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Durch Kreuz zur Krone

Hello, Freunde der Gegenwehr,

noch sind sie nicht tot, die Intellektuellen der Welt. Nein, nicht die Intellektuellen, nur die Schriftsteller. Philosophen und Gelehrte verwesen in ihren Vorlesungsgrüften, in denen sie ihre StudentInnen zum Hören und Nachplappern ihrer gewaltigen Worte verpflichten.

Weltweit beginnen Schriftsteller, sich gegen die Überwachungstheokratie aus Gottes eigenem Land zu wehren: „Staaten und Konzerne missbrauchen die technologischen Entwicklungen zum Zwecke der Überwachung massiv. 560 Schriftsteller aus 83 Ländern fordern eine verbindliche Internationale Konvention der digitalen Rechte.“

So lesen wir in der FAZ, die sich vom lähmenden Fatalismus ihres Unheilspropheten Schirrmacher zu lösen scheint. Juli Zeh und Ilja Trojanow haben diesen weltweiten Protest initiiert. Hier das Doppelinterview.

Gilt die New York Times nicht als beste Zeitung der Welt? Seltsam, dass sie sich weigert, den Aufruf „kostenlos“ zu veröffentlichen. War das etwa eine PR-Aktion belangloser Schreiber – oder ist das ein hochpolitischer Aufstand gegen das allwissende Gottesauge Amerikas? Auch die Washington Post nannte den Aufruf ein „sehr provokatives Papier“.

Der hiesige Eindruck, dass amerikanische Kollegen sich mit dem Thema nicht intensiv beschäftigten, habe sich als falsch herausgestellt, so die beiden Aktivisten: „Gerade die amerikanische Literatur beschäftigt sich intensiv mit dem Thema Überwachung. Deswegen haben wir uns sehr gefreut, dass

zum Beispiel Don DeLillo dabei ist. Weil er als einer der ersten Zeitgenossen über Paranoia, Kontrolle und Manipulation geschrieben hat. Es geht um den Konflikt zwischen dem Einzelnen und der absoluten Macht unter den neuen Bedingungen des Informationszeitalters. Alles andere – links, rechts, deutsch, amerikanisch – spielt keine Rolle.“

Kommen denn die beiden noch zum Schreiben, wenn sie so intensiv praktische Politik betreiben? Antwort Trojanows: „Wenn zentrale Werte der Gesellschaft so akut gefährdet sind, muss jeder politisch tätig werden, auch ein Autor. Man muss sich in diesem Moment fragen, ob ein gelungenes Gedicht gegen diese Gefährdung etwas ausrichten kann. Das bezweifle ich.“

Das ist der Abgesang an die gegenwärtige Kunst. Hat sie noch eine befreiende Funktion? Ist sie nicht längst zur besten Aktie der Vermögenden verkommen? Sind erfolgreiche Künstler nicht zu unterhaltsamen Hofnarren des Geldes geworden?

Da trifft es sich, dass Georg Sesslen der Kunst den Todesstoß versetzt hat. „Schafft die Kunst ab“, fordert er in einem TAZ-Kommentar:

„Eine Kunst, die sich zum Konsumfetisch der Oligarchen des Weltkapitalismus macht, brauchen wir nicht. Eine Kunst, die die Schere zwischen Armen und Reichen weiter aufmacht, brauchen wir nicht. Eine Kunst, die zum weiteren Instrument der Banken wird, brauchen wir nicht. Eine Kunst, die keinen Widerstand leistet, brauchen wir nicht.“ (Georg Sesslen in der TAZ)

Für Hegel war Kunst die „Präsenz und Versöhnung des Absoluten, die Entfaltung der Wahrheit, die sich in der Weltgeschichte offenbart“. Sag das einem Milliardär, der sich zum Frühstück ein Richter-Gemälde genehmigt hat. Doch Hegel sprach auch schon vom Ende der Kunst. Ohnehin war für ihn der Höhepunkt der Kunst schon lange vorbei. Die griechische Kunst sei unübertrefflich.

Der moderne Fortschrittsglaube und die Eitelkeit der Spätgeborenen konnte dieses Lob nicht stehen lassen. Immer die neueste Form der Kunst musste die höchste Offenbarung des Geistes sein, der sich ununterbrochen neu erfindet. Die moderne Kunst hat sich dem Diktat des Geldes und machtgestützter Rankinglisten unterworfen.

Man müsste mal über den Satz Hegels nachdenken: „Man kann wohl hoffen, daß die Kunst immer mehr steigen und sich vollenden werde, aber ihre Form hat aufgehört, das höchste Bedürfnis des Geistes zu sein.“

Wie viele Bezirke unserer Gesellschaft sind politisch erstorben und demokratisch mausetot? Es wäre einmal eine Generalinventur nötig, in der alle hehren Institutionen sich verantworten müssten, was sie zur Erhaltung unseres Gemeinwesens leisten. Leistung muss sich wieder lohnen. Nicht die Leistung, Geld zu vervielfältigen, sondern Freiheit, Gleichheit und Schwesterlichkeit zu retten.

Die Reduktion auf Wirtschaft hat die Moderne stranguliert.

Pisa? Wie fit sind unsere Kinder, um den Wohlstand der Erwachsenen zu garantieren, pardon, ihn ins Unendliche wachsen zu lassen? Universität? Wie viele Drittmittel werden eingeworben, um attraktive Forschungsprogramme für den militärisch-technischen Komplex durchzuführen?

Spitzensport? Vor Jahren noch als Vorbild zur Charakterertüchtigung für junge Menschen gepriesen. Heute eine der korruptesten und abstoßendsten Sparten für autistische Erfolgssucht um jeden Preis. Gleich, in welchem menschenrechtsfeindlichen Land: die Medaillenchance muss um jeden Preis gewahrt werden. Sie akzeptieren jede Schmähung der Freiheit, jede Diskriminierung von Minderheiten, nur um ihre überragende Persönlichkeit auf dem Treppchen zu sehen.

Gaucks Absage, nach Sotschi zu fahren, wurde zur persönlichen Angelegenheit heruntergedimmt. In beiden großen Parteien herrscht die vergrätzte Stimmung: seine Kritik hätte er doch dem Herrn Putin unter vier Augen sagen können. Dann ist wenigstens kein Mikrofon in der Nähe.

(Stefan Kornelius attackiert die Sprachlosigkeit Gaucks. Aus moralischen Gründen würden die Deutschen der Absage vermutlich zustimmen. „In ihrer moralischen Überlegenheit sind die Deutschen ohnehin unschlagbar.“ Sollten sie es wieder mit unmoralischer Überlegenheit versuchen, Herr Kornelius?)

Die Sportler reklamieren das Vorrecht, unter einer apolitischen Käseglocke zu leben. Die Griechen nannten solche Privatleute Idioten. Warum wird diese Idiotenbeschäftigung in den Öffentlich-Rechtlichen tage- und wochenlang von morgens bis abends als Sport übertragen?

Die Gesellschaft hat sich eingerichtet, sie hat sich psychisch und ökonomisch möbliert. Die vorbildlichen Lern- und Konversionsjahre der Nachkriegszeit sind vorüber. Man weiß, wo man sein Kreuzchen macht, wie man sich über die Oberen erregt, hat dem kranken Nachbarn auch mal ein Süppchen gebracht – nun ist aber ein Bundesverdienstkreuz fällig.

Die Eliten haben sich gefunden. Die Klassenschranken sind höher und breiter als Berliner und Chinesische Mauer zusammen. Die herrschende Wahrnehmungsform ist der skeptische Schätzblick. Woher kommt er, was leistet er, was hat er, was bringt er in Zukunft? Ende der bürgerlichen Profilerkünste. Schon in Kitakreisen heißt es: den bringst du mir nicht mit nach Haus.

Ist schon jemandem aufgefallen, dass unsere weltpotente Industrie fast keinen kritischen Ton zur NSA sagte? Obgleich sie selbst zu den ausspionierten und betrogenen Opfern gehört? Pack schlägt sich, Pack verträgt sich. Man wird sich schon durchmogeln und seine Sonderkonditionen herausschlagen. Welche schmähliche Rolle spielte die Industrie im Dritten Reich? In Amerika gibt’s keinen Konzern von digitaler Bedeutung, der nicht in irgendwie mit dem Allwissenden Auge gekungelt hätte. Die ganze Wirtschaft ist an Demokratie desinteressiert.

Demokratie ist zum Auslaufmodell geworden. Wie wär‘s mit dem chinesischen Modell, Herr Kollege? Unter uns gesagt, die Reibungsverluste mit Wutbürgern können wir uns nicht mehr leisten. Wir müssen uns ja schämen, dass wir Deutschland nicht in eine einzige gigantische Baustelle verwandeln können.

Machen wir‘s kurz: Wir müssen uns ändern. Von oben bis unten und zurück. Den Aufruf der Schriftsteller müsste jedes Individuum unterzeichnen.

Doch schon kommt die Kritik an der rechten Gesinnung der Widerständler: Haben sie auch die richtige Motivation? In der TAZ wird Schriftstellerin Eva Menasse, Mitinitiatorin des Aufrufs, unter die Lupe genommen: „Ganz ehrlich: Ist die Aktion nicht auch gute PR für Sie und Ihre Arbeit?“ (TAZ-Interview)

Womit wir wieder bei der rechten Motivation wären. Fehlt nur noch: ist Agape ihre Motivation? Wenn nicht, brauchen wir gar nicht weiter zu reden. Und wenn ich den besten Aufruf verfasste und die demokratischste Aktion startete – und hätte der Liebe nicht, wäre ich ein tönend Erz und eine klingende Schelle. Ohne rechtes Motiv nur verdecktes, eigensüchtiges und sündiges Tun.

Gottesliebe oder Teufelswerk? Ein Drittes gibt es nicht. Kritik ist nach 2000 Jahren beteuerter Nächstenliebe das unüberwindbare Misstrauen, dass hinter dem schönen Schein der Abgrund klafft.

Freud hat das christliche Dauermisstrauen in ein psychologisches System gegossen. Das Über-Ich muss prahlen und verbieten, um die triebhaften Machenschaften des Es zu kontrollieren und zu bemänteln. Den faulen Kompromiss, den beide schließen, muss der Pressesprecher der Person, das belanglose Ich, verkünden.

Wenn Europäer ewige Zeiten Liebe heucheln müssen, besteht die Aufklärung darin, den Liebesschleier zu zerreißen und das Verdeckte zum Vorschein zu bringen. Hu, da sehen wir die abscheulichsten Wünsche. Börsenbetrug, den Madoff-Komplex, das To-big-to-fail-Syndrom, die Sünde wider Demokratie, die Erfolg-um-jeden-Preis-Todsünde, die charismatische Obama-Falle, dann die Harmlosigkeiten Inzest, Totschlag, Raub, Vergewaltigung, gedanklicher Ehebruch, Pornogucken und sonstigen unappetitlichen Kram. Da kommt was zusammen, wenn man‘s genau nimmt.

Man muss es genau nehmen, denn am Ende werden die Bücher aufgetan: die NSA enthüllt alle gesammelten Informationen über dich. (In der Schwyz wurde von kessen Journalisten der Spieß umgedreht: sie machten Jagd auf den Boss des Geheimdienstes. Und siehe da, sie fanden heraus, wo er wohnt, was er verdient, wie viele Kinder er hat.)

Warum hat Freud die angeblichen Sünden des unschuldigen Kindes zu Menschheitsverbrechen aufgebauscht und nicht die kriminellen Taten der Erwachsenen?

Sollte Greenspan sich in seinem hohen Alter auf die Couch legen, würde sein Ödipus-Komplex in epischer Breite ausgebreitet werden. Sein gigantischer Wirtschaftsbetrug würde mit Schweigen übergangen.

Merkel hatte vermutlich eine übermäßige anale Phase, weil sie für Griechenland kein Geld rausrückt und zum neurotischen Sparen neigt. Kot ist Geld, so die Formel. Wer Mutter bestraft, indem er sein Bestes nicht rausrückt, der rückt auch als Erwachsener keine Kredite raus. Bei Merkel hülfe nur eine Schnelltherapie mit analen Lockerungsübungen, damit sie ihre verfehlte Geiz-Politik aufgeben könnte.

Eine ordnungsgemäße Psychoanalyse sollte zur Ausbildung jedes Politikers gehören, mindestens vom Rang des Staatssekretärs an bis ganz nach oben. Was hätten wir uns bei Wulff an Peinlichkeiten ersparen können, wenn unsere Eliten keine freudianischen Analphabeten wären.

Wenn Motivationen über den Wert unserer Taten entscheiden, müssen kritische Medien Motivationsschnüffler der Extraklasse werden. Taten liegen vor aller Augen. Sie zu sehen, ist kinderleicht. Doch Vorsicht: der Eindruck täuscht. Wie eine rote Brille unsere Wahrnehmungen ins Rötliche verfälscht, so verfälschen versteckte Motive unsere Taten. Da müssen Kenner her, die den Grund der Wahrnehmungsverzerrungen ermitteln.

Warum ist das so schwer? Nach christlicher Lehre – die der heidnisch-simplen Tatenbewertung die spirituelle Motivationsbewertung entgegenstellte – ist das Problem für Menschen unlösbar. Nur Gott kann ins Herz der Sünder schauen.

Wenn ein ehrgeiziger Grieche der Beste in einer Disziplin sein wollte, zeichnete ihn sein Wunsch aus. Immer der der Erste zu sein und voranzustreben den Andern. Bester war, wer in einer Disziplin die beste Leistung ablieferte. So entstanden die Olympischen Spiele.

Das Christentum stellte alles auf den Kopf. Nach dem Motto: warum einfach, wenn’s kompliziert geht? Nur Gott kann das Komplexe bewältigen. Der Erlöser musste den Sterblichen zeigen, dass sie die einfachsten Dinge nicht verstanden. Unter den Jüngern entstand ein Streit, wer unter ihnen der Größte sei? Da stellte der Herr das heidnische Ranking auf den Kopf: „Die Könige der Völker (also die Heiden) üben die Herrschaft über sie aus und ihre Gewalthaber lassen sich Wohltäter nennen. Ihr dagegen nicht so!“

Ihr dagegen nicht so: das ist bis heute die Kampfdevise der Erwählten gegen die Heiden. Freudianer, wenn sie sich denn mit wichtigen Dingen beschäftigten, würden von krankhafter Profilneurose sprechen. Alles, was in der Welt gut und teuer ist, darf vor Gott nichts taugen. Alles, was nichts taugt, ist für den Herrn willkommen.

Also alles auf den Kopf gestellt und wir kriegen den Kontrast: „Der Grösste unter euch soll wie der Jüngste sein, der Hochstehende wie der Diener.“

Nietzsche sprach von Umwertung aller Werte. Auf die Formel gebracht: wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt, wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht. Nichts ist, wie es aussieht. Wer den Kopf hoch trägt, wird gestutzt, wer den Demütigen macht, ist am Ende aller Dinge der Gewinner. Wer zuletzt lacht, lacht am besten. Zuletzt heißt: im Jüngsten Gericht.

Was hat sich nicht verändert? Jeder Gläubige kann, wie jeder Heide, der Erste sein wollen. Hier sind beide Kulturen identisch. Das Ziel, der Größte zu sein, ist erlaubt. Ja, sogar geboten. „Freuet euch, dass eure Namen in den Himmeln angeschrieben sind“.

Für Paulus ist der Glauben ein Wettkampf um die wenigen Plätze im Himmel, den er unbedingt gewinnen muss. In diesem Kampf will er der Erste sein. „Wisset ihr nicht, dass die, die in der Rennbahn laufen, zwar alle laufen, aber nur einer den Preis erlangt?“

Auf dem schmalen Weg zum Heil müssen alle überholt werden, dass man den einzigen Preis für sich gewinnt. Eine besonders aparte Form der Nächstenliebe (siehe John Bunyans Pilgerreise). Auch der Christ soll ein Sieger sein und seine Mitmenschen in den Schatten stellen. Sieger kann es nur wenige geben. Sie stehen im Licht, die anderen verschwinden in ewiger Dunkelheit.

Der christliche Glaube ist eine Sieger- und Erfolgsideologie. Wer nichts will, hat schon verloren. Doch bei den Mitteln, dieses Ziel zu erreichen, wird die Heidenwelt auf den Kopf gestellt: „Denn jeder, der sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden.“ Wolle der Erste sein, aber handle so, als ob du es nicht wolltest. Erwecke vielmehr den gegenteiligen Eindruck von dem, was du wirklich willst.

Engländer sprechen von Understatement. Es ist die Strategie der systematischen Täuschung. Verbirg deinen Ehrgeiz, lass erst die anderen kommen, duck dich, spiel den Unbedarften, wiege die anderen in trügerischer Sicherheit, als ob sie schon gegen dich gewonnen hätten. Als ob du kein ernst zu nehmender Rivale wärst. Dann komm aus der Tiefe des Raums und zeig den anderen das Siegeszeichen, wenn sie längst schlapp gemacht haben und du deine klug eingeteilten Kräfte benutzen kannst, um mit Triumph an ihnen vorbeizuziehen.

Bis jetzt war‘s einfach. Nun wird’s unergründlich. Die auf den Kopf gestellte Motivation wird unendlich – und damit nicht mehr greifbar. Wird die konträre Regel operativ eingesetzt, wird sie zu einer bewusst eingesetzten Strategie der Täuschung. a) Wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden. b) Wer erhöht werden will, will sich erniedrigen, um erhöht zu werden.

Wenn man ein Ziel will, muss man adäquate Mittel wollen: ich will mich erniedrigen, um erhöht zu werden. Wollte einer sich wirklich erniedrigen, müsste er sich erhöhen wollen, um erniedrigt zu werden.

Aus der ständig rotierenden Motivationskette lässt sich von außen nicht mehr entnehmen, ob der fromme Mensch demütig ist oder hochfahrend. Scheint er demütig, könnte er in Wirklichkeit ein verkappter Sieger oder Erfolgsmensch sein. Scheint er ehrgeizig, könnte er in Wahrheit ein Demütiger sein.

Wüsste man nicht, dass alle Christen Erste im Himmelreich sein und also wollen müssen, hätte man keine Ahnung, wen man gerade vor sich hat. Die unendliche, sich ständig um die Achse drehende Motivation ist von außen nicht mehr durchschaubar. Der wahre Christ ist gezwungen, immer das Gegenteil von dem zu präsentieren, was er in Wahrheit ist. Man müsste von einer heiligen Dauerheuchelei sprechen.

Die Gegenbewegung konnte nicht ausbleiben konnte: trau nie einem Christen. Er trieft vor Liebe und schlägt dir den Schädel ein. Im Verlauf der europäischen Geschichte begann man allen Menschen zu misstrauen. Keine Kreatur ist glaubwürdig, jeder hat etwas zu verbergen. Was offen zu Tage liegt, dient nur der Täuschung und Verwirrung. Das alltägliche Verhalten des Menschen ist konditioniertes Scheinverhalten.

Wer Wahrheit will, muss den Schein durchbrechen und das versteckte Sein ans Licht bringen. Das ist das Motiv der NSA, die sich nicht damit begnügt, das Verhalten der Menschen mit wissenschaftlicher Feldforschung zu erkunden. Sie weiß besser, dass alles offene Verhalten bewusstes oder unbewusstes Täuschungsverhalten ist. Die NSA ist eine psychoanalytische Einrichtung, die mit Hilfe entlarvter Geheimnisse den wahren Charakter der Menschheit hochrechnen will.

Eine solch gigantische Erschnüffelungsmaschine unseres versteckten Verhaltens ist nur auf dem Boden des christlichen Dogmas möglich: „Darum richtet nichts vor der Zeit, bis der Herr kommt, der auch das Verborgene der Finsternis ans Licht bringen und die Ratschläge des Herzens (die wahren Motivationen) offenbar machen wird“

Der Christ darf kein offenes Buch sein. Wer ein sündiges Wesen ist, muss vor Gottes Augen seine Defekte zu verstecken suchen. Er tut zwar ehrgeizlos, bescheiden, demütig, mit allem zufrieden, nächstenliebend, misserfolgsorientiert. Doch er ist in allen Dingen das Gegenteil. Er will den höchsten Sieg, den ein Mensch erringen kann: die ewige Seligkeit.

Um den begehrten Platz im Himmel zu ergattern, ist er bereit, seine Liebsten und die Welt zu hassen, egoistisch und fremdschädigend seinen Weg zu gehen. „Ich sage euch: In dieser Nacht werden zwei auf einem Bette sein, der eine wird angenommen, der andre zurückgelassen werden. Zwei werden am gleichen Orte mahlen; die eine wird angenommen, die andre aber zurückgelassen werden.“

Es war ein Fortschritt, der demonstrierten Demut zu misstrauen und der wahren Motivation auf die Schliche zu kommen. Doch solche Reaktionsbildungen reichen nicht. Handlungen sind nicht nach Motiven zu bewerten, sie haben ihren Wert in sich.

Ich muss nicht lieben, um meine Freigebigkeit zu legitimieren. Wenn ich freigebig bin, liebe ich. Zeige mir deine Taten und ich nenne dir deine Motive. Nicht Taten sind nach Motiven, Motive sind nach Taten zu bewerten. Das war die große Tat Lessings, der mit seiner Ringparabel alle Glaubens- und Motivationssysteme als Bewertungsmaßstäbe unserer Moral verwarf. Handle moralisch, dann hast du auch die rechte Motivation.

Das christliche Dogma ist keine Ideologie der Erfolglosigkeit. Im Gegenteil. Golgatha war keine Niederlage, sondern der größte Triumph. Hier wurden die stärksten Gegner des Herrn, Tod und Teufel, besiegt und für immer überwunden. Durch Leid zum Sieg, durch Kreuz zur Krone. Mit Leid und Demut wollen die als-ob-schlauen Christen die Ewigkeit erringen – oder die Herrschaft über die Welt. Ehrgeiziger, hochfliegender und unbescheidener geht’s nicht.

Eine christliche Kultur, die das Leiden in den Vordergrund rückt, nennt sich ecclesia patiens, die leidende Kirche. Wer das Siegen betont, ist ecclesia militans oder triumphans. Letztere ist Amerika, die leidende Kirche ist Deutschland.

Vergessen wir nicht, dass das Dritte Reich eine triumphierende Kirche war – nachdem die Deutschen das Gefühl hatten, in ihrer Geschichte genug gelitten zu haben. Der verlorene Erste Weltkrieg war eine schlimme nationale Demütigung. Sie hatten übergenug mit Leiden vorausbezahlt, nun hatten sie die Berechtigung, den Lohn des Leidens einzufahren: den großen Sieg am Ende der Tage.

Amerika ist eine triumphierende Kirche. Doch auch sie hat ihr gerüttelt Maß an Leiden im Voraus bezahlt: in der grauenhaften Geschichte Alteuropas, wo sie als Sektierer, Ketzer, verjagte Bauern und Dissidenten gepeinigt worden waren. Nun haben sie sich die Herrschaft über die Welt redlich verdient.

„Wenn anders wir mit ihm leiden, damit wir mit ihm auch verherrlicht werden. Denn ich halte dafür, dass die Leiden der jetzigen Zeit nichts bedeuten im Vergleich zu der Herrlichkeit, die an uns geoffenbart werden soll.“ „Denn die schnell vorübergehende leichte Last unsrer Trübsal schafft uns nach überreichem Maße zu überreichem Ertrag ein ewiges Gewicht an Herrlichkeit.“ „Und dann werdet ihr frohlocken, nachdem ihr jetzt, wenn es sein muss, unter mancherlei Versuchungen eine kleine Zeit betrübt worden seid, damit die Bewährung eures Glaubens köstlicher erfunden werde als Gold, das vergeht, aber durch Feuer bewährt wird.“ „Jede Züchtigung aber scheint zwar für die Gegenwart nicht zur Freude zu dienen, sondern nur zur Traurigkeit, nachher aber verleiht sie denen, die durch sie geübt sind, eine friedvolle Frucht der Gerechtigkeit.“ „Denn wenn wir mitgestorben sind, werden wir auch mitleben; wenn wir ausharren, werden wir auch mitherrschen.“

Keine Kirche kann ernsthaft ein Sozialprogramm wollen, sie würde ja das Leiden auf Erden ausrotten. Ohne Leid, Kummer, Ungerechtigkeit und Demütigung aber kein ewiger Preis im Himmel. Jede radikale Reform würde die Chancen auf ewige Seligkeit zunichte machen.

Auch hier tun sie nur, als ob sie täten. In dieser himmlischen Disziplin sind sie unschlagbar.