zerstören.“ Wollte jemand dem „Glauben der Juden nicht zu nahe treten“, der dürfte sich Weizsäckers polit-religiösen Thesen nicht verweigern.

Weizsäcker postuliert die Einheit von jüdischem und christlichem Glauben. Wer den christlichen Glauben ablehnt, lehnt automatisch den jüdischen ab. Und kann zudem keine sinnvolle Erinnerungsarbeit über den Holocaust leisten. Ja, er macht sich verdächtig, ein verkappter Antisemit zu sein, wenn nicht ein geheimer Nationalsozialist.

Ist das ganze auch monströs, so hat es doch Methode und wurde zum Credo der säkularen Bundesrepublik. Selten klar ausgesprochen, doch immer präsent. Wer sich diesem subkutanen Glaubensbekenntnis der Republik verweigert, der muss ein vaterlandsloser Geselle sein und bleibt von den Führungszirkeln der Gesellschaft ausgeschlossen.

Wir erkennen an dieser Stelle den verborgenen Kern der neudeutschen Erinnerungs- und Bewältigungsarbeit. Waren die nationalsozialistischen Deutschen hasserfüllte Feinde der Juden, machen die Nachkriegsdeutschen eine Reaktionsbewegung um 180 Grad, und erheben die jüdische Religion zur normativen Religion aller Deutschen, die die grauenhaften Taten ihrer Väter und Mütter aufarbeiten wollen. Alle Religionskritik steht seit Weizsäcker unter dem schwelenden Verdacht des Antisemitismus.

Juden sind keine echten Juden, wenn sie sich nicht den Dogmen der Ultras unterwerfen. Bedenkenlos werden Juden des 21. Jahrhunderts mit Juden des Alten Testaments gleich gesetzt. Wobei Christen stillschweigend unterstellen, dass das Neue Testament eine weitaus höhere ethische Kompetenz aufweist als die vielen Grausamkeiten im Alten Testament. Als ob die Gräuel der christlichen Hölle an Erbarmungslosigkeit noch zu überbieten wären.

Das moderne Israel, das von Anbeginn an eine säkulare Demokratie sein wollte – die Gründerzionisten waren zumeist Atheisten – droht inzwischen, zu einem ultrareligiös-jüdischen Ajatollastaat zu verkommen, weil die säkulare israelische Gesellschaft sich dem Diktat der Ultras immer weniger zu entziehen versteht. Die israelische Gesellschaft hat zunehmende Schwierigkeiten, sich als politische und historische Willensgemeinschaft zu verstehen und nicht als theokratisches Kollektiv.

Für gläubige Juden ist Erinnern das Andenken an Gottes Rettungstaten in der Geschichte. Ob diese Taten wissenschaftlich nachzuweisen sind, bleibt für sie zweitrangig. Von der Schöpfungsgeschichte ohnehin abgesehen, sind alle erzählten Ereignisse der Landnahme bis weit über Mose hinaus historisch nicht nachweisbar.

Die Bibel ist kein wissenschaftliches Kompendium, sondern ein literarisches Mythenbuch, an dessen Erzählungen man glauben kann – oder nicht. Selbst wenn es einen historischen Jesus gegeben hätte: dass er der Sohn Gottes gewesen wäre, kann kein wissenschaftlicher Archäologe nachweisen. Nur wer es im Glauben fassen kann, fasse es. Ein Unding jedoch, solche Legenden zum Kern des politischen Selbstverständnisses einer Demokratie zu erklären.

Richard von Weizsäckers, von allen Medien und Politikern hochgerühmte, Rede macht aus der bundesrepublikanischen Demokratie eine Theokratie à la Novalis. 40 Jahre nach der Befreiung regredierte die Bonner Republik durch die Glanzleistung eines evangelischen Kirchenpräsidenten (der nie über seinen persönlichen Gott sprechen wollte) in die papistische Epoche des Mittelalters.

Sich an Gottes Wundertaten zu erinnern, heißt nicht, sich an die Schandtaten der Menschen zu erinnern. Gott und Mensch sind strikt getrennt:

„Gedenke oh Herr, deiner Barmherzigkeit und deiner Gnaden, die von Ewigkeit her sind. Der Sünden meiner Jugend gedenke nicht.“

Gläubiges Erinnern heißt Gott bitten, sich selbst seiner gnädigen Taten zu erinnern. Der Mensch ist unfähig, die göttlichen Eingriffe zu verstehen. Gottes Taten sind vom Menschen nicht zu erfassen.

„Ich erkenne, daß du alles vermagst, und nichts, das du dir vorgenommen, ist dir zu schwer. „Wer ist der, der den Ratschluß verhüllt mit Unverstand?“ Darum bekenne ich, daß ich habe unweise geredet, was mir zu hoch ist und ich nicht verstehe. „So höre nun, laß mich reden; ich will dich fragen, lehre mich!“ Ich hatte von dir mit den Ohren gehört; aber nun hat dich mein Auge gesehen. Darum spreche ich mich schuldig und tue Buße in Staub und Asche.“

Zur Erinnerung gehört nicht das Rekapitulieren menschlicher Schandtaten. Der Sünden meiner Jugend gedenke nicht. Wie kann man sich der Schandtaten der Deutschen erinnern, wenn alle Schandtaten im Reich des Vergessens versenkt wurden?

Religiöses Erinnern ist das Gegenteil zum weltlichen Erinnern per historischer Vernunft. Gott ist an der objektiven Rekapitulation einer durch Vernunft erkennbaren Geschichte nicht interessiert. Glauben ist das Gegenteil von Erkennen. Nur weltliche Vernunft ist in der Lage, in der Geschichte zu erkennen, was zu erkennen ist und das Unerkennbare auf sich beruhen zu lassen.

Gott selbst ist daran interessiert, die Schandtaten seiner Geschöpfe zu vertuschen, zu verbergen und ungeschehen zu machen. Es wirft ein schlechtes Licht auf den Schöpfer, wenn seine Geschöpfe so schmählich versagen. Weg mit dem alten Pfusch – und das Nagelneue erschaffen. Gedenket nicht des Früheren, siehe, ich mache ein Neues.

Gottes Erlösung besteht in der kontinuierlichen Vernichtung des Alten und der täglichen Neuerfindung des Heilen. „Das Erste ist vergangen, der erste Himmel und die erste Erde sind verschwunden. Ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde“.

„Für Jesaja zerfällt das Heilshandeln Jahwes in zwei scharf unterschiedene Phasen“, so Gerhard von Rad in seiner „Theologie des Alten Testaments“. Die Kinder Israel sollen nicht mehr des Früheren gedenken, sondern voller Hoffnung in die Zukunft schauen, in der ein neuer Exodus stattfinden wird. Der Exodus aus der alten Welt in den neuen Garten Eden am Ende aller Zeiten. Aus dem Erinnern der verrotteten Vergangenheit wird das „nach vorne Erinnern an eine unvergleichliche Zukunft.“ Ernst Blochs marxistische Hoffnung auf das Reich der Freiheit ist identisch mit der eschatologischen Hoffnung der Gläubigen auf das Reich Gottes.

Die 40 Jahre zwischen 1945 und 1985 werden von Weizsäcker mit den 40 Jahren Wüstenwanderung der Kinder Israels parallelisiert. Die Überlagerung der irdischen Geschichte mit religiösen Deutungen kann nicht wasserdicht genug sein:

„Vierzig Jahre sollte Israel in der Wüste bleiben, bevor der neue Abschnitt in der Geschichte mit dem Einzug ins verheißene Land begann. Vierzig Jahre waren notwendig für einen vollständigen Wechsel der damals verantwortlichen Vätergeneration.“

40 Jahre waren notwendig, bis die nationalsozialistischen Täter pensioniert oder gestorben waren, um unbelasteten Nachfolgern die Plätze zu räumen. Weizsäcker will der Mose der Deutschen sein, der sie nach 40 Jahren wüstenhaften Verdrängens und Verleugnens in das Reich des klerikalen Erinnerns führen will.

Mangels biblischer Kenntnisse haben die Deutschen diesen mosaischen Führungsanspruch des Richard von Weizsäcker nicht erkannt, aber dunkel erahnt. Weizsäckers Rede gilt als der Wendepunkt in der Erinnerungsarbeit. Der eine Satz – die Deutschen wurden befreit, nicht besiegt, – habe alles verändert. So der einhellige Tenor der Medien und Politiker. „Befreiung“ war Weizsäckers politisch korrekter Wunschtraum nach vier Jahrzehnten, der mit der Untergangsstimmung der deutschen Niederlage nichts zu tun hatte. Niemand bemerkte, dass Weizsäcker nicht nur die Kollaboration der Christen mit den Nationalsozialisten verschwieg, sondern den Kirchen die Schlüsselrolle im Aufarbeiten der Vergangenheit zuwies. Eine Meisterleistung der historischen Fälschung.

Auch die Historiker, die sich doch einer objektiven Erkenntnis des Vergangenen verpflichtet fühlen sollten, unterstellten sich den Denkverboten, die von dem Edelprotestanten aufgestellt wurden. Nicht die Untaten der Schergen standen im Mittelpunkt, sondern die vergleichsweise minimalen Widerstandsbewegungen des preußischen Adels:

„Nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland 1949 rückte der 20. Juli 1944 schnell in den Mittelpunkt der politischen Auseinandersetzung über den Zweiten Weltkrieg und die nationalsozialistische Herrschaft.“ Schrieb Bernd Ziesemer 2012.

Deutschland wollte sich nicht mehr schämen, sondern stolz sein auf seine Vergangenheit und auf seine vorbildlich bereuten und von Gott vergebenen Sünden. Die Deutschen wurden immer mehr zu Opfern Hitlers und seiner Clique. Noch heute betont Helmut Schmidt, die meisten Deutschen seien anständige Menschen gewesen. Nur Adolf „Nazi“ & Co waren der solitäre Kern der Teufelei.

Der Historiker Norbert Frei schreibt in der TAZ einen flachen, von allen Problemen befreiten Beitrag zum heutigen Tag der Erinnerung:

„Erst 1985 hatte dann Bundespräsident Richard von Weizsäcker einen dezidiert anderen Ton gesetzt. Indem er den 8. Mai zum „Tag der Befreiung“ erklärte, hob der ehemalige Wehrmachtsoffizier auf eine normative Ebene, was er 15 Jahre zuvor als einfacher Abgeordneter der CDU im Bundestag zu Protokoll gegeben hatte: „Keiner möge seine persönlichen Erlebnisse zum Maßstab für alle machen.“

Genau dies aber hatte Weizsäcker getan. Seine persönlichen Selbstbefreiungsbedürfnisse hatte er zum Maßstab seiner Rede gewählt. Die Familie Weizsäcker sollte von allen Makeln befreit werden, das christliche Credo die Demokratie in eine heimliche Theokratie verwandeln. Beides gelang.

In seiner Rede hatte Weizsäcker auch den deutschen Historiker Michael Stürmer erwähnt: „Der europäische Bürgerkrieg war an sein Ende gelangt, die alte europäische Welt zu Bruch gegangen. „Europa hatte sich ausgekämpft“ (M. Stürmer). Die Begegnung amerikanischer und sowjetrussischer Soldaten an der Elbe wurde zu einem Symbol für das vorläufige Ende einer europäischen Ära.“

Welch makabrer Zufall, dass derselbe Michael Stürmer vor Tagen seine damalige Rede vom Ende der Konflikte ins Gegenteil verkehrte. „Nach dem Ende des Kalten Krieges glaubten wir im Westen an den Beginn eines paradiesischen Zeitalters. In ihm seien Frieden und Demokratie selbstverständlich. Heute wissen wir: alles Kokolores.“ (Michael Stürmer in der WELT)

So gründlich erwies sich die Erinnerungsarbeit, dass nach weiteren 30 Jahren alle Gespenster der Deutschen Bewegung wieder fröhliche Auferstehung feiern. Wie in der Vorkriegszeit wird friedenswillige Politik kaltschnäuzig als Kokolores diffamiert. Unwidersprochen darf der ehemalige Berater Kohls vom hohen Lied des demokratischen Friedens überwechseln zum unterschwelligen Jubellied auf den Krieg, der die Völker von der Trägheit des Wohlstands und des menschenverderbenden Luxus befreien wird.

So hatte Ernst Jünger den Krieg verklärt: „Der Krieg ist unser Vater, er hat uns gezeugt im glühenden Schoße der Kampfgräben als ein neues Geschlecht.“ Kurt Sontheimer beschrieb die Kriegssehnsucht der wilhelminischen Zeit, die in der nationalsozialistischen Bewegung mündete:

„Die Idee des Krieges als einer Fügung des Schicksals, der man sich zu stellen habe, war in Deutschland trotz Kant viel vertrauter als die Idee des Ewigen Friedens, die man gern verächtlich als Humanitätsduselei abtat.“

Aus einem typischen Verklärungsbuch des Krieges aus dem Jahre 1932 zitiert Sontheimer: „Viel Jugend bejaht den Krieg aus Grundsatz und Weltanschauung, bejaht ihn mit einer romantischen Verzückung, in hohen und höchsten Tönen, als etwas Hehres und Heiliges, fast der Religion gleich.“

Das „fast“ kann man streichen. Krieg wurde zur Religion, denn christliche Religion ist – Krieg. Krieg der Guten gegen die Bösen, der Erwählten gegen die Verworfenen.

Wer notwendige Erinnerungsarbeit mit Religion verfälscht, darf sich nicht wundern, dass er bei Krieg und Kriegsgeschrei endet. Hier passt das Popper‘sche Verdikt: Wer Himmel sät, wird Hölle ernten.