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Die barmherzige Samaritanerin

Hello, Freunde der barmherzigen Samaritanerin,

eine Kanzlerin, die im Bürgerdialog unterwegs war, kam in ihre Nähe. Und als sie das weinende Mädchen sah, hatte sie Erbarmen mit ihr, trat hinzu und sprach ins Mikrofon: ach, komm, wer wird denn heulen, du bist doch ein tapferes Mädchen, so verflixt sympathisch und redegewandt, du wirst deinen Weg machen. Muss es denn in unserem kaltherzigen Deutschland sein? Es gibt so viele Länder auf der Welt, in denen wirkliche Menschen leben. Sie näherte sich dem Flüchtlingsmädchen mit unbeholfenen Gesten, als wollte sie die Trauernde streicheln. Dann gab sie ihren PR-Lakaien Befehl, das Rührstück ins Netz zu stellen, auf dass das ganze Volk die barmherzige Samaritanerin bewundere – um sie zur Kanzlerin auf Lebenszeit zu wählen. Zur Not würde sie auch Queen akzeptieren.

Welches Land in Europa, meine Geschwister, dünkt euch mit einer warmherzigeren Königin der Herzen gesegnet? Seht ihr, in Deutschland gibt es eine historische Ausnahmeerscheinung. Meint Richard Hilmer, äußerlich Demoskop, in Wirklichkeit Hofschranze zu Füßen der Erwählten, der mit Umfragen jedes beliebige Ergebnis aus seinem Zylinder zaubern kann.

„Frau Merkel versteht es immer wieder, durch ihre direkte Kommunikation selbst die einfachen, politikfernen Bürger zu erreichen. Sie nimmt die Bürger mit. Das ist in der Geschichte seit 1949 einmalig.“ (WELT.de)

Was ist der Unterschied zwischen Politik und Religion?

Demokratische Politik nimmt wahr, debattiert, verändert, verbessert und dient den Menschen.

Religion dekretiert, offenbart, predigt, handelt symbolisch – oder streichelt. Die Menschen dienen ihr. Streicheln ist Ersatzhandeln. Verändern will es nicht und

streiten kann es nicht.

Politik ist mühsam, langsam und macht nur echten Demokraten Freude. Echte Demokraten sind Selbstbewusste, die mitreden, mitgestalten und nicht zulassen, dass andere über sie bestimmen. Sie lassen sich die Butter nicht vom Brot nehmen.

Predigen ist einfach und hat die Welt verbal zugemüllt. In der Politik sind alle Menschen gleichermaßen gefordert, Religion hingegen spaltet die Menschheit in Prediger und Hörer des Worts. Täter des Worts sind keine politischen Täter, sondern Glaubende. Wer glaubt, macht alles richtig – und läge er demokratisch noch so daneben. Despoten, Diktatoren, Absolutisten, Totalitäre: alle sind Obrigkeit und daher von Gott.

Religion ist eindrucksvoller als Politik. Man kann ideal klingende Sätze von sich geben und den Anschein erwecken: a) als sei es kinderleicht, das Ideale einzuhalten, b) als sei es unmöglich, das Ideale einzuhalten und den erhabenen Geboten des Göttlichen nachzukommen.

a) und b) widersprechen sich. Der Widerspruch soll der Welt verborgen bleiben. Nur diejenigen, die es mit dem Glauben ernst meinen, werden bemerken, dass sie aus eigener Kraft nicht das kleinste Jota halten können. Echte Gläubige sollten gar nicht den Versuch machen, aus eigener Kraft selig zu werden. Das wäre eine Beleidigung des Herrn, der auf seiner teuren Angebotsgnade sitzen bliebe, wenn sie von Menschen nicht nachgefragt würde.

Was ist das Geheimnis einer erfolgreichen Religion? Dass sie den Menschen verheißt, die Lücke zwischen schnöder Realität und paradiesischem Ideal zu schließen. Menschen wollen moralisch und gut sein. Religion erweckt den Anschein, als könne sie das Ich-Ideal des Menschen auf der Stelle verwirklichen: „Alles ist möglich, dem, der glaubt“.

„Wahrlich, ich sage euch: Wer zu diesem Berge spräche: Hebe dich und wirf dich ins Meer! und zweifelte nicht in seinem Herzen, sondern glaubte, daß es geschehen würde, was er sagt, so wird’s ihm geschehen, was er sagt. Darum sage ich euch: Alles, was ihr bittet in eurem Gebet, glaubet nur, daß ihr’s empfangen werdet, so wird’s euch werden.“

Der Mensch erträgt es nicht, unvollkommen und minderwertig zu sein. Durch den Akt des Glaubens kann er im Nu vollkommen werden. Nicht den sichtbaren Taten nach, aber den im Glauben vollbrachten Taten. Sündige tapfer, wenn du nur glaubst. Was aus Glauben geschieht, kann nicht sündig sein. Liebe und tu, was du willst.

Die Vervollkommnung des Menschen durch Religion ist illusionär und drogenhaft. Wie man im Drogenrausch glaubt, ein Gott zu sein, so glaubt man es auch im drogenhaften Wahn des Glaubens.

Was ist das Geheimnis der unwiderstehlichen Kanzlerin? Warum hat sie weit und breit keine Konkurrenten? Schon gar keine männlichen, die zu borniert sind, um das Geheimnis der frommen Frau zu lüften?

Sie macht Politik im Modus des Glaubens. Sie verändert nichts, sie verbessert nichts, sie hält die Welt für verloren. Das aber sagt und zeigt sie nicht. Was sie sagt und zeigt, sind Segensgebärden: alles gut in Deutschland. Alles gut in Europa, Alles gut in Griechenland – auch wenn es vorübergehend schrecklich zugehen sollte.

Merkel ist dem Papst näher als allen männlichen Politikern, die sich lieber ins Messer stürzen würden, als die segnende Gebärde der Mutter Merkel nachzuahmen. Man stelle sich vor, Gabriel wäre mit einem heulenden Flüchtlingskind konfrontiert. Er hätte nicht mal dran denken dürfen, das Mädchen zu berühren.

Der Papst fordert Dinge von den Menschen, die er seinen Untertanen in der vatikanischen Despotie verweigert: Demokratie, Menschenrechte, Schwulenakzeptanz – und karnickelfreien Sex. Aufrechte Katholiken, die sich für Demokratie und Menschenrechte einsetzen, dürfen die Kluft zwischen päpstlicher Rede und klerikaler Wirklichkeit nicht wahrnehmen. Bemerken sie sie dennoch, leiden sie unter der Heuchellücke. Halten aber an ihrem Glauben fest, eines fernen Tages werde sich die Glaubwürdigkeitslücke schliessen. Spätestens, wenn der Herr kommt. Also müssen sie hoffen und glauben, dass er kommt. Hätten sie keine Hoffnung, dass alle Widersprüche eines Tages sich in Wohlgefallen auflösen würden, hätten sie ihren Glauben längst verloren.

Das Unvollkommene des Glaubens ist sein unwiderstehlicher Reiz und sein weltbesiegender Erfolg. Es darf nicht sein, dass wir gute Menschen sein wollen und können es einfach nicht werden. Die unerledigte Aufgabe, die eines Tages erledigt werden wird, ist der Eros oder das Charisma des Glaubens.

Es ist wie beim pädagogisch eingestellten, sich überlegen fühlenden Mann, der niemals eine lebensfrohe und intelligente Frau wählen würde. Sondern stets das unterbelichtete Mauerblümchen, das Pygmalion zur begehrenswerten, geistsprühenden Partnerin erzieht. (Heute soll es bereits starke Frauen geben, die die Rolle des Pygmalion spielen. Das muss ein feministisches Gerücht sein.)

Psychologen sprechen von negativer Wahl – die eines Tages positiv und perfekt werden wird. Das ist das Geheimnis Angelas, die in ihrer Anfangsphase so mauerblümchenartig hilfsbedürftig aussah. Aber das Wunder geschah: Gott ist in den Mauerblümchen mächtig.

Ist Merkel schwach, will jeder sie entschuldigen und verstehen. Niemand lässt seine arme Mutter im Regen stehen. Ist sie hingegen stark und verlässlich, begehrt jeder ihren mütterlichen Segen. So oder so ist sie unschlagbar.

Wie könnte gegen die perfekte Magd Gottes der SPD-Trümpel Gabriel den geringsten Punkt holen? Oder der unterkomplexe Haudrauf Steinbrück, der rechtzeitig vor der Wahl ein Rendezvous mit seinem persönlichen Gott hatte, aber seine Rolle als leichtsinniger Husar weiter spielte, als sei Jesus nie für ihn gestorben?

Merkel betreibt Politik als nationale Seelsorge. Da die Deutschen überzeugte Abendländer sind, Politik aber als theologiefreies schmutziges Geschäft betrachten, kommen sie nicht auf die Idee, die Wirklichkeit unter dem Aspekt ihres Glaubens zu betrachten. Noch immer sind sie unbemerkt im Bann Augustins, der zwei Reiche auf Erden unterschied: die unbefleckte, unsichtbare Kirche – und das beschmutzte Revier der staatlichen Räuberhorde. Der Glaube soll Berge versetzen und dennoch unfähig sein, den sündigen Staat zu kontaminieren.

Glaube muss Glaube, Politik Politik bleiben. Merkel hat ein politisch-religiöses Kapitel aufgeschlagen, das es in dieser Art in Nachkriegsdeutschland noch nie gab. (Vor dem Krieg war alles Weltliche christlich. Besonders seit der Romantik. Im Dritten Reich wurde das urdeutsche Stück: Erlösung und Apokalypse gegeben.)

Müsste man nicht von feministischer Politik sprechen, da die Männer nicht einmal sehen, welches Stück auf dem Spielplan steht? Nein. Merkels Madonnen-Dramaturgie ist die weibliche Seite des göttlichen Männerdramas. Maria ist keine Feministin, sondern die erwählte Braut des Herrn – der die Ehre der männlichen Lust-Bestäubung versagt bleibt. Der himmlische Bräutigam treibt‘s mit sich selbst und zeugt fernmündlich. Ein Vorbild für alle Silicon Valley-Genies. Die Frau wird zum Austragungsgefäß oder zur Leihmutter degradiert.

Die heutigen in-vitro-Besamungen und Labor-Zeugungen sind technisch übersetzte Gottvater-Marien-Wunder. Frau und Natur werden überflüssig und durch das Labor ersetzt. Am Ende der Geschichte wollen unsterbliche Männer ohn Weib und Kind Jagd auf flüchtige Planeten machen.

(Alle androiden Forscher waren aus dem Häuschen, als ihr milliardenschweres Vehikel den Pluto sichtete. Unglaublich, aber wahr: auf dem toten Steinbrocken gibt’s nicht nur Täler und Berge. Sondern eine Oberfläche. Was sie aber eigentlich suchten, fanden die Herrchen des Universums nicht: die Pluto-kratie war längst ausgewandert. Auf einen unbedeutenden Planeten namens Erde, wo sie als EINPROZENT den Ureinwohnern das Kleingeld aus der Tasche ziehen.)

Werte Geschwister, es gibt echte Fortschritte. Obama telefoniert wieder mit Putin und lobt ihn für den Deal mit dem Iran. Loben heißt für Nietzsche, sich über den andern erheben. Doch besser hochmütig loben als überheblich Raketen schicken.

Der Graben zwischen Washington und Jerusalem ist vor aller Welt offenbar geworden und niemand weiß, wohin der calvinistisch-jüdische Konflikt treiben wird. Merkel unterstützt Obama – ohne Netanjahus Bellizismus einer überfälligen Kritik zu unterziehen. (Selbst die israelischen Geheimdienste bezweifeln inzwischen den Sinn der rechtlosen Besatzungspolitik.) Merkels heuchelnde Israelpolitik ist krachend gescheitert. Doch in Deutschland ticken die Uhren, als sei nichts geschehen.

Es gibt noch einen Fortschritt: Deutschland wird mikrologisch. Politik wird am Kleinen und Unscheinbaren abgelesen. Kaum eine Gazette, die heute nicht die „Begegnung“ der Kanzlerin mit Reem, dem tapferen Flüchtlingsmädchen kommentiert hätte. Der Mutterbonus beginnt zu bröckeln.

„Im Zuge ihres Dialogs mit den Bürgern …“ so regierungstreu begannen die Meldungen der TV-Nachrichten.

Dialog? Mit Euphemismen beginnen die öffentlichen Lügen. Ein Dialog, halten zu Gnaden, ist ein intensives Gespräch – auch Streitgespräch – auf gleicher Augenhöhe unter Zweien. Von Dialog kann bei Merkel keine Rede sein. Viele dürfen dem hohen Besuch je eine Frage stellen, die von der Kanzlerin in gewohnter Abfertigung erstickt wird. Nachfragen verboten. Streiten ein Witz.

In Deutschland ist die Kunst des Dialogs – sofern sie je geübt wurde – vom Erdboden verschwunden. Kein Zufall, dass in 2000 Jahren offenbarungsbeherrschten Abendlands die Kunst des Dialogs fast von niemandem erprobt wurde. Die Griechen wollte man in allen Dingen übertrumpfen – nur nicht in der Kunst des agonalen Verstehens. Und Rechthabens.

Ja, Rechthaben. Heute gilt Rechthaben als Ursünde. Die lautesten Schreihälse wollen durch Unrechthaben Rechthaben. Indem sie kurzerhand die Wahrheit abschaffen. Gibt’s keine Wahrheiten, kann‘s auch keinen Streit um sie geben. Jeder monologisiert vor sich hin und hat immer Recht.

Was die Modernen nicht wissen wollen: die Aversion gegen das Rechthaben ist eine Reaktionsbildung gegen unfehlbare Kanzelprediger, die jedes Streiten auf gleicher Augenhöhe ablehnten. Streitet Gott etwa mit dem Teufel?

Wer aber den edlen Wettstreit um die Wahrheit – der einzige Wettbewerb, bei dem beide Konkurrenten profitieren – verschmäht, darf sich nicht wundern, wenn alle politischen Streitgespräche vom Erdboden verschwanden. Zuerst stirbt das wahrheitssuchende Gespräch, dann die unwahre Demokratie.

Nicht, dass es immer Sieger oder Verlierer geben müsste. Oft enden die Gespräche in Ratlosigkeit. In allen Lebensdingen soll der Zeitgenosse seine Konkurrenten besiegen, nur nicht im Suchen der Wahrheit. Hier beginnt das höhere Feuilleton zu gähnen.

Wie oft kann man in Talkshow-Kritiken lesen: jeder wollte nur Recht behalten. Ja, was denn sonst? Wer seine Meinung nicht für belastbar und satisfaktionsfähig hält, sollte deutscher Professor oder Moderator werden. Wer auf der Agora nicht um die Wahrheit fightet, kann nur ein rechthaberischer Vorgesetzter oder Edelschreiber sein. Eliten haben immer Recht, ohne sich mit Hinz und Kunz im Staub zu wälzen.

Verglichen mit den Brahmanen der postmodernen Unfehlbarkeit, muss Sokrates ein streitsüchtiges Monstrum gewesen sein. Den Athenern auf dem Marktplatz wollte er ein Stachel im Fleisch sein, um ihre demokratischen Fähigkeiten zu stärken. Welche Zeitung will das heute noch?

Wie begann der „Dialog“? Reem, das Mädchen aus Palästina, erzählt von seinen Ängsten. Noch ist sie nicht anerkannt und könnte jederzeit abgeschoben werden, obgleich sie mehr als zwei Jahre in Deutschland weilt und mittlerweilen integriert ist. Sie spricht perfekt Deutsch und ist Klassensprecherin.

Für Merkel und das deutsche Asylgesetz kein Grund, das Mädchen in Deutschland willkommen zu heißen. Dieser Sadismus ist die Kehrseite der deutschen Nächstenliebe. Sie können nicht helfen, ohne das Hackebeilchen zu schwingen. Ihre Hilfe könnte zu billig erscheinen. Also müssen sie Härte vor der Not beweisen.

Der Moderator der Sendung nimmt Merkels abweisende Reaktion in Schutz:

„Dass Merkel sich herzlos verhalten habe, findet er nicht. «Sie hat menschlich reagiert, auf ihre Art», sagt Seibert-Daiker. Und er empfinde Respekt, dass die Bundeskanzlerin «den Mut hatte, einem Kind deutlich die politische Situation zu erklären. Viele Kollegen hätten da weichspülerisch drum herumgeredet.»“ (Süddeutsche.de)

„Wir können euch nicht alle aufnehmen.“ Merkel sorgt für klare Verhältnisse: wir auf der einen Seite, ihr auf der andern. Im Pluralis majestaticus spricht sie wie ein Pressesprecher:

«Politik ist manchmal hart», sagt Merkel zu Reem. «Es werden manche wieder zurückgehen müssen.» Einmal unterbricht sie das Mädchen recht schroff, und sagt. «Das muss einer Entscheidung zugeführt werden.»“

Geht’s noch ruppiger und hoheitlicher? Merkel, Frau, spricht nicht mit einem leidenden, ängstlichen Kind: die Kanzlerin spricht mit einer illegal eingewanderten Figur, die sich mit einnehmender Intelligenz an sie ranschmeißen will.

Solche Tricks kennen die hiesigen Machthaber, die seit Invasion des Neoliberalismus gesunde Härte schätzen lernten. Ist sie keine Neuauflage des völkischen Sprüchleins: hart wie Kruppstahl?

Merkel ist gleich weit entfernt von allen dubiosen Bittstellern. Wenn sie schon die Griechen mit Härte von der Tenne fegt, kann sie bei Palästinensermädchen keine Ausnahme machen. Wäre Reem eine jüdische Notleidende, hätte die Pastorentochter eine andere Tonart gewählt.

Regeln sind Regeln. Medikamente sind Medikamente. Wenn andere Staaten durch Gesundschrumpfen heilten, muss Griechenland durch dieselbe Methode therapiert werden. Und wenn der Patient dabei krepiert.

In Deutschland weiß man alles a priori. Wer sich an der sichtbaren Wirkung seiner Maßnahme orientiert, um Versuch und Irrtum zu überprüfen, ist angelsächsischer Utilitarist. Deutsche brauchen keine empirische Bestätigung. Alle müssen gleichmäßig über denselben Kamm geschoren werden. Wer die 08-15-Heilmethode nicht überlebt, hat Pech gehabt. Regeln sind Regeln und Untertanen haben sich nach ihnen zu richten.

Im Prenzlauer Berg wollten Eltern für ihre Kinder eine Straße stundenweise in eine Spielstraße umfunktionieren. Nichts da, erklärte ein hohes Gericht. Straßen sind für Autos da. So sind die Regeln unserer Verkehrsordnung. Müssen Kinder nicht strikt an Regeln und Paragrafen gewöhnt werden?

Merkel spricht mit keinem Individuum, sondern mit einem auswechselbaren Exemplar einer Gattung. Flüchtling ist Flüchtling. Bei solchen Massen von Hilfesuchenden kann es keine unverwechselbaren Gesichter geben. Nicht mal mit der erlaubten Hilfestellung, sich bei den Behörden für Reem einzusetzen, kann die uniformierte Kanzlerin (ihre Sakkos sind Varianten einer säkular-pastoralen Berufsuniform) dienen.

Doch nun zum Zwischenfall, der von der PR-Abteilung des Kanzleramtes nicht vorausgesehen wurde. Das wird einen Anschiss geben: die Chefin in eine emotionale Falle tappen lassen. Merkel will Punkte sammeln beim Publikum und keine Spontaneitätstests bestehen.

Politik trifft auf Menschen. Auf junge Menschen, die das Bismarck‘sche Blut & Eisen der Berliner Machiavellisten nicht kennen. Menschlichkeit ist die Moral der Kinderstube, ab Pubertät muss sich die Moral verabschieden.

Erwachsene Amoral trifft auf tief empfundene Kindermoral. Hier kann die Kanzlerin aus erhöhter Perspektive zeigen, dass die Welt böse ist und kein Kind per se auf das Privileg des Guten hoffen darf. Mitgefangen, mitgehangen. Man könnte auch von Sippenhaftung sprechen. Wir leben in Sicherheit und Wohlstand, ihr in Unsicherheit und Armut. Hätte Gott es anders gewollt, hätte er‘s anders getan. Das muss auch von euch akzeptiert werden. Schicksal ist kein Wunschkonzert.

Nach dieser harten, aber fairen Rede geschah es. Kinder sind nicht realitätstüchtig. Schnell flennen und heulen sie. Wie reagierte die deutsche Obrigkeit?

„Als Reem anfängt zu weinen, hält Angela Merkel inne. Sie legt den Kopf schief, setzt ein mütterliches Gesicht auf und seufzt. «Ach komm». Dann geht sie auf das Mädchen zu, streichelt ihr über den Kopf und sagt: «Du hast das doch prima gemacht.» Dass die Kanzlerin da etwas nicht ganz richtig verstanden hat, ist auch dem Moderator aufgefallen. «Ich glaube nicht, Frau Bundeskanzlerin, dass es da ums Prima-machen geht», sagt er.“

„Das weiß ich auch“, lässt die Kanzlerin den moderierenden Wichtigtuer ablaufen. Was bildet der Schnösel sich ein, sie vor der Kamera zu korrigieren?

„Ich weiß, dass das eine sehr belastende Situation ist. Und deshalb möchte ich sie trotzdem einmal streicheln.“

Trotz-dem will sie streicheln. Trotz was? Will das Mädchen überhaupt gestreichelt werden? Solche skrupulösen Fragen kommen der Kanzlerin nicht. Wer will von Muttern nicht gestreichelt werden?

Reem wird von Angela zwangsbeglückt. Nie hätte die Weinende Nein sagen dürfen. Ihren Notstand beutet die Kanzlerin für ihre PR-Zwecke aus. Ihren „Fehler“, das Kind zum Weinen gebracht zu haben, kann sie wieder elegant auswetzen.

Aber war das ein tröstendes Streicheln? In linkischer Körperhaltung das Mädchen unbeholfen berühren: das ist kein Streicheln. Ohnehin will kein trauerndes Kind ein wenig berührt werden. Kinder wollen umarmt und geherzt werden, wenn sie trauern. Vielleicht war Reem schon zu erwachsen – gewiss aber war die Kanzlerin zu unempathisch, um den rechten Ton und die rechte einfühlsame Körpergeste zu treffen. Im pubertierenden Alter wollen Jugendliche ihren Schmerz lieber „erwachsen“ und in Distanz ertragen, als „kindisch“ getröstet zu werden. Für solche Petitessen einer verstehenden Pädagogik hat Merkel keine Antenne. Wer seit Jahren in Machtfragen unterwegs ist, hat jedes Gespür für machtfreie Emotionalität verloren.

„Ach komm“, entschlüpft ihr spontan, als sie Reem weinen sieht. Kann heißen: ach komm, Mädchen, übertreib jetzt nicht. Willst du mich hier vorführen? Oder: nun reiß dich aber zusammen, du bist doch kein kleines Mädchen mehr. Oder: hast du wirklich gedacht, dass harte Politik keine Rolle mehr spielt, wenn du mit mir als Kanzlerin sprichst? Ich als Amtsträgerin darf schließlich nicht parteiisch sein. Immerhin sind wir ein Rechtsstaat und kein korruptes Gebilde wie die Staaten, aus denen du kommst.

„Du hast das doch prima gemacht. Du bist doch so sympathisch“. Hier sehen wir, dass Merkel nur noch in Leistungskategorien denken kann. Man muss sympathisch sein und gekonnt reden können: sonst hat man sich das Bleiberecht in Deutschland nicht verdient. Dass Flüchtlinge in Not sind und Hilfe brauchen, bleibt uninteressant. Leistung gegen Leistung. Reems Vater hingegen darf nichts leisten. Er darf keinen Job annehmen, um sich unabhängig von staatlicher Hilfe zu machen. Deutsche Widersprüche, deutsche Sadismen.

Streicheln gegen Urängste des Zurückgeschicktwerdens in die Hölle. Auf solch eine mitfühlende Geste muss man erst mal kommen. Wie wär‘s mit einer Streichelbrigade an den Flughäfen, wenn die Abgelehnten ins Chaos zurückgeschickt werden? Deutschland, ein gefühlloser Streichelzoo.

Der SPIEGEL meint: „Das wahre Problem ist aber nicht Merkels angebliche Gefühlskälte. Die Emotionen der Kanzlerin sind zweitrangig. Entscheidend ist, wie Merkel ihre Politik für Flüchtlinge, Asylbewerber, Zuwanderer, Migranten in den vergangenen Jahren ausgerichtet hat. Leider ist die Bilanz kläglich.“ (SPIEGEL.de)

Einwand: hier war keine primär politische Situation. Hier waren persönliche Begegnungen vorgesehen. Harte Politik kann man Kindern nicht vermitteln. Merkel hätte sich entscheiden müssen: Politik, dann ohne Gefühle. Oder menschliche Begegnung, dann ohne Härte der Erwachsenen. Die Inkonsistenz ihrer Asylpolitik wollte Merkel nicht offen legen. Sie gab sich rationaler, als deutsche Gesetze wirklich sind:

„Auch fragte das Mädchen: „Warum ist das so, dass Ausländer nicht so schnell arbeiten dürfen wie Deutsche?“ Merkel antwortete nicht. Das Ausweichen zeigt, dass die Kanzlerin keine konkreten Versprechen machen will. Noch immer nicht. Das ist das wahre Drama hinter der Geschichte des weinenden Flüchtlingsmädchens.“

Hier schämte sich die Kanzlerin – durch Verstummen. Soll dies ein offener Dialog mit Rede und Gegenrede sein? Merkel fertigt ab, die andere Seite muss sich zufrieden geben. Kritische Nachfragen wären ein Majestätsverbrechen.

Zum deutschen Schluss muss der Moderator der in Bedrängnis geratenen Kanzlerin aus der Patsche helfen: „Dass Merkel sich herzlos verhalten habe, findet er nicht. „Sie hat menschlich reagiert, auf ihre Art„, sagt Seibert-Daiker.

Auf wie viele Arten kann man menschlich reagieren? Auf beliebig viele? Dann könnte menschlich auch sein, wenn es unmenschlich wird. Wie viele Tyrannen gab es, die ihre Untertanen mit Gewalt beglücken wollten? Wenn alles Menschengemachte menschlich sein sollte, wäre auch Bestialisches human.

Der barmherzige Samariter hatte wesentlich mehr an Hilfe zu bieten als die vorbildliche Lutheranerin. Jener pflegte das Opfer der Räuber mehrere Tage und gab dem Wirt noch Geld, damit dieser ihn weiterhin versorge. Dann erst machte der Samaritaner die Flatter.

Christen üben Nächstenliebe, um sich ihre Seligkeit zu erkaufen. Emotionale Beziehungen zu ihren Hilfsobjekten lehnen sie ab. Auch in Glaubensdingen ist jeder sich selbst der Nächste. Das ist Darwins Gesetz, das er in seinem Neuen Testament gelernt hatte. In keine mondäne Charity-Veranstaltung werden jene eingelassen, denen die parfümierten Almosen zugedacht sind.

Merkel hatte kein einziges Wörtchen der Ermutigung und des Trostes für die schluchzende Reem. Die barmherzige Samaritanerin kann nicht alle Welt erlösen. Das hat die Welt nicht verdient. Barmherzigkeit muss enden, wo Erfolgreiche ihren Wohlstand mit Verlierern teilen müssten. Das Wachsen der deutschen Wirtschaft wäre empfindlich gestört.

Steinbrück beschuldigt die Griechen, ihre wirtschaftliche Insolvenz zu verschleppen. Die Deutschen verschleppen ihre moralische Insolvenz.