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Die Unfehlbaren

Hello, Freunde der Unfehlbaren,

eine Moral, die alles erlaubt, kann nicht widerlegt werden. Sie hat immer Recht, wird alle konkurrierenden Entweder-Oder-Moralen besiegen und sich als weltbeherrschende Moral etablieren.

Warum bestimmen männliche Erlöserreligionen das Geschehen auf Erden? Weil sie mehrfach unfehlbar und unangreifbar sind. In Gelehrtendeutsch: sie sind multikausal immun.

a) Unfehlbar sind sie, weil sie einen allwissenden Gott im Repertoire haben, der zugleich allmächtig und omnipräsent ist, sodass er seine unfehlbare Sicht der Dinge mühelos und überall auf Erden durchsetzen kann.

„Denn wer kann Gottes Willen widerstehen? O Mensch, jawohl, wer bist du, dass du mit Gott rechten willst?“

b) Unfehlbar sind sie, weil Gott seinen Willen den Menschen als unangreifbare Offenbarung verkündet hat. Die Offenbarung überwältigt den Menschen, als ob er ein hohles Fass wäre. Noch schlimmer: der Mensch ist keine tabula rasa, die widerstandlos von außen mit Texten übersät werden kann – wie der fromme John Locke behauptete. Sondern ein mit teuflischen Schriftzeichen verunstaltetes Sündeninstrument, das durch Taufe zuerst porentief gereinigt werden muss, bevor es mit unfehlbaren Heilslettern beschriftet werden kann.

c) Unfehlbar sind sie, weil Gott fehlbaren Menschen die Eigenschaft der Unfehlbarkeit verliehen hat, damit sie die Gläubigen an Gottes statt regieren.

„Und ich sage dir auch: Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich bauen meine Gemeinde, und die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen. Und ich will dir des Himmelsreichs Schlüssel geben: alles, was du auf Erden binden wirst, soll auch im Himmel gebunden sein, und alles, was du auf Erden lösen wirst, soll auch

im Himmel gelöst sein.“

Der Glaube der Frommen an die Kirchen ist unerschütterlich. Sind die Hirten vorbildlich tugendhaft, werden sie zum Zeugnis des Glaubens. Versinken sie in sündhafter Fleischeslust, Geldgier und Lügenhaftigkeit – wie gegenwärtig der Vatikan – glauben die Frommen erst recht an die Kirche. Wussten sie nicht schon immer, dass Mutter Kirche auch nur eine sündige Magd Gottes ist?

Ist es nicht merkwürdig, dass eine Epoche – stolz auf ihre Zweifelsucht und Wahrheitsallergie – keinerlei Probleme mit unfehlbaren Stellvertretern Gottes auf Erden kennt und dem Vatikan milliardenfach Gefolgschaft leistet?

Nein, der Zweifel ist aufgesetzt, die Wahrheitsallergie eine pseudoaufgeklärte Farce. Kein Zweifel nämlich herrscht an der Wahrheit der gegenwärtigen Naturverwüstung, der wirtschaftlichen Ausbeutung der Schwachen und der Spaltung der Menschheit in Gewinner und Verlierer. Die taktischen Zweifel dienen nur dem Zweck, den Kritikern des barbarischen Systems den Glauben an die Wahrheit ihrer Zweifel aus der Hand zu schlagen.

Wer Macht, Geld und Einfluss besitzt, erhält Wahrheit als kostenlose Zugabe. Wahrheit ist zum Appendix des Reichtums und der Macht geworden. Wer hat, dem wird auch Wahrheit gegeben, wer nichts hat, dem wird noch genommen, was er hat: die Wahrheit seiner verzweifelten Revolte.

Welche Wertigkeit die Zweifel der Intellektuellen haben, erkennt man in der gegenwärtigen Verschärfung der internationalen Krisen. Je näher die Katastrophen heranrücken, je religiöser wird das Land. Geht’s ans Eingemachte und Existentielle, lösen sich alle Zweifel im – Glauben auf. Sie möchten schon zweifeln, aber den Glauben an den himmlischen Vater nicht verlieren. Herr, ich glaube, hilf meinem Unglauben.

Als Augustin noch nicht zum Glauben seiner Mutter Monika gefunden hatte, schrieb er über seinen Zustand: „Ich wanderte in Finsternis und auf schlüpfrigem Pfade, ich suchte dich außer mir und fand nicht den Gott meines Herzens, ich versank in der Tiefe des Meeres und zweifelte und verzweifelte, die Wahrheit zu finden.“

Zweifel sind Strafen Gottes für das Misstrauen in seine Heilstat. Kommt der Glaube als Geschenk des Himmels, sind alle Zweifel zerstoben. Dieses Gesetz gilt unvermindert bis heute. In Deutschland ist es schick, skeptisch zu erscheinen, weil man aufgeklärt sein will. Doch der Zweifel ist nur ein verderbtes Luxusphänomen, das uns daran gemahnen soll, die nächste Krise zu produzieren, welche unsere Zweifel durch Rückkehr zum Vater beendet.

Deutsche müssen in Not geraten, dass sie heidnische Zweifel aus dem schwankenden Boot werfen, um das stabile Schiff, das sich Gemeinde nennt, besteigen zu dürfen.

Merkels Politik ist eine Noterzeugungs- und Krisenverschärfungspolitik, um ihre labilen Untertanen in den sicheren Hafen des Glaubens zu manövrieren. Ihre Hauptarbeit besteht darin, mit festem Schritt und Tritt über das wachsende Elend zu trampeln – als ginge sie wie der Heiland übers Wasser –, um mit süßlichem Lächeln Zuversicht zu verbreiten. Den Ängstlichen ruft sie zu:

Ihr Kleingläubigen, warum seid ihr so furchtsam? Und stand auf und bedrohte den Wind und das Meer; da ward es ganz stille. Die Zweifler aber verwunderten sich und sprachen: Was ist das für ein Teufelsweib, dass ihr Wind und Meer gehorchen?

Man ersetze Wind und Meer durch Wirtschaft und Flüchtlinge und erhalte ein getreues Spiegelbild der heutigen Gefahrenzone, die von der Kanzlerin in unverwüstlichem Glauben durchschritten wird. Merkel kennt die Verfluchung des Zweiflers im Jakobusbrief:

„Der Zweifler gleicht der Welle des Meeres, die vom Wind bewegt und getrieben wird. Ein solcher Mensch meine nicht, dass er etwas vom Herrn empfangen werde.“

d) Unfehlbar sind sie, weil sie über eine unwiderlegbare Moral verfügen. Ein Wahn, dass Geschichte der große Kampf zwischen Gut und Böse wäre. Es ist der Kampf zwischen Glauben und Nichtglauben. „Das eigentliche, einzig und tiefste Thema der Welt- und Menschengeschichte, dem alle übrigen untergeordnet seien, bleibe der Konflikt des Unglaubens und Glaubens.“ (Goethe, Notizen zum Divan)

Göttlich verordnete Moral verbietet nichts. Alles ist gut, wenn es in rechter Gesinnung geschieht: das Gute oder das Böse. Es gibt kein Böses, wenn es die Frucht des Glaubens ist. Ein guter Baum bringt immer gute Früchte.

Alles hingegen ist böse, wenn es in gottloser Gesinnung geschieht, und sei es das Allerbeste. Sokrates konnte der moralischste Mensch unter der Sonne sein: nichts zu machen, nach Augustin muss er in die Hölle. Seine Tugenden seien goldene Laster.

Der Gläubige kann Gutes oder Böses nach Belieben tun, sein Tun ist immer gut, denn es ist Frucht seines Glaubens. „So bringt jeder gute Baum gute Früchte, der faule Baum aber bringt schlechte Früchte.“

Nicht Früchte sagen etwas über die Qualität des Baumes, der durchschaute Baum sagt etwas über die Früchte. Die Beurteilung eines Menschen geht nicht über die Bewertung seiner Taten, die Bewertung seiner Taten ist Schlussfolgerung aus der Beurteilung seiner Gesinnung, die ich apriori in Erfahrung bringen muss.

Nach diesem Muster erfolgt heute alle Bewertung der Taten der Politiker. Stets wird ihre persönliche Motivation erklügelt, um daraus die Qualität ihrer Handlungen abzuleiten. Merkel hat immer die lauterste Gesinnung, ist mit sich im Reinen, besitzt feste Grundsätze – ergo müssen ihre politischen Aktionen rein und lauter sein.

Es gibt vier Kategorien des Guten und Bösen, die durch den Dualismus des Glaubens und Unglaubens auf zwei zusammenschrumpfen. Das Gute und Böse des Guten=Gläubigen ist immer gut, weil es im Namen des Glaubens geschieht. Das Gute und Böse des Bösen=Ungläubigen ist immer schlecht, weil es im Namen des Unglaubens verübt wird.

Die unfehlbare Moral des Christentums ist die genialste, mächtigste und gefährlichste Moral der Weltgeschichte. Sie kann nur verifiziert, nie falsifiziert werden. Da sie nicht widerlegt werden kann, schlägt sie alle Konkurrenzmoralen aus dem Feld, die auf Entweder-Oder beruhen.

Humane Moralen kennen – idealtypisch gesprochen – nur richtig oder falsch. Eine humane Moral erkennt man an ihrem Kurs in friedensstiftende Gleichheit der Menschheit, die ein freudiges und erfülltes Leben führen will – ohne demütigende Erniedrigung von Konkurrenten und hybride Erhöhung des eigenen Ichs. Das Ich kann nur unvergleichlich werden, wenn jedes Ich gleichwertig geachtet wird.

Unsinnig, in einer zwanghaft vergleichenden Konkurrenzgesellschaft unvergleichliche Persönlichkeiten zu erwarten. Die Reichen und Mächtigen der heutigen Beschädigungsrivalität leben nur vom ständigen Vergleich mit Schwachen und Verlierern. Sie bleiben Abhängige ihrer erfolglosen Rivalen. Ein selbstbestimmtes, in sich ruhendes Leben können sie nicht führen.

Auch in humanen Gesellschaften gibt es Wettbewerb: es ist das Ringen um die beste Form des Lebens. Doch von diesem Wettstreit um die Utopie profitieren alle Teilnehmer. Im edlen Streit um die Wahrheit lernt auch der „Unterlegene“ hinzu. Nicht quantitatives Wachsen der Wirtschaft, sondern qualitatives Reifen in Selbsterkenntnis, Gelassenheit und Menschenfreundlichkeit ist der wahre Profit, den jeder Mensch davonträgt, der sich am Streit um die menschlichste Form des Daseins beteiligt.

Das Gute einer humanen Moral ist widerlegbar – an den überprüfbaren Folgen ihres Tuns. Führt das angestrebte Gute zu wachsendem Hader und Aggression, die alle Beteiligten ins Unglück stürzen, muss es überprüft, durchdacht und neu erprobt werden. Führt das Schlechte wider Erwarten zu einem erfüllteren Leben, kann es nicht böse gewesen sein. Es versteht sich, dass wir von Glück und Erfüllung in diesem Leben sprechen, nicht von ominöser Seligkeit in einem jenseitigen.

Mit humaner Moral kann experimentiert, sie kann bestritten, widerlegt und bestätigt werden. Einer göttlichen Moral, die immer Recht hat, muss man blindlings folgen. In einer humanen Welt hingegen werden Menschen nicht degradiert zu Knechten des Fortschritts, besessen von technischem Wahn, ökonomischer Gier und grenzenloser Machtzusammenballung, dem die meisten Menschen geopfert werden müssen, damit wenige Erwählte den Gesamtsieg einfahren.

Göttliche Moral kann nicht überprüft werden, weil der Mensch unfähig ist, sein irdisches Schicksal selbst zu gestalten. Wenn Gott vom Größten bis zum Kleinsten alles bestimmt, wozu benötigt der Mensch eine Moral, mit der er sein Leben selbst gestalten könnte?

Um dem Todesurteil zu entgehen, hätte Sokrates sein ganzes Leben widerrufen und seinen Anklägern recht geben müssen. Lieber ging er freiwillig in den Tod, als die Überzeugungen seines Lebens einem kurzfristigen Erfolg zu opfern. Seine Moral war ein Entweder-Oder der Tat, keine opportunistische Entscheidung für oder gegen einen gesinnungsmäßigen Glauben.

Kein transzendenter Glaube ist überprüfbar. Dabei geht es nicht um die törichte Frage, ob man die Existenz eines Gottes nachweisen kann. Es geht darum, die Folgen des eigenen Tuns in diesem Leben zu überprüfen – unabhängig davon, ob man einem Gott folgt oder nicht.

Auch Götter müssen überprüfbar sein, indem man die Folgen eines gotterfüllten Lebens unter die Lupe nimmt. Vernunft ist die Fähigkeit, die Folgen seiner autonomen Wahrheitshypothesen logisch abzuleiten und praktisch zu überprüfen. Ob Wahrheit mit einem Gott identifiziert wird oder nicht, ist von keinem Belang. Auch Götter sind nur Hypothesen des Menschen, deren Nutzen oder Schaden an den praktischen Folgen in diesem Leben nachzuweisen sind.

Solange der Mensch Herr seiner Götter bleibt, können diese kein Leben in Furcht und Schrecken verbreiten. Ein reifer Mensch, der noch Götter nötig hat, ruft ihnen zu: lasst sehen, was ihr könnt. Ich werde euch in den Schwitzkasten nehmen.

Der Wahn des christlichen Gottes besteht darin, absoluter Herr und Schöpfer des Menschen sein zu wollen und knechtische Untertänigkeit zu fordern. Hiob hätte seinen großartigen Kampf mit Gott nicht in Sack und Asche, sondern mit den Worten beenden müssen:

Tritt vor, Gott, ich will mit Dir rechten. Ich habe erkannt, dass du nichts vermagst von dem, was du bisher versprochen hast. Ich allein bin der Herr meines Schicksals auf Erden, du kannst höchstens meine nützliche Hypothese sein, die ich ablege, wenn ich sie nicht mehr benötige.

„Was eigentlich geht im Kopf junger Menschen vor, die im Namen eines Gottes terroristische Bluttaten exekutieren?

Wer erträgt noch solch bigotte Fragen christlicher Journalisten, als könnten sie nichts wissen von der Identität mit einem allmächtigen Gott, in dessen Name man Rache für alle Kränkungen seines verpfuschten Lebens nehmen kann? Terroristen seien Verlierer, ätzt BILD in Siegerton, als würden Menschen sich freiwillig zu Losern entwickeln.

Die Attentäter entstammen unserer Gesellschaft. Ihre schreckliche Rache ist Antwort auf unsere Unfähigkeit, rückhaltlos einzugestehen, dass wir an ihnen schuldig geworden sind. Vor eingebildeten Göttern beugen sie ihre Knie. Vor konkreten Menschen, die unsere Kinder und Nachbarn sind, verharren wir in selbstgerechter Überheblichkeit.

Frankreich lässt seit Jahren sein banlieues verkommen. Begegnungsstätten wurden geschlossen, Sozialarbeiter abgezogen, Projekte mit Jugendlichen beendet, die Arbeitslosenquote der Ausgestoßenen ist ein Verbrechen an jungen Menschen. So fast überall in ganz Europa.

Wenn Menschen sich nicht als willkommene Citoyens fühlen dürfen, regredieren sie in jene Religion, die ihnen Allmacht durch Glauben verspricht. Identisch mit dem Unfehlbaren, können sie ihre Rachebedürfnisse an der Gesellschaft loswerden, als handele ein gerechter Gott durch sie. Die Identität mit einem omnipotenten Gott ist die religiöse Wiederherstellung des „ozeanischen Gefühls“, das ein Säugling im Bauch der Mutter erlebte, als er sich allmächtig fühlte.

Wie Gott seine Allmacht mit guten und bösen Taten vollbringt, die er heilige nennt, so die Jugendlichen, die sich einem Glauben verschreiben, der sie zu Fanatikern einer alles erlaubenden Moral macht.

Ein Islamexperte, der in seiner Jugend beinahe selbst zum Terroristen geworden wäre, beschreibt die Gründe der fundamentalen Gottes-Identität:

„Es war ein Prozess. Aber einer, und das ist sehr wichtig, der mich glücklich gemacht hat. Ich war ein Mensch, der endlich Freunde gefunden hatte, der endlich eine Aufgabe hatte. Und eine Möglichkeit, sich von seinem Elternhaus abzugrenzen. Ich gehörte auf einmal zu einer Elite. Alles emotional sehr positiv.“ (jetzt.de/SZ)

Junge Menschen haben das Gefühl, „angekommen zu sein, sich befreit zu haben, neu geboren zu sein. Plötzlich eröffnen sich ihnen viele neue Chancen und Möglichkeiten. Aber das ist kein Dauerzustand. Es ist eine Art Anfangshoch, auf das aber bald extreme Belastungen folgen. Es verlangt einem Menschen schließlich viel ab, eine Ideologie zu leben. Das sind strenge, teilweise brutale Anforderungen.“

Das Gefühl absoluter Vereinigung mit Gott im Schosse gleich-glaubender Brüder, ausgestattet mit der Berechtigung, seine Hass- und Rachebedürfnisse in göttlicher Allmacht zu befriedigen: all das kennt jede männliche Erlösungsreligion. Heiligen Büchern kann der Gläubige die Berechtigung entnehmen, im Namen eines Gottes die ungläubige Welt in Trümmer zu legen. Das gilt für die Bibel, wie für den Talmud oder den Koran.

Es gebe nicht den einen wahren Islam, wird Ulrich Kienzle im ZDF nicht müde, dem deutschen Publikum zu vermitteln. Im Koran stehe sowohl die Erlaubnis zu töten, wie auch das strikte Verbot des Tötens. Also könne jeder willkürlich seine individuelle Deutung entnehmen.

Nein, kann er nicht. Nicht die wolkige Deutung, sondern der unbestechliche Buchstabe sagt ihm: er darf alles, weil ein antinomischer Gott ihm alles erlaubt. Besitzt er den rechten Glauben, ist ihm weder Gutes noch Böses verboten.

Willkürliche Deutungen verfälschen den klaren Sinn der heiligen Buchstaben – wenn auch in bester Absicht, den Glauben zu humanisieren. Die gute Absicht führt jedoch zu schrecklichen Folgen, wenn der Buchstabe dem regredierten Fanatiker die Handhabe zu schrecklichem Tun gewährt.

Deutungen wollen den grausamen Text kritisieren, ohne ihn zu kritisieren. Der Mona Lisa kann ich keinen Bart ankleben – und meine Fälschung als Original ausgeben.

Muslimische Theologen treiben es wie christliche. Die Verbrechen der Attentäter werden nicht als Früchte ihres Glaubens akzeptiert, weil nicht der Buchstabe des Textes den göttlichen Willen offenbare. Dabei verfälschen sie selbst den göttlichen Willen, weil sie unfähig sind, sich von ihrem fürchterlichen Gott unmissverständlich zu distanzieren.

Hermeneutisch haben die Terroristen Recht, wenn sie ihre Untaten im Namen eines Gottes verüben. Wer eine humane Religion haben will, muss sie in eigenem Namen erfinden und proklamieren. Der verlorene Sohn kann nicht autonom sein, solange er von Weisungen des Vaters abhängig bleibt. Wer den Urtext durch Deutungen nur vernebelt, anstatt ihn zu verwerfen, darf sich nicht wundern, dass es Buchstabengläubige gibt, die den Nebel verscheuchen und sich auf den Urtext berufen.

Terroristen stehen nicht allein mit ihrer mordswütigen Gottes-Identität. Die christliche Moderne hegt keinerlei Zweifel an ihrem Kurs der technischen Omnipotenz, der wirtschaftlichen Unbegrenztheit und der zerstörerischen Allmacht über die Natur. Attentäter können nur wenige Menschen ermorden. Moderne Kapitalisten aber lassen unendlich viele Kinder und Schwache verhungern. Moderne Techniker erfinden Waffen und Maschinen, mit denen sie die Natur schänden und den Menschen überflüssig machen. Verglichen mit den planetarischen Verwüstungen gottähnlicher Eliten sind die Untaten weniger Terroristen eine Petitesse.

Europa schliddert in die Krise und versinkt in regressiver Religiosität. Warum konnten die Attentate gerade in Frankreich geschehen? Weil das Land gottlos geworden sei. Der Religion werde die Möglichkeit genommen, in Schulen disziplinierend auf potentielle Übeltäter einzuwirken. So der Dschihadismusforscher El Difraoui in der SZ:

Der Fehler liege im System: „Im laizistischen Frankreich werden Kirche und Staat strikt getrennt. Religion ist Privatsache. An staatlichen Schulen gibt es deshalb in der Regel keinen Religionsunterricht. Das führt dazu, dass sich andere berufen fühlen, die Auslegung des Glaubens zu übernehmen. »Wenn es Religionskunde gäbe, könnte man dort extremistische Ansichten widerlegen«, sagt El Difraoui. »So ließe sich den jungen Leuten zeigen: Dschihadisten haben kein Anrecht auf den Islam.«“ (Süddeutsche.de)

Wie erklärt man Kindern die terroristischen Untaten? Die Antwort eines Kinderpsychiaters in BILD:

„Erzählen Sie ihnen bloß nichts von Religion oder heiligem Krieg. Sagen Sie ihnen, dass das böse Menschen sind! Die kennen sie aus den Märchen.“ (BILD.de)

Die Verheerungen der Religion sollen mit Religion kuriert, die Kinder mit heiligen Märchen belogen werden, als sei das Böse eine Strafe Gottes für ungehorsame Kinder. Europa erdrosselt sich in der Schlinge seiner unfehlbaren Religion.