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Trostloser Trost

Hello, Freunde des trostlosen Trosts,

«Ich glaube (…), dass es wichtig ist, wenn eine Bundeskanzlerin mit Menschen diskutiert, wo sie die Sachlage nicht ganz genau kennt, dass ich da nicht sage: Weil Du gerade die Bundeskanzlerin getroffen hast, ist aber Dein Schicksal schneller zu lösen als das von vielen, vielen anderen», sagte Merkel. «Trotzdem möchte man ein weinendes Mädchen trösten. Aber ich kann dadurch nicht die Rechtslage verändern.»“

„Abraham aber sprach: Gedenke, Sohn, daß du dein Gutes empfangen hast in deinem Leben, und Lazarus dagegen hat Böses empfangen; nun aber wird er getröstet, und du wirst gepeinigt. Und über das alles ist zwischen uns und euch eine große Kluft befestigt, daß die wollten von hinnen hinabfahren zu euch, könnten nicht, und auch nicht von dannen zu uns herüberfahren.“

Wie Merkel ein Flüchtlingsmädchen tröstete, so tröstete ein Himmelsbewohner den Reichen in der Hölle: Nichts zu machen, wir sind gerettet, du bist verdammt. Ewig bleibt zwischen uns eine unüberbrückbare Kluft. Wir gehören nicht zu euch, ihr gehört nicht zu uns.

Die Alibikritik an Merkel ist im Äther verrauscht. Heute dominiert eine dpa-Schlagzeile fast alle Medien und rehabilitiert die gescholtene Kanzlerin auf der ganzen Linie. Mit der stereotypen Meldung einer Nachrichtenagentur! Eigene Gedanken und Worte überflüssig. Wie die Medien die PR-Begriffe des Kanzleramts blindlings übernehmen („Bürger-Dialog“), so lassen sie sich von „objektiven“ Agenturen gleichschalten.

„Ich glaube, dass das so okay war“. (WELT.de)

Und weil sie es glaubt, so glaubt es auch die beunruhigte Nation, die beruhigt werden will. Ob Merkel Recht hatte oder nicht, entscheidet sie selbst in absolutistischer Souveränität, dem Basta ihres Vorgängers vergleichbar. Durch

eine Stimmung. Die Stimmung der Gelassenheit. Gelassenheit ist die deutsche Wunderdroge des Rechtfertigens und Abwiegelns. Der Aufgeregte und Hektische hat immer Unrecht – und hätte er noch so Recht.

Hierzulande entscheiden keine Argumente, keine empirischen Vergewisserungen. Sondern der zur Schau getragene stoische Gleichmut der Politdarsteller. „In aller Ruhe“, wird höheren Orts geprüft. „In aller Gelassenheit“, wird höheren Orts reagiert. „Sterile Aufgeregtheit“ ist seit der 68-er-Studentenbewegung das Kennzeichen des alles verwüstenden Mobs.

Kinder orientieren sich am Gemütszustand der Eltern. Starke und verlässliche Eltern sind für sie wie Felsen in der Brandung: uneinnehmbar. Die Deutschen, durchgängig infantilisiert, sind auf das Niveau beunruhigter Kinder zurückgefallen, die durch bloßes Handauflegen beruhigt werden können. Ob Muttern Recht hat, entscheidet sie durch demonstrative Unberührtheit. Edelschreibende Seelenkenner sprechen von Nüchternheit, gar von Sachlichkeit:

„Nüchternheit, Pragmatismus, Schritt für Schritt – das sind die Begriffe, die sich mit Merkels Regierungsstil verbinden. Immer schön sachlich bleiben.“ (Süddeutsche.de)

Die arme Kanzlerin ist im „Amt gefangen“. Wer möchte da nicht alles liegen und stehen lassen und auf der Stelle die Gefangene befreien?

„Berufliches und Privates hat sie so konsequent getrennt wie kein Kanzler vor ihr.“ Das Gegenteil ist der Fall: noch nie hat jemand die BRD regiert, der seinen persönlichen Glauben so komplett zur Generaldevise seiner gesamten Politik gemacht hätte wie Angela: Bewahren wir Ruhe, meine Untertanen. In der Welt ist alles vergeblich– doch wir Deutsche sind in Gottes Hand.

Deutsche Schreiber beherrschen nicht mehr die deutsche Sprache. Ob Psychologie, Geschichte oder Theologie: jede Disziplin, die ihnen in die Finger gerät, wird zur Maische. Was ist das für ein Trost, wenn er den Getrösteten sachlich ungetröstet zurücklässt? Tröstungen von Emotionen, die mit der Realität nicht verbunden sind, gehören in die Abteilung Drogen und Religion. „Ich kann doch nicht wegen eines zufällig vorhandenen, sentimental heulenden Mädchens die Rechtslage verändern.“

So beruhigen amerikanische Gefängnisgeistliche die Todeskandidaten zehn Minuten vor der alleströstenden Giftspritze. So tröstete Abraham den auf Erden bevorzugten Reichen, der im Himmelreich die komplementäre Quittung erhält: Lazarus hatte es auf Erden schlecht, nun wird er belohnt. Du hattest es gut, nun wirst du bestraft. Das, mein Lieber, ist göttliche Gerechtigkeit. Die auch dir zuteil wird, mein Sohn. Wenn das kein göttlicher Trost ist, dann gibt es keinen.

Die Opfer der Inquisition wurden zu ihrem Besten geröstet. „Es ist besser für dich, dass eins deiner Glieder verlorengeht – und nicht dein ganzer Leib in die Hölle geworfen wird. Wenn dich aber deine Hand oder dein Fuß zur Sünde verführt, so hau ihn ab und wirf ihn von dir. Es ist besser für dich, dass du verstümmelt oder lahm in das Leben eingehst, als dass du zwei Hände oder zwei Füße hast und in das ewige Feuer geworfen wirst.“

Das ist die Nächstenliebe der Inquisition – die von Frau Merkel in gemilderter Form exekutiert wird. Sie könne die Gesetzeslage nicht verändern? Soll das ein Witz sein? Doch von keinen ARD-Beamten bemerkt und bemäkelt. Der Kanzlerin stellen sie scheinkritische Fragen – die nicht die ihren sind. Die Henry-Nannen-Spitzenprodukte zitieren immer nur andere. Sie selbst verbieten sich jede persönliche Position und benutzen die Meinungen anderer nur als kuriose Stichworte, um den Mächtigen die Chance zu geben, sie mit zwei Sätzen vom Tisch zu wischen.

(Jüngst behauptete ein Herr Kreye in der SZ, Journalisten und Wissenschaftler hätten keine eigene Meinung zu äußern. Schlussfolgerung: nur dummes Volk hat Meinung, Gebildete befinden sich oberhalb aller subjektiven Meinungstümpel.)

Jeder Demokrat hat alles zu unternehmen, um idiotische Gesetze zu verändern. Merkel ist nicht die Machtlosesete unter ihnen, die sagen müsste: Reem, du hast Recht. Unsere Gesetze sind menschenfeindlich, ich tu alles, was in meiner Macht steht, um sie zu verändern. Das wäre ein Trost gewesen, der seinem Begriff gerecht geworden wäre. Zu trösten, wo es nichts zu trösten gibt, ist wie palliatives Psalmenvorlesen beim Waterboarding.

Merkel trennt nicht Privates und Politisches: ihre private Religion ist ihre Politik. Warum bemerken das nicht die Deutschen, die zu 100 000en aus den Kirchen fliehen? Weil ihr seelischer Untergrund noch fest in den Händen des Heiligen liegt. Ihre Abwendung von den klerikalen Heuchlern ist selbst ein Akt frommer Selbstreinigung: besser als die verkommenen Kanzelredner fühlen sie, was das Gute ist – das sie im Neuen Testament ahnen und vermuten. Ihre intuitiven Vermutungen sind falsch.

Noch immer sind sie im Bann jener Deuter, die das Wort ihrer Schrift nach Gusto zusammenzimmern. Alle philosophischen Weisheiten dieser Welt sind für sie wie ein Supermarkt, den sie nach Belieben plündern, um ihre minderwertigen Offenbarungen aufzumotzen. Dreistere Lügner als christliche Gottesgelehrte hat es in der Geschichte der Menschheit noch nicht gegeben.

Auch Gelassenheit ist keine christliche, sondern eine stoische Tugend. Ataraxie nannten die Stoiker die „Affekt­losigkeit und die emotionale Gelassenheit gegenüber Schicksalsschlägen und ähnlichen Außeneinwirkungen, die das Glück des Weisen gefährden.“

Jesus war kein Stoiker. Im heiligen Zorn vertrieb er die Händler mit der Peitsche aus dem Tempel seines Vaters. In tiefster Not machte er seine Jünger zur Schnecke, sie könnten kein Stündlein mit ihm wachen. Am Kreuz rebellierte er gegen den Vater höchstselbst: Vater, lass diesen Kelch an mir vorübergehen – um kläglich einzuknicken: doch dein Wille geschehe. Einen Feigenbaum verdammte er, weil er zur Unzeit keine Früchte trug. Seine Mutter machte er auf einem Fest zur Minna, weil sie mit ihrem Wundersohn angeben wollte: Weib, was hab ich mit dir zu schaffen? Überhaupt sagte er: Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert. In schrecklicher Rachsucht wird er alle Menschen, die ihn als Messias ablehnen, in die Hölle schicken. Unberührt bleiben die Erwählten nur, wenn sie die Nichterwählten ungerührt dem Abyssus übergeben.

Ihre Empathieunfähigkeit verkauft die hinterpommersche PR-Meisterin als christliche Tugend. Medien und Publikum glauben dem Spektakel, weil sie glauben wollen. Sie wollen betrogen werden – und die Pastorentochter betrügt am besten. Sie lügt mit jungfräulichem Gewissen, denn sie lügt – gelassen. Ihre dreisten Lügen nennt sie Glauben.

Inzwischen verwandeln die Deutschen den Stein des Anstoßes zum Eckstein ihrer brünstigen Verehrung. Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, ist zum Eckstein geworden. BILD, Pfuhl der unergründlichen deutschen Seele, transsubstantiiert das weinende Kind zur Erlöserin der Deutschen.

Warum sind die Deutschen so kinderfeindlich? Weil sie auf das Erlöserkind warten, das sich unter all den schreienden Bälgern nicht einstellen will. Lasset die Kindlein zu ihnen kommen und wehret ihnen nicht – es sei, sie quengeln den Dauerbelasteten die letzten Nerven ab.

Deutsche Unmäßigkeit – vom Himmelhochjauchzen bis zum „Schiebt-sie-ab“ – nannte Hegel Dialektik. Maß ist für Deutsche schäbiges Mittelmaß. Unmäßigkeit ist für sie Normalität.

„Was geschah mit unserem Sündengewissen? Wir alle begannen dieses Mädchen zu lieben. Wir alle hatten wieder das Gefühl, Mensch zu sein. Die höchste Funktion unserer Spezies ist die Liebe.“ (BILD.de)

Viral ist das neue Modewort der Edelschreiber. Ohne eingeschmuggelten Virus der Häme können sie nicht mehr berichten. Wenn Varoufakis es wagt, Schäuble noch immer zu kritisieren, obwohl er kein Ministeramt mehr hat, muss er die „minderwertige“ Bühne der – Gazetten wählen. Welch Selbsthass der Gazetten! Der Ex-Minister „tritt nach“, so der SPIEGEL, für den ein Normalo offensichtlich kein Recht besitzt, andere mit seiner Meinung zu behelligen.

Dass inzwischen der gesamte Westen Deutschland als „Viertes Reich“ attackiert, scheint Merkel & Co nicht zu tangieren. Ja, Angriffe genießen die Wirtschaftsimperialisten wie eine Bestätigung ihrer neuen Pracht und Herrlichkeit. Viel Feind, viel Ehr. Wer Macht hat, muss mit Hasstiraden rechnen.

Nun aber treten unerwartete Probleme auf, die den Deutschen mächtig ins Kontor schlagen könnten. Ausgerechnet die Transatlantiker Berlins, bislang engste Freunde der Amerikaner, geraten ins Visier der – Amerikaner, die nicht verstehen, wie man ein kleines Land so beschädigen muss, um es angeblich zu retten.

Eine verhängnisvolle Fehlleistung Merkels, die vor lauter Beglückungswahn die Kleinigkeit übersah, dass Obama die südöstliche Flanke der NATO unbeschädigt haben will.

Die Sieger haben den Deutschen, die sie vom Bösen befreiten, viele Schulden erlassen. Die Deutschen erlassen ihren ehemaligen Opfern, den Griechen, nicht die geringsten Schulden. Bibelfeste Amerikaner kennen das Gleichnis vom großmütigen König und unbarmherzigen Knecht. Der König erlässt seinem Knecht viele Schulden. Der aber geht hin und lässt seinen Schuldner gnadenlos ins Gefängnis werfen. Da wird der König mächtig böse:

„Du Schalksknecht, alle diese Schuld habe ich dir erlassen, dieweil du mich batest; solltest du denn dich nicht auch erbarmen über deinen Mitknecht, wie ich mich über dich erbarmt habe? Und sein Herr ward sehr zornig und überantwortete ihn den Peinigern, bis daß er bezahlte alles, was er ihm schuldig war.“

Schon prognostiziert der amerikanische Politanalytiker George Friedman die Bedeutungslosigkeit der Deutschen für die Mitte des Jahrhunderts. Auch die Kluft zu Frankreich vertieft sich im Blitzkrieg-Tempo. Hollande will das Gegenteil des Trios Merkel, Schäuble und Cameron, die auf verschärften nationalen Wettbewerb setzen.

„Was Europa bedroht, ist nicht ein Zuviel, sondern ein Zuwenig an Europa.“ Hollande, von Merkels Ranküne ständig untergebuttert, setzt auf Einsichten von Jaques Delors, des ehemaligen EU-Chefs in Brüssel. Bereits 1997 hatte Delors gefordert, ein politisch-ökonomischer Pakt sei unerlässlich. „Er, der seit Ende Juni europäischer Ehrenbürger ist, war davon überzeugt, dass eine Währungsunion nicht funktionieren werde, wenn es keine Lösung dafür gebe, wie die wirtschaftlich schwachen Staaten wettbewerbsfähig gemacht werden könnten.“ Selbst der Sex-Maniak Dominique Strauss-Kahn veröffentlichte einen Brandbrief an seine deutschen Freunde, in dem er schrieb:

„Die Bedingungen dieses Abkommens sind wahrlich erschreckend für jeden, der noch an die Zukunft Europas glaubt. Was sich letztes Wochenende in Europa ereignet hat, ist aus meiner Perspektive grundsätzlich verhängnisvoll, ja fast tödlich.“ (WELT.de)

Vielleicht liegt es an der Abwesenheit von Sex-Maniaks in Berlin, dass adrette und erotische Hellenen von säuerlichen preußischen Asketen zum Frühstück verspeist werden. Wer sein Leben nicht leben kann, kann es nicht ertragen, dass Lebenslustige „auf seine Kosten“ carpe diem machen. Auch hier hülfe schriftvergessenen Christen ein Blick ins Buch ihrer Offenbarung, das sie über alles preisen, aber mit völliger Nichtbeachtung bestrafen:

„Denn was kriegt der Mensch von aller seiner Arbeit und Mühe seines Herzens, die er hat unter der Sonne? Denn alle seine Lebtage hat er Schmerzen mit Grämen und Leid, daß auch sein Herz des Nachts nicht ruht. Das ist auch eitel. Ist’s nun nicht besser dem Menschen, daß er esse und trinke und seine Seele guter Dinge sei in seiner Arbeit? Aber solches sah ich auch, daß es von Gottes Hand kommt. Denn wer kann fröhlich essen und sich ergötzen ohne ihn?“

Dirk Schümer, feingeistiger Erfinder der „Festung Europa“, schnürt das Sonderpaket des deutschen Autismus auf bildungsgesättigter Ebene. Welch glücklicher Zufall, dass Autismus tatsächlich mit Auto zusammenhängt. Laut Duden ist Autismus „extreme Selbstbezogenheit und soziale Kontaktunfähigkeit.“ Leibniz sprach in prophetischer Klarheit von autistischen Monaden. Jeder Deutsche ist rundum geschlossen und in prästabilierter Harmonie von Oben an der Leine geführt.

Merkel kann sich keine gefügigeren Auto-Untertanen wünschen. Nun sind wir wieder alle hässliche Deutsche und dürfen mit dem hässlichen Amerikaner um die Stechpalme der Mächtigsten und Unbeliebtesten konkurrieren. Doch Entwarnung:

„Gerade von der einstigen Weltmacht Großbritannien können wir lernen, mit Hass und Klischees umzugehen. Wenn man es ohnehin keinem Recht machen kann, dann entschuldigt man sich nicht und man beschwert sich auch nicht. Man buhlt nicht um Zuwendung und ignoriert die Häme – wie ein echter Gentleman.“

Hoppla, Gentlemen sind geschliffene, im Geiste Altgriechenlands erzogene Feingeister, die des angemessenen und verständigen Wortes mächtig sind. Von diesem Forum sind lutherische Grobklötze weltenweit entfernt. Lasst die Hunde kläffen, wir ziehen unberührt unseres Wegs. Ohnehin können wir den Wettbewerb im „hinterhältigen Spiel der Diskurse“ nie gewinnen. (Dirk Schümer in WELT.de)

Amerika, Portugal, Belgien, Italien, England, natürlich Griechenland, selbst Österreich, Herkunftsland Hayeks: von allen Seiten prasselt es nur so auf Deutschland. Kein Grund für Schümer, die fast übereinstimmenden Rückmeldungen als erkenntnishaltige Warnzeichen zu überprüfen, ob wir Hässliche uns nicht verrannt haben könnten. Im Gegenteil: je mehr sie uns an den Kragen gehen, je unschuldiger müssen wir sein.

Die Nation, die bis gestern nie Recht haben wollte, hat über Nacht unfehlbar Recht. Die Schuld des klaffenden Zerwürfnisses kann nicht bei uns liegen. Vor lauter fremden Splittern sehen unsere neiderfüllten „Freunde“ nicht die Balken im eigenen Auge. Der wahre Grund der Völkerschlacht um den Euro: wir sind zu leichtsinnig im Verschenken.

„Die Rolle des Bösewichts in diesem Drama ist nun mal vorab vergeben. Der französische Ethnologe Marcel Mauss hat in seinem Standardwerk „Die Gabe“ schon 1923 an spendablen Indianerstämmen nachgewiesen, dass der reiche Protz sich unbeliebt macht und alle Sympathien stets dem Habenichts zufliegen. Verschenken macht Feinde – wir hätten das vorher bedenken sollen.“

Ausgerechnet die Amerikaner, die selbst Dreck am Stecken haben, begeifern uns am meisten. Dass jede Selbst- und Fremdwahrnehmung eine charaktertypische Mixtur aus Wahrheit und Verzerrung ist, scheint dem gruppendynamischen Konfliktexperten Schümer unbekannt. Selbst die hasserfüllteste Perspektive kann wahrer sein als liebende Blindheit. Doch Fremdwahrnehmungen sind für Schümer a priori Bösartigkeiten, die man en bloc über Bord werfen muss. Wer Deutsche derart kritisiert, kann nicht ernst genommen werden. Schließlich kennen wir uns am besten: wir sind zu gut für diese hinterhältige und undankbare Welt:

„Mit der Rollenzuteilung und dem Hinweis auf die Nazivergangenheit appelliert man pfeilgrad an den deutschen Schuldkomplex. Schäubles Hitlerbärtchen und Angela Merkels straffe SS-Uniform sind zwar wohlfeil, funktionieren diskursiv aber immer wieder prächtig. Wir können uns darüber reflexhaft aufregen und argumentieren, dass die Fakten doch ganz andere sind, dass (auch zu Ehren der Opfer von einst) zwischen Endlösung und Eurorettung gewisse inhaltliche Differenzen bestehen. Doch es hilft nichts.“

Es hilft nichts: das ist das Gesamtfazit der Schümer‘schen Analyse des westlichen Gruppenkonflikts. Wenn alles Streiten und Argumentieren nichts hilft, hilft nur noch – das Einmauern in der Festung Deutschland. Ein feste Burg ist unser Vaterland, ein gute Wehr und Waffen.

Selbstkritische Einsichten sind in Schümers Welt des reinen deutschen Toren nicht vorgesehen. Das wäre nur prophylaktisches, ehrloses Einknicken:

„Es gibt für uns hässliche Deutsche natürlich die Möglichkeit des vorauseilenden Gehorsams. Der liegt uns ja ohnehin im Blut. Wir können uns also zerknirscht an die Brust schlagen, weil wir nicht noch viel mehr bezahlen. Sorry, dass wir immer so schroff sind und die Würde der wohlerzogenen Griechen auf das Knausrigste verletzen. Grüne Spitzenpolitiker gehen diesen Weg der Pauschalentschuldigung, wenn sie sich auf dem Syntagmaplatz zum politischen Bußgottesdienst aufstellen.“

Selbstkritische Deutsche sind unehrenhafte Deutsche, die sich nicht schämen, vor aller Welt im Büßerhemd aufzutreten.

Deutsche Christen hassen niemanden mehr als – deutsche Christen. Schon haben wir wieder die Spaltung in ecclesia triumphans und ecclesia patiens. Siegende und leidende Gläubige würden sich am liebsten Gift geben.

Nun erhalten wir die Quittung für das unmäßige Bedürfnis, von aller Welt geliebt zu werden. War es nicht erst gestern, dass wir uns an der Welt rächten, weil sie uns partout nicht lieben wollte? Welt, bist du nicht willig, so brauchen wir Gewalt. In vollendeter Naturpoesie hat Goethe das monströse Wesen der Deutschen beschrieben:

Knabe sprach: „Ich breche dich,
Röslein auf der Heiden!“
Röslein sprach: „Ich steche dich,
Dass du ewig denkst an mich,
Und ich will’s nicht leiden.“
Und der wilde Knabe brach
’s Röslein auf der Heiden;
Röslein wehrte sich und stach,
Half ihm doch kein Weh und Ach,
Musst es eben leiden.

Deutsche glauben, die Welt zu erlösen, wenn sie ihr das Genick brechen. Bis heute verstehen sie nicht, dass die Welt nicht zwangserzogen werden will. Sind wir noch immer nicht lernfähig? Was sollten wir denn lernen, wenn wir unfehlbar geworden sind?

Schümer gibt unserer Hartherzigkeit einen stählernen Bildungs-Untergrund. Jeher waren Intellektuelle tiefdenkende Protagonisten der deutschen Unvergleichlichkeit – und vorauseilende Lobredner deutscher Waffen. Unverständige Völker müssen bestraft werden, wenn sie deutsche Unschuld aus welscher Bosheit, mediterraner Leichtlebigkeit und krämerhafter Überheblichkeit nicht anerkennen wollen.

Was folgt? Heideröslein – da capo.