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Deutscher Hegemon

Hello, Freunde des deutschen Hegemons,

im Dritten Reich sprach man vom Führer, im Vierten Reich sagt man Hegemon. Was Führer auf Deutsch, ist Hegemon auf Griechisch. Die wichtigsten Begriffe der europäischen Welt entstammen der Sprache jenes Volkes, das man heute im Mittelmeer versenken will.

Deutschland will Hegemon Europas sein. Was dem Dritten Reich mit militärischen Mitteln nicht gelang, will das Vierte Reich mit wirtschaftlichen erreichen. So sieht es das nichtdeutsche Europa.

Das Skandalöse der SPIEGEL-Story (13/2015), die diesen Vorwurf untersucht, liegt nicht im provokativen Titelbild (der unschuldig lächelnden Pastorentochter in der Mitte von deutschen Herrenmenschen in Wehrmachtsuniformen), sondern in der analytischen und philosophischen Inkompetenz eines in früheren Jahren brillanten, heute in beschleunigter Verfallsgeschwindigkeit degenerierenden Politmagazins.

Die Deutschen brillierten einst in Graecomanie – der Überidentifikation mit Alt-Hellas –, ohne die logische und philosophische Schärfe und Prägnanz des hellenischen Denkens auch nur ansatzweise zu erreichen. Von demokratischen Fähigkeiten ganz zu schweigen. Das Überidentische bezog sich vor allem auf die Kunst und die Mythen des homerischen Zeitalters – weit vor Beginn der philosophischen Aufklärung.

Das Demokratische eines Perikles, das Wahre und Gute eines Sokrates, die Glücksfähigkeit eines Epikur, die unbestechliche Gelassenheit der Stoiker, die kosmopolitische Philanthropie vieler Wanderlehrer und Tragödien- und Komödiendichter war für sie unerreichbar – weshalb sie, nach der Phase der Idolatrie, vieles Hellenische wieder abwarfen und für überwunden erklärten.

Die heidnische Freiheit des Denkens hatten sie benutzt, um sich von der Despotie des Christentums ein wenig zu befreien. Doch als sie dem Wahn verfielen, sie hätten

das Griechische in den Schatten gestellt, fielen sie ab der Romantik wieder zurück und verendeten in den Fängen der Unfehlbaren, die auch dazugelernt und ihre Himmelsbotschaft mit geklauten griechischen Erkenntnissen aufgemotzt hatten.

So entstand die bis heute gültige christianisierte Ekel-Mischung aus unbegrenzt schweifender Deutung und dogmatisch gefesselter Heilsbotschaft. Seitdem vollbringen die Deutschen das Kunststück, die Allerfreiesten in angeketteter Gebundenheit zu sein.

„Freiheit in Bindung“ ist ihr schwarzes Schimmel-Wort für Leute, die von politischer Freiheit nichts wissen wollen und geistige Freiheit als „freiwillige“ Unterwerfung unter Gott verstehen. Ein deutscher Christenmensch ist ein freier Herr aller Dinge und niemand untertan – in der Illusion. Und ein Knecht aller Dinge und jedermann untertan – in der harten Realität.

Die Gedanken sind frei beim Träumen und Spintisieren, die Taten sind unfrei, wenn politische Mächte befehlen, Medien suggerieren und Bosse der Wirtschaft kategorisch diktieren. Luther war ein untertäniger Paulusschüler: „Denn wiewohl ich allen gegenüber frei bin, habe ich mich allen zum Knecht gemacht.“ Klingt kokett.

Das Widersprüchliche – die höchste Eigenschaft des Heiligen – zieht Deutsche magisch an, weshalb sie amtierende Weltmeister in Dialektik geworden sind. Wozu um Himmels willen wollen sie sich zu Knechten der ganzen Welt machen? Eben: um Himmels willen. Paulus: „Damit ich die Mehrzahl von ihnen gewinne.

Es handelt sich um einen genialen PR-Trick, mit dem man die Welt missionieren und durch Glauben beherrschen kann. In meisterhafter Vorspiegelung des Gegenteils wird das Vertrauen der Welt erschlichen. Haben sie Vertrauen gewonnen, besitzen sie auch bald die Macht, die sich des Vertrauens bedient.

Psychotherapeuten reden von paradoxer Intervention, wenn sie das Gegenteil dessen sagen, was sie erreichen wollen. Bei Selbstmördern etwa: stürz dich vom Dach, dann sind wir dich endlich los. Das gelingt aber nur bei Menschen mit einem intakten Rest an antiautoritärem Trotz und Auflehnungsgeist. Bei Menschen mit totaler Subordination würden paradoxe Interventionen zu Katastrophen führen.

Die modernen Seelenkenner haben die paradoxe Intervention nicht erfunden. Etwas zu sagen, doch das Gegenteil zu meinen, ist die begnadete Erfindung der Frohen Botschaft: die schärfste Waffe gegen die Macht der Welt und gegen die Attraktivität der geradlinigen Heidenlogik. Die Christen bekämpften die Anziehungskraft der hellenisch-kosmopolitischen Philosophie, indem sie mit Willenskraft die Wahrheitskriterien der Heiden auf den Kopf stellten.

Aus der Not einer vernunftfeindlichen Religion machten sie die Tugend einer unbegreiflichen und unfehlbaren göttlichen Offenbarung, die sich menschlichen Kriterien und Denkgesetzen entzieht. Nicht mehr logische Konsistenz, sondern alle Vernunft übersteigende „Komplexität“ (würde man heute sagen) war das Signum der höheren göttlichen Wahrheit. „Der Friede Gottes, der höher ist als all eure Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne“: dieses Höhere, das sich durch simple Logik nicht fassen lässt, wurde zum Wahrheitsbeweis des Göttlichen.

Hier beginnt die Entwertung der menschlichen Denkkraft zu Gunsten einer höheren Schicksalsmacht, die von keinem ordinären Gehirn erfasst werden kann.

Das Vertrauen zur Vernunft gebar in Europa Renaissance und die vielen Aufklärungswellen. Das Misstrauen in die Vernunft war der Nährboden für die Gegenaufklärungen. Der Neoliberalismus mit allwissendem Markt ist die vorläufig letzte weltbeherrschende Revitalisierung der Gegenaufklärung – die in der Moderne mit dem Theologen Hamann – einem Zeitgenossen Kants – begann und heute bei Hayek, Franziskus und dem amerikanischen Kreationismus endet.

Das Feuilleton der Gegenwart ist zur Spielwiese des koketten Widerspruchs geworden. Kaum ein deutscher Schreiber, der einen widerspruchslosen Satz formulieren könnte. Je antagonistischer das Geschreibe, umso edler und transzendenter das Geflirre purzelnder Ideen und putziger Einfälle. Im deutschen Feuilleton gilt nicht mehr A = A, sonder A ist alles, nur nicht A.

Den erwartbaren Spott griechischer Philosophen konterte Paulus mit dem Gegenspott Gottes wider allen Flachsinn menschlicher Denkautonomie. „Als sie aber von Auferstehung der Toten hörten, spotteten die einen und die anderen sagten: wir wollen dich darüber ein andres Mal hören.“ Darauf Gottes Reaktion: „der im Himmel thronet, lacht, der Herr spottet ihrer. Aber du Herr, lachst ihrer, du spottest aller Heiden.“

Gott lässt seiner nicht spotten: „Wehe euch, die ihr hier lacht“. Alles können Fromme ertragen, nur nicht das spöttische Lachen der Gottlosen. „Euer Lachen verkehre sich in Weinen.“ In der Hölle wird den Verdammten das Lachen vergehen. Daher das Wort: wer zuletzt lacht – im Himmel – der lacht am besten.

Woher die Angst männlicher Erlöser vor dem Lachen unabhängiger Geister? Abrahams Frau Sara gibt uns einen tiefenpsychologischen Wink: „Darum lachte Sara bei sich selbst und dachte: nun, da ich welk bin, soll mich Liebeslust ankommen?“ Beim Lachen Saras wird der anonyme Gott sauer und stellt Abraham zur Rede, warum sein Weib gelacht hätte. Ob sie nicht wüsste, dass bei Gott nichts unmöglich sei und er Sara, wann immer er wolle, sehr wohl Liebeslust und ein Kind schaffen könne? Als Sara merkt, dass ihr blasphemisches Lachen gefährlich werden kann, leugnet sie, gelacht zu haben: „Ich habe nicht gelacht. Denn sie fürchtete sich. Aber Gott sprach: Doch, du hast gelacht.“

Schon Eva war vorwitzig und ungehorsam gewesen. Sara wagt es, über Gottes Impotenz zu lachen. Frauen lachen, wenn Machomänner es nicht schaffen, ihnen Lust zu bereiten. Ergo verspotten sie das phallische Werkzeug der Männer.

Alles Gründe für die Herren der Schöpfung, Frauen für immer zu degradieren und alle weiblichen Körperereignisse mit Schmerz und Scham zu belegen. Der Kern des Geschlechterkampfes ist die männliche Bekämpfung der überlegenen weiblichen Sinnlichkeit und ihrer Spottlust über den entzauberten Mann: schau, der Kaiser hat keine Kleider. Sagt das mit der Mutter verbundene Kind. Weib & Kind muss der Krieger in der Schlacht gegen den Feind am schrecklichsten heimsuchen.

Die gradlinige Logik der Hellenen lautete, wer besser sein will als andere, muss sie übertreffen: immer der Erste zu sein und voranzustreben den anderen.

Die auf den Kopf gestellte Logik der Gläubigen: wer besser sein will als andere, muss – schlechter scheinen. „Der Größte unter euch soll euer Diener sein. Wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden, und wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden. Wer unter euch groß sein will, sei euer Diener und wer unter euch der Erste sein will, sei euer Knecht, wie der Sohn des Menschen nicht gekommen ist, damit ihm gedient werde, sondern damit er diene und sein Leben gebe als Lösegeld für viele. (Nicht für alle).

Zum Schein muss Jesus Loser der Unheilsgeschichte und ans Kreuz genagelt werden – um durch triumphale Auferstehung zum Allherrscher des Universums aufzusteigen. Gott ist in den Schwachen mächtig. Die Hochmütigen und Hoffärtigen bestraft Gott, „den Demütigen aber gibt er Gnade.“

Wer ist der Größte im Himmelreich? „Wer nun sich selbst erniedrigt, wie dieses Kind, der ist der Größte im Reich der Himmel. Denn wer der Kleinste unter euch allen ist, der ist groß.“ Hier liegt der Grund des jesuanischen Gebots, wie die Kinder zu werden. Kinder sind die Unbedeutendsten unter den Menschen – durch paradoxe Intervention Jesu werden sie zu den Größten.

Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder …, bedeutet: wer nicht dumm und demütig wird wie Kinder, kann nicht zum Herrn der Schöpfung aufsteigen. Selbstbewusste Kinder sind aber gar nicht demütig. Also müssen sie durch Demutserziehung frommer Eltern zu Demütigen geprügelt werden. Wen Gott liebt, den prügelt er zur Demut.

Was hat die paradoxe Intervention, die scheinbare Umwertung aller Werte, mit der deutschen Hegemonie der Gegenwart zu tun?

Die Deutschen sind seit 2000 Jahren bestens christianisiert, was nicht bedeutet, dass sie nicht auch widerborstig gegen das liebe Jesulein gewesen wären. Sei es aus Gründen des Stolzes unbesiegbarer Germanen, sei es aus dem Geiste der aufkommenden griechischen Aufklärung. Also schwankten sie unberechenbar zwischen nicht-paradoxem direktem Willen zur Macht und religiös gebotener instrumenteller Demut zur Macht.

Die Umwertung der Werte war keine, es war nur eine Umwertung der Mittel zu denselben Werten wie bei den Griechen: immer die Ersten und Auserwählten der Schöpfung zu sein und die Letzten in den Schatten zu stellen. Nicht gleich auf Erden, aber gewiss im Finale der Geschichte, wo das Jüngste Gericht den Schein der Demut in das Sein des endgültigen Sieges über alle Ungläubigen verwandeln wird. Im Jüngsten Gericht ist Schluss mit der göttlichen Trickserei des paradoxen Sprechs und der listigen Täuschung der Ungläubigen in posierter Demut und gespielter Kleinheit.

Was für den gradlinigen heidnischen Verstand nichts als Heuchelei und Bigotterie, ist für die Erwählten des Herrn die göttlich gebotene scheinbare Umkehrung der Werte – um dieselben Macht- und Herrschaftsziele zu erlangen wie die Heiden.

Aufs Ganze gesehen sind Christen machthungriger und herrschaftsgeiler als alle Heiden zusammen. Sie wollen Mitherrscher in Ewigkeit sein, nicht nur sterbliche Machthaber des Irdischen.

Aus der Perspektive des weltlichen Verstands sind Christen Dauerheuchler. Aus ihrer eigenen Perspektive können sie gar nicht heucheln, denn ihre Heuchelei ist ihre in alle Welt hinausposaunte offizielle Taktik und Heilsethik: Macht euch die Erde untertan. Aber tut so, als könntet ihr nicht bis auf drei zählen.

Unglaublich, aber wahr: die mehrheitlich christlich sein wollenden Abendländer wissen nichts über die Umwertung aller Werte, nichts über den Widerstreit zwischen „abstrakter, oberflächlicher Weltvernunft“ und „unergründlich irrationalem Geist des weltüberlegenen Glaubens“, der sich dem Verständnis durch die Weltvernunft entzieht.

Streng genommen können Christen nicht heucheln:

a) Da die moralischen Direktiven der Schrift widersprüchlich sind, sind sie mit sich einig, wenn sie sich widersprechen. Den Satz des Widerspruchs haben sie nie anerkannt. Im Gegenteil: sie glauben, weil es absurd ist. Wem kein Verhalten verboten und alles erlaubt ist, der kann niemals fehl gehen. Gegen Irren und Heucheln ist er immun.

b) Alle „Umwertungen“ haben sie in der Schrift eindeutig formuliert und unmissverständlich propagiert. Was können sie dafür, wenn die Welt zu blöd ist, um Texte zu lesen und zu verstehen?

(Warum lernen die Deutschen in ihren Schulen weder richtig Lesen noch Denken? Damit sie den Finessen des Klerus und der Eliten nicht auf die Schliche kommen. Die politisch-wirtschaftlichen Eliten haben die nichtheuchelnde Heuchelmoral der frommen Abendländer vollständig übernommen.)

Die antinomische Struktur ihrer Moral, verbunden mit einer unzweideutig propagierten paradoxen Mittel-Zweck-Strategie macht es ihnen unmöglich, anderes zu tun, als sie predigen. Da sie alles und sein Gegenteil predigen, können sie alles und sein Gegenteil tun. Nie wird man sie auf dem falschen Fuß erwischen. Die christliche Ethik nach dem Schema „A ist alles, nur nicht A“, ist unwiderlegbar. Sie ist immer im Einklang mit ihrer A-ist-nicht-A-Doktrin, sie kann sich nicht widersprechen, denn Widerspruch ist die Logik ihrer Rede.

Ist Deutschland der Hegemon Europas, die Fortsetzung des Dritten Reichs als Viertes Reich?

Was denn sonst? Allerdings mit einem kleinen, nicht unbedeutenden Unterschied. Hitler eroberte Europa mit militaristischer Gewalt, Merkel mit pazifistisch scheinenden Wirtschaftsmethoden, die aber auch auf Gewalt beruhen: der Gewalt des Zasters, der so tut, als bringe er den Völkern ewigen Frieden, Wohlstand und vertrauliche Beziehungen. Denkste. Das Vierte Reich ist die Fortsetzung des Dritten – mit wirtschaftlichen Machtmethoden.

Der SPIEGEL konstatiert, Deutschland sei zwar mächtig, doch so mächtig wiederum nicht: „Deutschland ist erneut ein Paradox. Es ist mächtig und schwach zugleich. „Es will nicht führen …, doch zugleich will es Europa nach seinem Vorbild formen.“

Natürlich will es führen, sonst könnte es keine Hegemonialmacht sein. Hegemon sein und Führer sein wollen, ist identisch. Warum schwankt Deutschland in seinem Führungswillen?

a) Weil Hemmungen aus der unbewältigten Vergangenheit das Land hindern, seinen Herrschaftswillen in nietzscheanischer Klarheit zu verkünden.

b) Weil es ständig schwankt zwischen direktem Willen zur Macht und christlicher Demut zur Macht.

c) Merkels pastoraler Herrschaftsstil ist Demut, weshalb die Welt ihren Willen zur Macht erst erkannte, als sie zur mächtigsten Frau der Welt aufgestiegen war. Alle männlichen Konkurrenten haben Angies paradoxen Willen zur Macht nicht erkannt, fühlten sich bei Mutter Merkel sicher und aufgehoben – und schwupps waren sie kastriert.

Männer erledigen das ordinäre Raufen – die Drecksarbeit – im Vorfeld der Ereignisse, Mutter Merkel wartet ab und kommt im rechten Moment als friedliche Magd Gottes aus der Tiefe des Raums – um alle Früchte der Verhandlungen auf ihr Konto zu schreiben. The winnerin takes it all. Schäuble und Gabriel sind die nächsten Kandidaten, die ihr Fett vergeben haben und – bald zur Kastration anstehen.

Der Kanzlerin nicht unähnlich, spuckt der SPIEGEL große Töne mit Titel und Titelbild, um im Text einen schmählichen Rückzug zu veranstalten. Will Deutschland das Vierte Reich in Europa? Das Magazin dementiert mit dem Argument, in einer ökonomisch dominierten Welt „gehe es weniger um Herrscher und Beherrschte.“ Vielmehr gehe es um Gläubiger und Schuldner. „Deutschland ist der größte Gläubiger in Europa.“

Jetzt rächt sich, dass der SPIEGEL nicht die einfachsten Fragen stellt. Wenn das Dritte Reich ein faschistisches oder totalitäres Reich war, müsste Deutschland als neoliberales Musterland nicht ebenfalls faschistisch oder totalitär sein? Diese politischen Begriffe stehen in Deutschland unter Tabu, nachdem sie in der 68er-Bewegung inflationär benutzt wurden.

Natürlich geht es auch in der Wirtschaft um Macht. Jedenfalls in der Ökonomie des Darwin‘schen Überleben des Stärksten. Dazu gehört die Hayek‘sche Gegenaufklärung, die nicht auf Vernunft und Verständigung, sondern auf brutale Übermacht setzt.

Vernünftige Debatten in der Eurozone gibt es nicht. Schon im Vorfeld der griechischen Wahlen soll Junker gesagt haben, dass er linke chaotische Burschen aus Athen nicht in Brüssel haben wolle. Ade demokratische Wahlen in der EU. Ganz gleich, was europäische Völker wählen, die Machtzentrale fordert debattenlosen Gehorsam.

Unglaublich, aber wahr: der SPIEGEL hält es für überflüssig, die herrschende Wirtschaftsdoktrin in der EU zu benennen und zu charakterisieren. Ein überwältigenderer Sieg Hayeks ist nicht denkbar, wenn sein Neoliberalismus als alternativlose Ökonomie erlebt und beschrieben wird.

Die Dinge werden auf den Kopf gestellt, wenn der SPIEGEL ausgerechnet Oskar Lafontaine unterstellt, er wollte Europa nach deutschen Vorstellungen umbauen, als er die europäischen Finanzmärkte harmonisieren wollte. Oskar wollte umgekehrt eine deutsche Dominanz verhindern und eine gerechte soziale Ordnung in ganz Europa anregen. Warum nannte ihn ein britisches Blatt den „gefährlichsten Mann Europas“? Weil das Land Margaret Thatchers Urland des Hayekianismus war und die Finanzmetropole London um ihre Megagewinne bangte.

Wie ernsthaft der SPIEGEL den Vorwurf des Vierten Reiches prüfte, ist an der frühen Entlastung Merkels sichtbar. Kaum war die Frage gestellt, wurde sie schon – vor der Prüfung aller Fakten – negativ beschieden: „Von einem Vierten Reich ist die Rede, in Anlehnung an das Dritte Reich Adolf Hitlers. Das klingt absurd, weil die Bundesrepublik eine geglückte Demokratie ist ohne einen Hauch von Nationalsozialismus, und Merkel ist da ohnehin über jeden Verdacht erhaben.“

Faschismus ist Zwangsbeglückung. Die Völker Europas hatten nicht die geringste Möglichkeit, ihre Wirtschaftsform selbst zu wählen. Die Ökonomie der Starken wird allein von den Starken festgelegt. Mit dem religiösen Argument, der unfehlbare Markt würde das gesamte Wirtschaftsgeschehen in der Welt dominieren. Zum Besten der Stärksten. Die Schwachen müssen zusehen, wo sie bleiben. Niemand könne das Überleben der Armen und Schwachen garantieren. Gerechtigkeit sei eine gefährliche Phantasmagorie, die Wirtschaft eine Konkretisierung der Moral. Die „Moral“ der Wirtschaft laute: das Revier des Produzierens und Profitmachens sei keine Betstube der Moral. Wirtschaft sei wie Überlebenskampf in der Wildnis. Wer siegt, hat die „Gerechtigkeit“ des Naturrechts der Starken auf seiner Seite.

Der Unterschied zwischen wirtschaftlichem und militärischem Faschismus besteht lediglich in der Anwendung von militärischen Waffen, die die Feinde aktiv auslöschen. Die darwinistische Wirtschaft tötet nicht aktiv: sie überlässt die Schwachen und Überflüssigen nur sich selbst. Wer verhungert, hat Pech gehabt.

Den Neoliberalismus muss man als Faschismus mit wissendem und für richtig befundenem Neben-Ziel des Verhungerns aller Überflüssigen bezeichnen. Nationalsozialisten töteten mit Vorsatz, Neoliberale töten mit unvermeidbaren Kollateralfolgen. Merkel & Schäuble, Musterchristen, praktizieren einen biblischen Wirtschaftsdarwinismus. Gott tötet und Gott macht lebendig, der Name Gottes sei gepriesen. Hayeks Gott heißt Evolution, der Markt ist ihr Prophet.

Ist Deutschland unschuldig am Elend der Griechen?

Gewiss, die Griechen haben viele Fehler gemacht. Doch das wussten die Deutschen und haben das Land aus politischen Gründen dennoch in die EU aufgenommen. Die Augen haben sie zugemacht und auf die Weisheit des allwissenden Marktes gehofft. In zweierlei Sinn hat Deutschland sich mitschuldig gemacht.

a) Kohl wusste um die notorischen Defizite des durch fremde Besatzungsmächte und eine – im Übrigen durch die USA unterstützte – Militärdiktatur gebeutelten Landes. Man machte beide Augen zu und heuchelte, was das Zeug hielt.

b) Der Neoliberalismus ist eine fremdschädigende Konkurrenzwirtschaft. Durch starke Exportwirtschaft wälzt Deutschland schwächere Länder nieder, drängt ihnen Kredite auf, damit sie jene Schulden bezahlen könnten, die sie beim Kauf deutscher Produkte machen mussten. Man streckt den schwachen Rivalen zu Boden, füttert ihn auf Pump, um eines Tages die absurde Forderung zu stellen, über Nacht müsse er auf eigenen Beinen stehen, sich selbst ernähren und die Schulden zurückzahlen.

Kann ein komatöser Organismus sich selbst ernähren, wenn er keine funktionierende Wirtschaft mehr besitzt? Kommt der nationale Offenbarungseid, soll das Land sich durch Sparen noch mehr strangulieren, um wieder zu genesen. In einem Tollhaus geht’s noch gesittet zu, im Vergleich zu einer neoliberalen Zerstörungswirtschaft.

In Deutschland gibt’s keine nennenswerten linken Ökonomen, die der neoliberalen Dampfwalze etwas entgegenzusetzen hätten. James Galbraith in Amerika hat zusammen mit Varoufakis bemerkenswerte soziale Alternativen entwickelt. Doch Merkel und Schäuble lesen keine Bücher, schon gar nicht von linken Chaoten aus dem Ausland. Den Neoliberalismus halten sie für die genuine Wirtschaftweise eines auf Vorherrschaft geeichten Deutschland, das den arischen Rassismus ihrer Väter durch einen „ökonomischen Rassismus“ ersetzt hat.

Ein bisschen Kritik an Merkel kann der SPIEGEL nicht ganz unterdrücken. Doch es reicht nur zur Alibikritik. Im Gegensatz zum überzeugten Europäer Kohl denke Merkel wesentlich national-egoistischer. Sie will, dass Deutschland in der Welt mitrede. Das ginge nicht ohne ein starkes Europa, das von Deutschland geprägt werde.

Anfänglich stand Merkel ziemlich allein auf dem Weg in eine neoliberale Machtwirtschaft. „Ich stehe ziemlich allein in der EU. Aber mir ist das egal. Ich habe recht. Wir sind in Europa, was die Amerikaner in der Welt sind, die ungeliebte Führungsmacht.“

(Wenn Griechenland allein gegen die EU steht, muss es falsch liegen, so Kauder. Wenn Merkel aber der Welt widerspricht, hat sie recht, wie Luther gegen die ganze Welt recht hatte. Quod licet Jovi …)

Welche Rolle aber spielt Hegemon Amerika in der Welt? Ein Experte behauptet, Amerika sei ein echter Hegemon, der zwar Normen setze, gleichzeitig aber auch Anreize für jene schaffe, die er beherrsche. Amerika als der Wohltäter der Welt – nur die Welt hat es nicht begriffen? Deshalb wird Gods own country in der ganzen Welt geliebt? Dies alles kann nicht wahr sein.

Wollte Merkel für Europa werden, was Obama für die Welt, dann strebt sie eine bedenkenlose Führungsmacht auf Kosten aller anderen an. Das kann niemals funktionieren. Wenn sie andere schädigt, deren Wirtschaftsstärke sie benötigt, um deutsche Exporte abzusetzen, beschädigt Merkel die eigene Nation.

Dann haben wir noch nicht darüber gesprochen, wie die viel gerühmte Solidarität in der EU aussehen soll, wenn in den Maastricht-Verträgen das gegenseitige Unterstützen ausdrücklich verboten ist. Die Geburtsfehler der EU, vor allem von Deutschen erfunden, verhindern, dass die EU zu einer föderalen Nation à la BRD zusammenwachsen kann, in der die Länder sich durch Finanzausgleich unterstützen. Europäische Solidarität und neoliberale Konkurrenz bis aufs Messer: das funktioniert nie im Leben.

Als Fazit weist der SPIEGEL jede Ähnlichkeit des Vierten Reichs mit dem Nationalsozialismus zurück. Es ginge weder um Gewalt noch um Rassismus.

Doch wenn viele Kinder verhungern, weil Merkel schwachen Ländern durch Sparen die Kehle zudrückt, so ist das Gewalt und nichts als Gewalt. Und der Rassismus mutierte zu einem herrenmäßig-völkischen Nationalismus.

Deutschland wolle zwar eine wirtschaftliche Macht sein, doch geopolitische Ambitionen habe es auf keinen Fall.

Wie reimt sich diese Exkulpierung mit dem Satz, die Eurozone sei deutsches Herrschaftsgebiet? Zwar regiere Berlin nicht unangefochten, bestimme aber „über das Schicksal von Millionen Menschen anderer Nationalitäten“?

In Ermangelung präziser Begriffe pendelt die SPIEGEL-Analyse zwischen Ja und Aber. Deutschland will europäische Übermacht sein – aber Macht will sie nicht sein. Merkel will Millionen ausländische Europäer an die deutsche Leine nehmen – aber als machtgeile Domina nicht wahrgenommen werden. Europas Geschick will sie bestimmen – aber dennoch von Europa geliebt werden. Sie will Herrin sein, indem sie eine demütige Magd spielt.

Europa wird von einer paradox schillernden Mutterfigur geführt, die zwischen arrogantem Führen und demütigem Geliebtwerdenwollen hin- und herpendelt. Abgesehen von weniger barbarischen Führungsmethoden: auch Hitler wollte nicht Diktator der Deutschen sein. Von seinem Volk wollte er geliebt werden.

Militärischer und wirtschaftlicher Faschismus sind Zellwucherungen der gleichen platonisch-christlichen Zwangsbeglückung. Deutschland hat seine Herrschaftsgeschichte noch nicht aufgearbeitet.